Stefan Mitrenga

Schwarzer Seehas


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den Alkohol wieder. Obwohl seine Wohnung nur wenig größer war als die Zelle, die in den letzten Jahren sein zu Hause gewesen war, fühlte er sich wohl. Eine Tür, die man selber auf und zu machen konnte, war echter Luxus.

      Am Montag erschien er verkatert an seinem neuen Arbeitsplatz, aber wenigstens war er pünktlich. Es gefiel ihm dort ganz gut: der Chef machte einen strengen, aber freundlichen Eindruck und auch die Kollegen waren nett. Dass er der einzige deutsche Lehrling war, machte ihm nichts aus. Nach Feierabend ging er mit den anderen noch ein Bier trinken und erfuhr, dass jeder von ihnen schon mal im Knast war. Er glaubte nicht, dass sein Chef eine übertrieben soziale Ader hatte, sondern einfach nur gern die staatlichen Zuschüsse für seine kriminelle Belegschaft einsackte, doch das störte Barnsteiner nicht.

      „Ich brauche morgen Vormittag frei“, hatte er seinem Chef gesagt, der gerade im Büro Rechnungen sortiert hatte.

      „Und ich brauche eine neue Frau“, hatte sein Chef ihn angeknurrt. „Im Ernst? An deinem zweiten Tag?“

      „Ist `ne Erbsache“, hatte Barnsteiner gleichgültig geantwortet und seinem Chef den Brief gezeigt, der ihn flüchtig überflog.

      „Kaum raus aus dem Knast und schon ein dickes Erbe. Weißt du um wieviel es geht?“

      Barnsteiner hatte mit den Schultern gezuckte. „Ich weiß noch nicht mal, wer mir was vererbt hat. Deshalb will ich ja auch hin.“

      Sein Chef hatte ihn daraufhin misstrauisch angesehen. „Ist ok. Aber nur der Vormittag. Pünktlich nach der Mittagspause bist du wieder da, sonst reiße ich dir den Arsch auf.“

      „Damit kann ich leben“, hatte Barnsteiner erwidert und das Büro verlassen.

      Um acht Uhr morgens klopfte er an die Tür der Kanzlei. Als sich nichts tat, klopfte er erneut. Eine Klingel gab es nicht. Endlich Geräusche. Sicherungsketten wurden zurückgeschoben und ein Schlüssel kratzte im Schloss.

      Ein faltiges Gesicht spähte durch den schmalen Spalt und musterte seinen Besucher.

      „Barnsteiner?“

      Barnsteiner nickte und der Notar öffnete die Tür. Der Mann schien unendlich alt zu sein. Sein kahler Schädel saß auf einem viel zu dünnen Hals, der beim Gehen leicht nach vorne wippte. Er mochte einmal eine imposante Erscheinung gewesen sein, doch die Jahre hatten ihn gebeugt und er benutzte bei jedem seiner Tippelschritte einen Gehstock. Barnsteiner folgte ihm durch den Flur in ein muffiges Büro. Die Vorhänge waren zugezogen und es roch nach altem Staub und Mottenkugeln. Die Einrichtung war unglaublich altmodisch: dunkle Eichenmöbel, schwere Teppiche, wulstig gepolsterte Ledersessel.

      „Schön, dass Sie kommen konnten“, sagte der Notar und ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder. Den Stock legte er auf die Arbeitsplatte. „Sie fragen sich bestimmt, wer Ihnen etwas vererbt haben könnte.“ Er kicherte vergnügt, wobei sein ganzer Körper wackelte.

      „Deshalb bin ich hier“, antwortete Barnsteiner unsicher. „Um wen geht es und um was geht es?“

      Notar Kuschel hob mahnend die Hand. „Nicht so schnell, nicht so schnell. Es ist in diesem Fall nicht so einfach … oder eigentlich doch ganz einfach.“

      Barnsteiner zog die Stirn kraus. Wollte der Gnom ihn verarschen? Er spürte wie Wut in ihm Aufstieg.

      „Es geht um einen Onkel Ihrer Mutter“, begann der Notar zu erklären. „Er verstarb bereits vor zwei Jahren, doch er gab Anweisungen, Sie erst nach Ihrer Entlassung aus der Haft zu informieren.“

      Prima, dachte Barnsteiner: dass ich im Knast war, weiß wohl jeder.

      „Und nun kommen wir schon zu der ersten Entscheidung, die Sie treffen müssen: wollen Sie das Erbe annehmen?“

      „Was?“, platzte Barnsteiner heraus. „Ich habe doch keine Ahnung, was mich erwartet. Und wenn ich ehrlich bin: an einen Onkel meiner Mutter kann ich mich noch nicht einmal erinnern.“

      „Ja, ja, ja“, sinnierte Notar Kuschel, „er lebte sehr zurückgezogen. Und ich verstehe Ihre Bedenken, aber ich kann Ihnen versichern, dass es sich für Sie lohnen wird.“

      „Geht es etwas konkreter?“

      „Hmmm …“, der Notar legte den Kopf in den Nacken als müsste er erst darüber nachdenken. „Im Wesentlichen geht es um ein Häuschen am See, ein paar Quadratmeter Grund drumherum und noch ein paar Kleinigkeiten, auf die ich jetzt nicht näher eingehen möchte. Alles ohne Schulden, Kredite oder andere Verpflichtungen. Nichts, was Ihnen Probleme bereiten könnte.“

      Barnsteiner war sprachlos. Ein Häuschen am See? Noch ein bisschen Land? Alles ohne Belastungen? Zu gut um wahr zu sein.

      „Was muss ich tun?“, fragte er skeptisch und der Notar schob ihm einige Papiere über den Tisch.

      „Unterschreiben Sie!“

      Barnsteiner hatte keine Lust die Dokumente durchzulesen und blickte sie widerwillig an. „Was ist das?“

      „Mit Ihrer Unterschrift nehmen Sie das Erbe an. Darüber hinaus verpflichten Sie sich, Stillschweigen über den genauen Umfang des Erbes zu bewahren. Worum es genau geht, sehen Sie später.“

      „Später?“

      Der Notar nickte. „Sobald Sie unterschrieben haben, zeige ich Ihnen, was Ihnen der Onkel Ihrer Mutter hinterlassen hat. Ich versichere Ihnen: Sie werden es nicht bereuen.“

      Wieder kicherte der Notar und Barnsteiner hatte das komische Gefühl, dass irgendwas nicht stimmte. Trotzdem griff er zum Kugelschreiber und setzte seine Unterschrift auf das letzte Blatt. Was sollte schon passieren? Im Moment besaß er nichts und alles, was hinzukam, war gut. Ein Haus? Toll! Sogar am See.

      Notar Kuschel kontrollierte die Dokumente und legte sie in eine Schublade.

      „Dann los. Schauen wir es uns an.“

      „Moment“, unterbrach Barnsteiner, „ich muss nach der Mittagspause wieder bei der Arbeit sein, sonst bekomme ich Ärger.“

      Der Notar war schon an der Tür und wandte sich um. „Das schaffen wir locker. Vertrauen Sie mir!“

      Barnsteiner war erleichtert, als kurz darauf ein schwarzer Bentley vorfuhr und sie im Fond des Wagens Platz nahmen. Er wäre nur ungern in einen Wagen gestiegen, bei dem der alte Notar am Steuer saß.

      Sie verließen Ravensburg und fuhren westwärts Richtung Meersburg, blieben aber auf der Bundesstraße bis zur Abfahrt Überlingen. Der Fahrer setzte zielsicher den Blinker und hielt auf die Altstadt zu, doch kurz bevor sie den Hafen erreichten – Barnsteiner konnte das Blau des Bodensees schon leuchten sehen – bog er scharf links in einen schmalen Privatweg. Die Straße führte durch einen Wald, dessen Blätterdach so dicht war, dass der Fahrer das Licht einschaltete. An einem schmiedeeisernen Tor stoppte der Bentley.

      „Das muss ich persönlich machen“, seufzte der Notar und quälte sich aus dem Auto. Barnsteiner beobachtete, wie er am rechten Torpfosten hantierte und die beiden Torflügel kurz darauf geräuschlos zur Seite schwangen. Der Wald wurde nun lichter, eher eine Parkanlage mit vereinzelten Bäumen. Barnsteiner beugte sich neugierig vor, um den Verlauf des Weges einsehen zu können.

      „Das ist ja ein Traum“, flüsterte er, als ein kleines Haus zwischen ein paar riesigen Weiden auftauchte.

      „Freut mich, dass es Ihnen gefällt“, grinste der Notar, „aber hier wohnt der Gärtner, und wir wollen ihm doch nicht sein zu Hause wegnehmen, oder?“

      Barnsteiner sah den Notar mit offenem Mund an, der mit seiner knochigen Hand nach vorne zeigte. „Das ist Ihr Haus!“

      Der Weg machte eine leichte Rechtskurve und sie passierten die letzten Bäume. Vor ihnen ragte eine wunderschöne Villa im Stil der Zwanzigerjahre empor. Der Marmor blendete in der Sonne und Barnsteiner kniff die Augen zusammen. Der Bentley hielt vor der Eingangstür, deren Vordach links und rechts von zwei Säulen getragen wurde.

      „Willkommen in Ihrem neuen Zuhause“, rief Notar Kuschel und stieg aus dem Wagen. Barnsteiner folgte ihm staunend. Der ordentlich gerechte Kies knirschte unter seinen Schritten, als sie zur Eingangstür gingen.

      „Schön, dass Sie da sind“, begrüßte sie ein