Stefan Mitrenga

Schwarzer Seehas


Скачать книгу

Prüfungsmarathon gewesen. Seine Tage hatten nur aus Lernen und Schlafen bestanden. Doch das lag nun hinter ihm. Nur noch ein Semester, dann war er mit seinem Jurastudium fertig und seine Noten waren bisher perfekt. Er war einer der zehn besten seines Jahrgangs; vor ihm lag eine wunderbare Karriere als Anwalt. Ausnahmsweise hatte er für die Semesterferien keinen Job gesucht. Wie viele Friedrichshafener hatte er schon als kleiner Junge den Wunsch gehabt, einmal den Seehas spielen zu dürfen. In diesem Jahr hatte er sich darum beworben und war aus fast hundert Bewerbern tatsächlich ausgewählt worden. Sein Engagement in mehreren Vereinen und seine jahrelange Mitgliedschaft im Seehasenfanfarenzug hatten dabei sicher nicht geschadet.

      Er freute sich auf seine Rolle als Seehas: die zahlreichen Empfänge, kurze Auftritte in Schulen und Vereinen, seine Fahrt mit dem Schiff, wenn der Seehas offiziell eingeholt wurde und natürlich die feierliche Übergabe des Hasenklees an die Erstklässler und dann noch der Umzug am Sonntag. Dass er dabei die ganze Zeit in einem weiß-schwarzen Hasenkostüm stecken und vermutlich erbärmlich schwitzen würde, war ihm egal. Jedes Jahr gab es nur einen, der den Seehas spielen durfte und diesmal war er dran.

      Seine Eltern waren bei der Nachricht schier ausgeflippt, vor allem als er sie bat, während der Zeit wieder bei ihnen einziehen zu dürfen. Zwar war ihm bei dem Gedanken wieder in sein altes Zimmer unter dem Dach zu ziehen nicht ganz wohl, doch es war für seine Zwecke ideal. Sein Elternhaus befand sich in der Peoriastraße, nicht weit entfernt vom Friedhof. Die Lage war ruhig genug, um während des Seehasenfestes schlafen zu können und doch so zentral gelegen, um die meisten der Veranstaltungsorte zu Fuß erreichen zu können. An diesem Punkt seines Lebens lief alles perfekt. Einzig die Trennung von Rebecca passte nicht in das Bild seiner heilen Welt. Sie hatten sich auf einer Erstsemesterparty kennen gelernt. Nach einem stürmischen Anfang hatte sich Rebecca in den letzten Monaten immer mehr zurückgezogen. Meist schob sie das Studium vor, doch Sven vermutete, dass irgendetwas anderes dahintersteckte. Ohne einen Anlass hatte sie dann vor vier Wochen Schluss gemacht. Sie brauche mehr Freiraum, hatte sie gesagt, und ihre wenigen Sachen aus seiner Wohnung geholt. Seitdem hatte er sie nur noch zwei Mal in einer gemeinsamen Vorlesungen gesehen. Die Trennung hatte ihn mehr mitgenommen, als er es für möglich gehalten hätte, umso mehr freute er sich auf das Seehasenfest, das ihn hoffentlich auf andere Gedanken bringen würde - oder wenigstens weniger Zeit für Grübeleien ließ. Und wer sagte denn, dass der Seehas nicht auf Hasenjagd gehen durfte? Sven grinste.

      „Schluss mit Trübsal blasen“, sagte er zu sich selbst und trank den letzten Schluck Meckatzer. Es war Zeit nach vorne zu schauen. Er warf den Kronkorken in den Papierkorb und verstaute die Pfandflasche in seinem Rucksack. Heute Abend würde er feiern und morgen ging es nach Friedrichshafen. Nach Hause.

      Bernd Barnsteiner fläzte auf einer Liege im Schatten und genoss den Blick auf den Bodensee. Tatsächlich war er nur am Anfang ein paarmal im See baden gegangen. Er hasste den Schlamm am Ufer, der zwischen den Zehen hindurchquoll und das Seegras, das ihn beim Schwimmen am Bauch kitzelte. Er begnügte sich gern mit der wunderbaren Aussicht und dem beheizten Zwölfmeterpool, den er fast das ganze Jahr benutzen konnte.

      Er schüttelte den Kopf. Schon zweiundzwanzig Jahre. Rückblickend war die Zeit wie im Flug vergangen. Das letzte Jahr seiner Ausbildung zum Kfz-Mechaniker hatte er damals mit Bravour bewältigt und als die Bewährungszeit vorbei war, waren auch die Besuche bei seinem Bewährungshelfer und dem Psychologen weggefallen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er unter der Woche weiter in seiner kleinen Wohnung gelebt und war nur am Wochenende in die Villa gekommen. Außer seinem Psychiater, der an die Schweigepflicht gebunden war, hatte er niemandem von seinem spektakulären Erbe erzählt. Und das war gut so. Wie sich zeigte, hatte er nicht nur ein U-Boot, sondern ein florierendes kleines Unternehmen geerbt. Eines von dem niemand wusste. Auch nicht die Behörden und das Finanzamt. Brugger und Schmidt – er nannte sie bei ihren Nachnamen und nicht „Kapitän“ und „Maschinist“ – hatten ihm Ummenhofers Geschichte erzählt. Seine Aktivitäten im Dritten Reich, seine Freundschaft zu Adolf Hitler und wie es nach Kriegsende weitergegangen war.

      Ummenhofer hatte es geschafft, dass nie jemand von dem U-Boot im Bodensee erfahren hatte. Barnsteiner staunte, dass es eigentlich nur ein Prototyp für eine U-Bootserie des Dritten Reiches war – der U-Boot-Klasse XXI - und dass sein Erbauer ihm den Namen „Nautilus“ gegeben hatte. Heute prangte die fantasielose Bezeichnung „UBB-1“ – mit der Bedeutung „U-Boot-Bodensee-1“ – an seinem Rumpf.

      Die ersten Jahre nach dem Krieg, als die alliierten Siegermächte überall nach Hinterlassenschaften der Hitlerzeit suchten, hatte Ummenhofer es nicht gewagt in See zu stechen. Erst als die Suche der Engländer und Franzosen abebbte, wagte er Anfang der Fünfzigerjahre eine erste Ausfahrt. Der Kapitän und der Maschinist waren schon damals zum Schein als Gärtner und Verwalter angestellt und stammten von der ersten Besatzung des Bootes. Doch beide wurden älter und Ummenhofer brauchte Ersatz. Glücklicherweise hatte der Kapitän einen Sohn, der seine Leidenschaft für die Seefahrt teilte und sein Nachfolger wurde. Der kinderlose Maschinist wurde irgendwann durch Schmidt ersetzt, den der junge Brugger auf einem Nautikkurs kennengelernt hatte. Beide hatten sich vom ersten Augenblick an gut verstanden und waren bis heute beste Freunde.

      Im Grunde war das Ganze also ein Familienunternehmen. Auch Notar Kuschel war dabei. Er baute die Kontakte auf und vermittelte Kunden und auch bei ihm übernahm der Sohn, als er 2002 verstarb.

      In der Regel machten sie eine Fahrt pro Monat. Die Strecke war immer die Gleiche: von Überlingen in gerader Linie über den Bodensee in die Schweiz und wieder zurück. Am Anfang hatten sie in der Schweiz einen Tag festgesessen, um die alten Akkus aufzuladen, die über die Jahre an Kapazität verloren hatten, doch dann hatten sie sie gegen Stromspeicher der neuesten Generation ausgetauscht und konnten nun mehrfach hin und her fahren ohne aufzuladen.

      In der Regel überführten sie Koffer mit unbekanntem Inhalt, hin und wieder auch Personen. Es wurde nicht nach Namen gefragt und auch keine Ladungsliste verlangt. Einfach nur abliefern und fertig. Ein perfekter Service.

      Nach ein paar Jahren hatte Barnsteiner alle Beteiligten zusammengerufen, um das Geschäftsfeld grundsätzlich zu regeln. Er hatte kein Problem damit, Kriminellen zur Flucht in die Schweiz zu verhelfen oder liebevoll angesammeltes Schwarzgeld vor dem deutschen Finanzamt zu verbergen – schließlich war er ja selbst ein Krimineller. Doch er hatte seine Grenzen. Obwohl er ein vorbestrafter Verbrecher war, liebte er sein Land. Er war überzeugt, dass es ihm nirgendwo auf der Welt besser gehen konnte als in Deutschland. Menschen, die sein Land angriffen, waren für ihn der letzte Abschaum. Und: er hasste Drogen. Er hatte miterlebt wie ein Schulfreund am Heroin zugrunde gegangen war und sich am Ende mit einer Überdosis aus dem Leben geschossen hatte. Terrorismus und Drogen – für Barnsteiner nicht zu akzeptieren. Brugger und Schmidt waren sofort einverstanden, einzig Notar Kuschel (der Jüngere) hatte Einwände gehabt: das würde eine große Zahl sehr solventer Kunden ausschließen, doch am Ende hatte Barnsteiner sich durchgesetzt.

      Seitdem lief alles wie am Schnürchen. Barnsteiner fuhr sogar manchmal selber mit. Das Gefühl völlig unkontrolliert in ein anderes Land einzureisen, berauschte ihn. Nur einmal war es zu einem Zwischenfall gekommen. Es war seine Idee gewesen drei Kilometer vor dem Schweizer Ufer bereits aufzutauchen, da er die Einfahrt in die Bootshalle sehen wollte. Das kleine Fischerboot, das weit vor Morgengrauen an dieser Stelle vor sich hin dümpelte, hatte keiner von ihnen bemerkt. Das Boot kenterte, als sie auftauchten und der alte Fischer ging über Bord. Sie schafften es, ihn aus dem Wasser zu ziehen und stellten überrascht fest, dass er total betrunken war. Sie legten ihn zurück in sein Boot und flößten ihm noch mehr Schnaps ein. Wenn er sich überhaupt an etwas erinnern konnte, dann würde dem versoffenen alten Fischer garantiert niemand glauben.

      Barnsteiner stand auf und zog seine Liege ein Stück zurück, da ihm die Sonne auf die Füße brannte. Er sah auf die Uhr: kurz nach vier. Na endlich. Er ließ drei Eiswürfel in ein Glas fallen und füllte mit Captain Morgan und Cola auf. Sein Lieblingsdrink. Schon nach dem ersten Schluck spürte er wie der Alkohol ihn entspannte. Ein neuer Auftrag stand an und er war zum ersten Mal seit vielen Jahren nervös. Es lag an der Art des Auftrags: keine normale Transportfahrt in die Schweiz – sein U-Boot sollte aktiv an einer Aktion teilnehmen. Vor fast zwei Jahren hatte Notar Kuschel die Anfrage des Kunden erhalten, seitdem lief die Planung. Erst hatte Barnsteiner den Auftrag abgelehnt, doch Brugger und Schmidt hatten so lange auf ihn eingeredet