Victoria M. Castle

Joayna


Скачать книгу

die Bewegungen ihres Bruders genau, ließ sich nichts davon entgehen, als er langsam mit dem Kris auf sie zukam.

       „Du musst mir vertrauen“, sagte er nun noch immer mit derselben harten Stimme, wenn sein Blick auch einen Moment weicher wurde.

       „Alles, was ich je getan habe, diente dazu, dich zu beschützen“, sagte er, wenn auch Lindsay den Sinn dahinter nicht ganz verstehen konnte, doch nickte sie wortlos und ließ ihren Blick langsam zu dem Kris in seiner Hand gleiten.

       Ihr dämmerte sein Vorhaben und etwas in ihr schrie laut nach Hilfe, doch rührte sie sich keinen Millimeter.

       Langsam senkte sie den Blick zu Boden, ehe sie die Augen schloss.

       Ihre Flügel legte sie nach und nach an ihrem Körper entlang, spürte einen Moment den wärmenden Schutz, den sie ihr gaben, spürte noch einmal die Freiheit, welcher sie ihr schenkten.

       Ehe sie die kalten Finger von Gabriel an den weichen Federn spüren konnte.

       „Ich vertraue dir“, sagte Lindsay schließlich mit einem erschreckend ruhigen Tonfall, ehe Gabriel die Klingel am Ansatz ihrer Federn ansetzte.

       Noch immer hielt sie die Augen geschlossen, presste die Lippen aufeinander, als das warme Blut ihren Rücken entlang floss.

       Sie schluckte hart, holte tief Luft, spürte Tränen stumm ihre Wangen entlang gleiten und doch wusste sie: Er würde das Richtige tun, um sie zu beschützen.

      

      Kapitel 3

      Die Erinnerung fegte über sie hinweg, wie der leichte Wind, der zuvor die Baumkronen erreicht hatte.

      In diesem Moment rauschte das violette Schwert auf sie herab und segelte geradewegs durch sie hindurch.

      Sie hatte sich nicht mal einen Millimeter gerührt, ehe der Gegner vor ihren Augen in dünnem, violetten Rauch verschwand.

      „Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dich aus meinem Gedanken raushalten, Schatten?“, fragte sie mit kühler Tonlage und blickte nicht einmal in die Richtung, in die ihre Frage gegangen war.

      Shadow lehnte mit verschränkten Armen im Türrahmen und hatte sie bei ihrem Training beobachtet.

      „Ich habe deine Gedanken nicht gelesen. Dafür muss ich dich berühren, das weißt du“, antwortete er ihr ziemlich ruhig und sie blickte langsam zu ihm auf.

      „Und für die Illusionen bist du nicht zufällig in meinem Bewusstsein unterwegs gewesen?“, fragte sie ironisch und erhob einen flüchtigen Moment provokant die Augenbrauen, ehe sie sich auf ihre Füße gleiten ließ und die Reste ihrer Flügel in ihrem Rücken langsam wieder zurückwichen.

      „Hat es dir in deinem Training geschadet?“, antwortete Shadow ihr nur und grinste ihr leicht zu.

      Lindsay war auf ihn zugegangen und hatte ihm ein halbherziges Grinsen zurück geschenkt, ehe sie kaum merklich den Kopf geschüttelt hatte.

      Wie automatisiert griff sie mit der rechten Hand nach ihrem Dekolleté, berührte eine dünne silberne Kette an ihrem Hals, als würde sie nach etwas suchen.

      Doch berührten ihren Fingerspitzen nur das kühle Metall, welches ohne Anhänger ihre Haut streifte.

      Sie schob sich an Shadow vorbei, um wieder in das Innere des Hauses zu gelangen, und spürte kurz den mitleidenden Blick von Shadow, der an der Stelle haftete, an dem soeben noch die Reste ihrer Flügel gewesen waren.

      Lindsay biss sich auf die Lippen und wandte sich langsam zu ihm um.

      „Er wird das Richtige getan haben“, sagte sie ziemlich ruhig und konnte dem Blick von Shadow nicht standhalten, sodass sie sich wieder von ihm abwandte.

      „Deine Fähigkeiten sind ohnehin eingeschränkt in Tiéfwâas. Das war die Bedingung“, begann Shadow augenblicklich zu erläutern, doch Lindsay unterbrach ihn.

      „Ich brauche keine Erklärungen“, sagte sie schnell und holte noch einmal tief Luft.

      Solche Momente hatte es oft zwischen ihnen gegeben.

      Kleine Erinnerungen, die ans Tageslicht kamen und auf die sich Shadow stürzte, um die Lücken darin zu füllen, schien ihm der Verlust ihrer Erinnerungen doch mehr auszumachen, als es bei ihr selbst der Fall gewesen war. Doch Lindsay hielt diese Augenblicke kaum aus.

      Sie wollte keine Erklärungen von ihm, keine Lücken füllen.

      Etwas in ihr hielt es für keine schlechte Idee, sich nicht mehr an die Vergangenheit zu erinnern.

      „Ich lebe gut mit dem, was ich nun habe“, sagte sie schnell, ehe sie sich wieder zu ihm drehte.

      Es tat ihr weh, dass sie ihm so kühl gegenübertrat und ihn rasch abwies, doch war sie zu nichts anderem in solchen Momenten mehr fähig.

      So versuchte sie, ihm ein leichtes Lächeln zu schenken, welches matt auf ihren Lippen haftete, ehe sie sich wieder zur Wurzeltür hinwandte.

      Shadow seufzte nur als Reaktion, ließ ihr jedoch den Freiraum, den sie brauchte.

      Vielleicht hatte Lindsay ja auch Recht.

      Vielleicht war es gut, sie nicht mehr an die schlimmen Ereignisse zu erinnern und sie mit dem Verlust ihrer Erinnerungen wenigstens in Frieden weiterleben zu lassen.

      Aber war das auch wirklich die richtige Entscheidung?

      Lindsay trat wieder hinaus auf die mit kühlen Pflastersteinen ausgelegte Straße und ließ Shadow wie so oft einfach stehen.

      Kurz lehnte sie sich an die geschlossene Eingangstür und holte tief Luft.

      Sie seufzte, während sie sich langsam von der Tür abstieß und ohne Eile die Straße entlangging.

      Sie musste den Kopf frei bekommen.

      So führten Lindsay automatisch wieder ihre Füße über das weiche Moos hinab ins „Unterholz“, als sie sich dort erneut an den Arbeitern der Schmiede vorbeistahl und in ihren gewohnten, dunklen Raum trat.

      Auch wenn es stockfinster war und sie nichts vor sich erkennen konnte, trat sie wie jeden Tag zielsicher durch den Raum, ehe sie sich an der Wand gegenüber zu Boden sinken ließ.

      Die Beine angewinkelt, lehnte sie sich gegen den kühlen Felsen hinter ihr und holte noch einmal tief Luft.

      Lindsay hob ihre rechte Hand vor sich, drehte die geöffnete Handfläche nach oben und ließ drei winzige Flammen in ihrer Hand erscheinen, welche augenblicklich begannen, über ihrer Haut zu schweben und sich langsam im Kreis zu drehen.

      Sie beobachtete das Feuer in ihrer Hand und spürte mit einem Schlag wieder diese unbeschreibliche Leere in sich aufkommen, als wäre da etwas tief in ihr, dass schmerzlich gegen ihre Schläfen schrie.

      Eine Sekunde lang dachte sie an die Erinnerung an Gabriel, welche sie beim Training überrollt hatte und fragte sich, ob sie es nicht doch einmal wagen sollte, an die „Oberfläche“ zu gehen. Schließlich hatte sie ihn seit ihrer Ankunft nicht mehr gesehen und es gab zu viele Fragen, die noch offen waren.

      Wieso war sie hier?

      Wieso hatten sie das Kloster verlassen?

      Und wo war Angelos?

       Leicht schüttelte Lindsay den Kopf bei den Gedanken.

      Bisher hatte sie keine große Eile gehabt, diese Fragen beantwortet zu wissen, als gäbe es etwas in ihr, dass sie davon abhielt.

      Vielleicht weil es die Antworten längst kannte?

      Noch immer beobachtete sie die Flammen in ihrer Hand, wie sie miteinander tanzten und schließlich ließ sie ihre Hand sinken, während die Flammen weiterhin vor ihr her tanzten, sich langsam im Raum ausbreiteten.

       Wieso war sie hier?