Johannes W. Schottmann

Belarus (2004)


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Frage

      Na, bist du Walter auf die Schliche gekommen?

      Ihre Frage.

      Irgendwann muss ich ja mal anfangen. Auch wenn ich merke, wie träge mein Kopf ist. Wie schwer es mir fällt, ein zwei Sätze hintereinander weg zu schreiben. Sollte man nicht für möglich halten, so viel wie ich schon geschrieben habe. Vielleicht geht es mit mir bergab, auch wenn ich das nicht wahrhaben mag. Noch vor kurzem hatte ich kein Problem damit, mal eben über Nacht einen Artikel abzuliefern - das ging im Handumdrehen (oder wie sagte Klaus immer: wie das Mäusemelken?).

      Womit anfangen?

      Ihre Frage, nachdem sie voller Erwartung ins Zimmer gekommen war. Damit überraschte sie mich. Warum? Die Frage war naheliegend. Sogar selbstverständlich. Wir sahen uns zum ersten Mal nach meiner Rückkehr. Und die Reise hatte ich wegen Walter angetreten.

      Eben erschien mir das wie eine Entdeckung.

      Es geht anscheinend nicht weiter. Offenbar warte ich, kaum dass ich begonnen habe, nur darauf, dass mein Zimmernachbar zurückkommt. Dann wäre eh Schluss. Der würde mir keine Ruhe lassen. Noch steht er da draußen und quatscht mit den anderen Rauchern.

      Ich weiß, ich weiß. Helga gegenüber bin ich ungerecht. Da hat sie den weiten Weg von Hamburg hierher gemacht, und ich …

      Alles OK? Da kommt dieser Fettkloß Egon schnaubend herein. Na, jetzt haste wieder was zu schreiben. Er grinst, und ich kann mir denken, dass er, obwohl er Helga nur im Vorbeigehen gesehen hat, die Anspannung erfasst hat. Feixe zurück: Wolln mal sehen, was für eine Miene deine Freundin macht, wenn sie dich hier besucht. Hab keine Freundin, wehrt er ab. Wenigstens muss ich nicht hinterher zwanzig Seiten schreiben, murmelt er und lässt sich aufs Bett fallen. Jetz‘n Bierchen, das wär’s. Scheiß-Krankenhaus. Er setzt sich Kopfhörer auf und glotzt nach oben in den Fernseher, der an der gegenüber liegenden Wand aufgehängt ist. Ich bemühe mich, nicht hinzuschauen.

      Obwohl – die richtige Ruhe werde ich hier nicht finden.

      Sicherlich war Helga enttäuscht, als sie ging. Es ist unglücklich gelaufen, das muss ich zugestehen. Ich hätte sie nicht anrufen dürfen, als es mir dreckig ging. Auf keinen Fall. Da hat sie gedacht, es könnte vielleicht doch noch was werden. Natürlich hat sie vorhin nichts davon gesagt. Sie sagt nie was. Aber ich kenne sie – so wie sie auch mich durchschaut.

      Obwohl – nicht alles hat sie vorhergesehen. Dass ich so lange in der Provinz aushalten würde, hätte sie nicht gedacht (ich allerdings auch nicht). Aber - wie ich am Donnerstag schmerzlich erfahren musste - ich bin ihr wohl noch nicht entkommen.

      2 - Reisebeginn

      Egon schnarcht, doch das kann mich nicht wach gemacht haben. Ich kann nur hoffen, dass ihn die Tippgeräusche nicht wecken, denn sonst würde er mit seinem Gelaber anfangen und meine Gedanken verscheuchen.

      Dass ich jetzt im Krankenhaus liege, ist wahrlich eine Fügung. Helga war trotz allem so nett, mir den Computer aus der Wohnung zu holen, so dass ich nicht mehr mit der Hand schreiben muss.

      Angenehm war es mir nicht, sie noch einmal in Beschlag zu nehmen, aber wen hätte ich sonst fragen sollen. Natürlich habe ich geahnt, mit welchen Hoffnungen sie gekommen war. Aber was soll ich machen. Es geht nicht - ich muss dicht machen, sonst würde ich sie nur noch mehr enttäuschen.

      Immerhin habe ich mich bremsen können und ihr kein Wort über meine Bekanntschaften gesagt. Sie hätte sofort eingehakt und mich ausgequetscht. Wie es ihre Art ist. Obwohl - mir ist schon klar, dass sie eine andere Frau vermutet. Wenn es so einfach wäre.

      Jedenfalls soll sie ihre Finger da raus halten. Punkt.

      Meine große Schwierigkeit ist, dass ich nicht weiß, ob ich über etwas Reales schreibe oder nur über meine Wünsche, meine Fantasien. Darf ich mich in diese Träume versenken? Schaffe ich so nicht noch mehr Fantasiewelt und werde am Ende nicht mehr unterscheiden können, was real ist und was nicht?

      Was ist real, was ist wirklich?

      Unbestreitbar, also real, ist, dass gleich vom ersten Augenblick an, als ich sie erblickte, eine Wirkung auf mich da war. (Was ich hiermit zugeben und bezeugen möchte.)

      Während der langen Anreise hatte ich mich mit vielen aus unserer Gruppe unterhalten. Einige hatte ich schon beim Vorbereitungstreffen kennen gelernt, aber da war die Zeit knapp gewesen. Jetzt hatten wir vierundzwanzig Stunden im Zug. Die lange Strecke quer durch Polen.

      Ein Ehepaar, das schon in Kanada und Argentinien, in China und Indien und sonstwo gewesen war. Jetzt wollten sie mal was Besonderes, was ganz Ausgefallenes: Belarus, ein Land, von dem man praktisch nichts hört und so gut wie nichts weiß.

      Eine etwas verhärmte Frau um die vierzig, die der Herkunft ihres Vaters nachgehen wollte. Der war während des Krieges als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt worden und nach dem Krieg geblieben. Hatte geheiratet. Obwohl er behauptete, aus dem östlichen Polen zu stammen, glaubte seine Familie ihm das nicht so recht. Dann - nach seinem Tod - hätten sie aber Unterlagen gefunden, wonach das offenbar doch stimmte. Sie wollte nun dieses Dorf, aus dem er stamme und das heute zu Weißrussland gehöre, aufsuchen. Anders als über eine Gruppenreise kann man nicht dorthin gelangen. Was sie wirklich suchte, ist mir die ganze Fahrt über nicht klar geworden.

      Noch ein Ehepaar. Die Frau war auf der Suche nach dem Grab ihres Vaters. Eine Reise in eine untergegangene, unwirklich gewordene Vergangenheit.

      Ein anderer, Frührentner, fragte nach meinen Motiven. Ich blieb vage. Schilderte nur, wie ich auf der Wehrmachtsausstellung den Flyer gefunden hatte. Die Stätten, an denen sich der deutsche Wahnsinn ausgetobt hatte, wollte ich mir ansehen. Aber das kam wohl zu wuchtig. Schweigen.

      Wir standen auf dem Gang. Der Zug ratterte. Die Landschaft flog vorüber.

      Man aß mitgebrachte Brote, Brötchen, Äpfelchen, Möhrchen.

      Es wurde Nachmittag. Es wurde Abend. Es wurde Nacht. Die Abteile wurden umgerüstet, Schlafkojen eingerichtet. Einige legten sich hin, andere nicht. Ich blieb auf dem Gang. Als die Spurbreite gewechselt wurde, kamen die meisten wieder raus um zuzuschauen.

      Die ganze Zeit, die ganze lange Fahrt über, hatte ich sie nicht gesehen. Eigenartig. Ich wusste nichts von ihr.

      Weit nach Mitternacht kamen wir an. Ein verlassener Bahnsteig, dürftig beleuchtet. Nur unsere Gruppe verließ den Zug. Man sammelte unsere Pässe ein und führte uns über Treppen und durch Gänge - wie früher, wie vor der Grenzöffnung, wenn man von West- nach Ost-Berlin wollte. Mit einem Mal fühlten wir alle so etwas wie Beklommenheit. Unser westliches Freiheitsgefühl hatten wir bis hierhin unversehrt mitnehmen können - so wie man manchmal im geschlossenen Auto eine Fliege an einen fernen Ort verschleppt. Und jetzt standen wir in einer mächtigen Bahnhofshalle, die von einer hohen dünnen Wand durchschnitten wurde. Ein Gebäude, das aus einer anderen, einer prächtigen Epoche stammte, eine Epoche, die sich in dem weit oben hängenden, weit ausladenden Kronleuchter immer noch manifestierte. Wir dagegen leben längst in einer Zeit, in der man ohne ästhetische Rücksichten alte Strahler austauscht gegen matte Energiesparleuchten.

      Wir standen jetzt vor der brutal-schlichten Trennwand, die die Bahnhofshalle teilte. Aus dem Teil, der uns versperrt war, drangen undefinierbare Stimmen herüber. Wir hatten zu warten.

      Es hatte sich ein Kreis gebildet, in dem darüber spekuliert wurde, was jetzt auf uns zukommen würde. Da stand sie: in der Mitte. Bestrahlt vom Licht, das vom Gründerzeit-Kronleuchter herunter perlte. Gehörte sie zu unserer Gruppe?! Andere gab es hier nicht. Die Umstehenden unterhielten sich mit ihr, kannten sie also.

      Ich glaube, ich kriegte den Mund nicht wieder zu. Darauf war ich nicht gefasst.

      Ab diesem Moment wirkte eine nicht vorhergesehene Kraft auf die klare Richtung ein, die meine Erkundungsreise eigentlich hatte nehmen sollen.

      Egon hustet. Raucherhusten. Er richtet sich auf. Was schreibst du denn da? Liebesbriefe?

      Idiot.