Johannes W. Schottmann

Belarus (2004)


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Kleine Pause beim Streichen: die gönn‘ ich mir. Als ich gestern vom Krankenhaus nach Haus kam - das geht mir schon locker über die Lippen: als ob ich hier zuhause wäre. Als ich also gestern in die Wohnung kam und die alte Tapete sah, dieses gepunktete orange-grelle Blumenmuster, Geschmack der sechziger Jahre! - wenn ich mich recht erinnere, habe ich sie damals sogar mit Jörg, einem Klassenkameraden, im Wohnzimmer angeklebt. Als ich jetzt dieses Muster sah, stand für mich fest: Das muss weg!

      Ich frage mich, wie ich wochenlang hier leben konnte, ohne daran Anstoß zu nehmen. Jetzt musste das sofort weg. Rüber zur Nachbarin und frage, wo man hier am besten Farbe und dergleichen kauft. Bei Max Bahr, wie in Hamburg. Sie wollte mir unbedingt ihre Pinsel und ihren Tapeziertisch leihen (Nachtigall, hör ick dir trapsen?). Aber ich habe nicht vor zu tapezieren. Einfach nur überstreichen - ganz in Weiß und ohne Blumenstrauß.

      Mit dem Bus hin. Zwei Eimer Farbe, Quast, Rolle, Gitter zum Abstreifen, Folie. Mit dem Taxi zurück. Und los ging‘s. Am meisten hielt das Aufräumen auf. Konnte es kaum erwarten, endlich den Pinsel zu schwingen. (Apropos - Passage zum Wegstreichen - die Unterbrechung kam eben, weil ich meinen ganz persönlichen Pinsel quälen musste; da habe ich sie alle der Reihe nach erlebt: das Dreigestirn, anfangen mit Helga, dann die anderen …)

      Die praktische Arbeit tut mir gut. Anfangs ließ ich noch das Radio laufen, aber das habe ich bald abgestellt. Die bessere Unterhaltung kam von innen. Hier war ich mit Jörg beim Tapezieren. Dann tauchten Lehrer von uns auf, die geistig im Dritten Reich stecken geblieben waren und über die wir uns herrlich aufregen konnten. Zum Beispiel, wenn wir bei Unterrichtsausfall durch die Stadt stromerten. Oder wir standen bei Tchibo im Steh-Café und versuchten mit Mädchen vom Lyzeum anzubändeln. Es war wie im Kino.

      Zwei Wände habe ich bis jetzt geschafft. Es stinkt nach Farbe, aber das Zimmer strahlt schon.

      In Wilmas Wohnzimmer werde ich mich zunächst einrichten. Die Matratze aus ihrem Schlafzimmer muss ich leider noch benutzen, aber bald kommt hier eine Schlafcouch her. Der kleine gläserne Tisch darf bleiben. Auch der alte Sessel - den werde ich mit einem auffrischenden Tuch abdecken. Vors Fenster mein alter Schreibtisch (ist immer noch meiner, auch wenn Walter ihn nach mir offenbar sehr ausgiebig genutzt hat).

      Ein paar Blühpflanzen, die Farbe in Wilmas eintöniges Grün bringen, würden sich gut machen. Traue mir nur nicht zu, etwas Passendes zu finden. Ob ich mich im Back-Shop blicken lassen könnte, um mich beraten zu lassen? (Na - das lassen wir! Man kann die Sache nicht zurückdrehen. Und das wollen wir doch auch nicht, oder?!)

      Jedenfalls werde ich - wenn mich die Koliken nicht wieder einholen - in den nächsten Wochen genug zu tun haben. Und um die Zukunft mache ich mir keine Gedanken. Muss ich auch nicht, bin jetzt gut versorgt. Das Telefon hatte ich zum Ersten, also zum Wochenende abgemeldet, aber vielleicht lasse ich es in ein paar Wochen, wenn ich etwas vorangekommen bin, wieder anschließen. Sonst bin ich auf die Dauer zu sehr abgeschnitten von der Welt.

      Mal sehen. Jetzt will ich Ruhe. Und dann schauen wir, wie ich das aushalte. Und wie lange.

      Am kommenden Wochenende möchte ich nochmal zum Krankenhaus. Egon besuchen, wenn er noch da ist. Es war nicht klar, zu wann sie seinen Zustand stabilisieren können. Sonst lasse ich mir seine Adresse geben. Wie ich ihn kenne, wird er sich von allein nicht melden. Wir könnten ein Bierchen trinken gehn. Er soll von seinem Vater und dessen Kriegserlebnissen erzählen. Könnte mir bei Walter helfen. Egon hat seinem Alten zugehört, hat ihn erzählen lassen. Er war nicht so blind wie ich damals. Zuletzt hatte Walter auch gar nicht mehr versucht, vom Krieg zu erzählen, das Klima war längst verdorben. Anscheinend hat er sich andere Ventile gesucht ...

      Weiter im Takt: Streichen! Vielleicht schaffe ich den Rest heute noch.

      Kleiner Nachtrag, bevor ich wieder mit Farbe kleckse.

      Im Augenblick werde ich nicht schreiben können, jedenfalls nichts Brauchbares. Deswegen musste ich ja etwas Praktisches anfangen. Vielleicht wird das anders werden, wenn der Schreibtisch steht und daneben das Regal: mit den ganzen Kriegsbüchern, die sich mittlerweile angesammelt haben.

      6 - Roter Punkt oder Wer sich in Gefahr begibt

      Vor dem Bahnhof verabschiedeten sie sich. Jörg stieg in den Bus. Achim ging zu Fuß in die andere Richtung. Jörg winkte noch, er solle mitkommen, aber Michael schüttelte den Kopf.

      Eben hatten sie noch Straßenbahnen blockiert und den Verkehr zum Erliegen gebracht. Eine große Menschenmenge waren sie gewesen, viele Schüler, auch einige Ältere, normale Bürger. Sie waren von einigen Passanten auf dem Bürgersteig angeschrien worden. Man hatte Anstoß genommen an ihren langen Haaren und ihrer Kleidung und sie verächtlich als Gammler bezeichnet. Andere hatten gerufen, sie sollten doch nach drüben gehen. Aber sie waren sitzen geblieben, hatten sich auch von der Polizei nicht vertreiben lassen. Am Buschmarkt sollte die Polizei mit Wasserwerfern und Schlagstöcken auf die Demonstranten losgegangen sein, es sollte Verletzte gegeben haben. Das war über Megafon verkündet worden und hatte sie noch mehr aufgebracht. Und als später durchgegeben wurde, die Polizei hätte sich zurückgezogen, hatten sie gejubelt. Sie hatten sich durchgesetzt! Und wenn die Erhöhung der Fahrpreise, von denen ja auch W. betroffen war, nicht zurück genommen würde, dann würden sie wieder kommen und demonstrieren. Jede Woche wieder, das war angesagt worden. Das stand fest.

      Und jetzt. wo sie wieder zurück in ihrem Städtchen waren - jetzt sollte alles wieder normal und ruhig sein? Nein, kein Bus. Lieber zu Fuß. Die Viertelstunde würde ihm nur gut tun.

      Während er Richtung Vogelviertel ging, freute er sich auf den nächsten Tag in der Schule. Da hätten sie viel zu erzählen. Vielleicht würden beim nächsten Mal noch mehr mitkommen. Er stellte sich vor, wie er mit Johanna darüber sprechen würde. Sie war auch links, hatte deswegen Stunk mit ihren Eltern.

      Hinter sich hörte er eine Frau schimpfen. Sie regte sich auf, weil er bei Rot über die Straße ging - er war in Gedanken und hatte nicht darauf geachtet. Die Frau lamentierte hinter ihm her, ihre Kinderkarre wackelte. Kleinkariert wie alles hier, er hatte ja gesehen, dass kein Auto kam. Wer das nicht überblicken kann, soll stehen bleiben und die Klappe halten.

      Als er in ihre Straße einbog, sah er sofort den Dienstwagen seines Vaters vor dem Haus. Der alte Herr ließ sich also mal wieder blicken. Die Haustür war abgeschlossen, aber bevor er klingelte, wurde sie geöffnet. Frau Schäfer kam raus. Im ersten Moment wollte sie ihn nicht durchlassen. „Hab dich gar nicht erkannt, Michael.“ Sie musterte ihn: „Was trägst du denn für einen alten Mantel?! Und deine Haare werden ja auch immer länger!“ Fehlt nur noch, dass sie mich als Gammler bezeichnet, die alte Schachtel, dachte er, sagte aber nichts, sondern ging einfach vorbei und nach oben. Er war sicher, dass die Schäfer kopfschüttelnd hinter ihm her glotzte.

      Kaum hatte er den Schlüssel ins Schloss gesteckt, als er schon die Stimme seines Vaters hörte. „Wo hast du dich wieder rumgetrieben?“

      Er habe sich nicht herum getrieben, erwiderte Michael gereizt.

      Seine Mutter wollte, dass er seine Stiefel vorn an der Tür auszieht. Das hatte er sowieso vorgehabt. Er ging in sein Zimmer und schloss die Tür. Dann stellte er das Tonbandgerät an und legte sich aufs Bett.

      Kurz darauf fragte Wilma, ob er nicht zum Essen komme. Er hatte Hunger, das musste er zugeben. Also ging er in die Küche.

      Walter beschwerte sich, dass er nicht mal Guten Tag gesagt habe.

      „Guten Tag“, sagte Michael. Es passte ihm nicht, dass sein Vater, der unter der Woche selten zuhause war, ihn so empfing und jetzt noch Ansprüche stellte.

      Wilma fragte nach seinen Schularbeiten.

      Meine Sache, dachte Michael. Mache ich nachher noch, ist nicht viel, sagte er.

      Während er sich eine Stulle schmierte, dachte er wieder an ihre große Aktion. Er konnte nicht an sich halten und fragte, ob man im Radio schon etwas zu der Demo in Hannover gesagt hätte.

      „War mein Herr Sohn etwa auch bei diesen Unruhestiftern dabei?“ fragte Walter.

      „Wir