Johannes W. Schottmann

Belarus (2004)


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      Helga hat ihren Polo rückwärts eingeparkt, hat den Motor abgestellt - und ist im Auto sitzen geblieben.

      Sie schaut über den Parkplatz hinweg zu dem Backsteingebäude des Krankenhauses.

      Michael im Krankenhaus. Gleich werden sie sich sehen. Wann war das zuletzt?

      Als es ihr einfällt, wäre sie am liebsten sofort wieder nach Hause gefahren. Sein verzweifelter Anruf vor zwei Tagen - nur den hatte sie im Kopf gehabt. Wie hätte sie ihm von Hamburg aus helfen sollen? Und als sie gehört hat, dass er im Krankenhaus liegt, ist es für sie selbstverständlich gewesen, ihn hier zu besuchen.

      Jemand hupt, aber es gilt nicht ihr. Eine kinderreiche Familie, vermutlich Türken, steigt - einer nach dem anderen - aus einem Kleinbus aus. Offenbar versperren sie irgendjemandem die Ausfahrt.

      Helga ist schon dabei, die Wagentür zu öffnen, als ihr auffällt, dass die Fenster noch heruntergekurbelt sind. Also noch einmal den Motor starten und die Fenster schließen. Und wieder ist sie fast ausgestiegen, als ihr der Gedanke kommt, dass es in der prallen Sonne sicher besser ist, die Fenster wenigstens einen Spaltbreit offen zu lassen.

      Schon beginnt sie, sich zu ärgern. -

      Endlich ist alles erledigt - sie hat das Auto abgeschlossen und sich in den gemächlichen Strom von Besuchern eingereiht, der auf das Eingangsportal zusteuert. Sie bemerkt, dass die Leute um sie herum Geschenke, meist Blumensträuße dabei haben, und entschließt sich, noch einmal kehrt zu machen. Bevor sie losgefahren ist, hat sie lange hin und her überlegt und sich schließlich gegen einen Blumenstrauß entschieden. Stattdessen hat ein kleines Büchlein mitgebracht, von dem sie hofft, dass es ihm gefallen wird. Obwohl - sie haben sich seit längerem nicht gesehen, haben nur einige Male telefoniert. Michael könnte sich - erst recht nach seiner großen Reise - verändert haben. Diese zurückliegenden Monate waren bestimmt auch für ihn ein großer Einschnitt.

      Sie ist wieder am Auto angelangt und öffnet die Beifahrertür. Gerade, als sie das geschenkmäßig verpackte Buch in die Hand nehmen will, erstarrt sie. Auf einmal ist ihr klar: sie wird das Büchlein nicht mitnehmen - sie wird sich im Krankenhaus nach einer Alternative umsehen. Normalerweise müsste es dort wenigstens einen Blumenladen geben. -

      Schließlich betritt sie die Eingangshalle und entdeckt sogleich einen Kiosk. Dort ersteht sie ohne zu zögern, einen Kasten Pralinen für fünfzehn Euro. Zwar könnte auch der etwas kitschig oder bieder wirken, aber das ist jetzt zweitrangig.

      Sie schreitet auf die Information zu und lässt sich Michaels Zimmer nennen. -

      Als sie das Krankenzimmer betritt, schallen ihr unerwartete Lachgeräusche entgegen. Die Stimmen kommen aus einem Fernseher, der gegenüber den beiden Betten an der Wand hängt. Michael sitzt mit dem Rücken zu ihr auf dem hinteren Bett und scheint aus dem Fenster hinaus zu schauen. Auf dem vorderen Bett fläzt sich ein dicker, mittelalter Mann im Trainingsanzug und starrt begeistert in den Fernseher, wo offenbar eine Comedy-Sendung zum Mitlachen läuft.

      Jetzt dreht Michael sich um und entdeckt sie. Er winkt sie heran und ruft seinem Zimmernachbarn zu, er solle sich Kopfhörer aufsetzen. Der schaltet daraufhin - mit einem breiten Grinsen im Gesicht - das Fernsehgerät aus, wälzt sich vom Bett und brummelt, eine rauchen zu gehen.

      Michael versucht sich aufzurichten, wobei er die linke Hand in die Hüfte gestützt hält. Offenbar will er einen Stuhl heranziehen. Sie kommt ihm zuvor und setzt sich ans Fußende von Michaels Bett vor das Fenster. Er entschuldigt sich noch einmal für seinen Anruf von vor zwei Tagen. Und wie bereits am Telefon erwidert sie, dass er sich nicht entschuldigen müsse - es sei für sie von Hamburg aus nur schwierig gewesen, Hilfe zu organisieren. Michael nickt,

      Wie es komme, fragt sie, dass er jetzt im Krankenhaus liege.

      Nierensteine, erwidert er. Offenbar will er sich dazu nicht näher äußern. Er fragt, wie es ihr gehe.

      Ihr gehe es gut, sagt sie ebenfalls betont knapp. Wie seine große Reise verlaufen sei. Ob er denn etwas heraus bekommen habe, das ihm in Bezug auf seinen Vater weiter helfen würde.

      Michael zögert mit einer Antwort. So direkt sei das auch nicht zu erwarten gewesen, meint er schließlich und beginnt, sich über das unbekannte osteuropäische Land namens Belarus auszulassen, das von den deutschen Besatzern auch Weißruthenien genannt worden sei, und das mehr als jedes andere unter den Zerstörungen des Krieges gelitten habe. Er redet über dessen kurze und schwierige Geschichte, über die Zerrissenheit, über den Stillstand im Lande.

      Helga sieht sich um und registriert, dass auf dem Beistellschränkchen neben dem Bett nur eine Flasche Wasser, ein Glas und ein Schälchen mit einigen weißen Pillen stehen. Keine Blumen oder Geschenke. Auch nicht auf den Fensterbänken.

      Michael erzählt von interessanten Treffen mit ehemaligen Zwangsarbeiterinnen. Die würden sogar heute noch scheel angesehen, weil sie es im Krieg bei den Deutschen besser gehabt hätten. Von den vielen Gedenkstätten im ganzen Land, die immer noch von der Bevölkerung gepflegt würden, zeigt er sich beeindruckt.

      Als er in seinem Reisebericht für einen Moment inne hält, fragt Helga, ob sie ihm noch etwas Gutes tun könne. Und tatsächlich braucht Michael nicht zu überlegen: Ob sie es vielleicht auf sich nehmen und ihm aus der Wohnung seiner Mutter den Computer holen könne? Sie ist dazu sofort bereit, und als er wieder versucht, sich für sein Ansinnen zu entschuldigen, winkt sie energisch ab: Das sei doch selbstverständlich - schließlich könne er in seinem Zustand ja nicht selbst losmarschieren.

      Sie erhebt sich. Ob sie ihm noch etwas anderes aus der Wohnung mitbringen solle?

      Er schüttelt den Kopf und reicht ihr die Schlüssel.

      Dann bis gleich.

      4 -Notiz Walters zu seiner Verwundung

      19.9.69

      Ob das gut ist, weiß ich nicht. In ein paar Wochen werde ich meine Schwester besuchen, es wird mir auf jeden Fall gut tun, mit ihr zu reden. Man hätte es sich ja vorher nicht träumen lassen, aber tatsächlich habe ich doch eine Menge Sachen zusammengeschrieben und trotzdem wäre noch unendlich viel zu erzählen. Interessieren wird es nur keinen. Wilma hat sich daran gewöhnt, dass ich sie allein vor dem Fernseher sitzen lasse (wenn sie nicht mit ihrem Klatschtanten zusammen ist). Und ich ziehe mich in mein Arbeitszimmer zurück.

      Wenn ich mir ansehe, was ich alles zusammengeschrieben habe, dann fällt mir auf, wie manche Dinge, die eigentlich viel wichtiger wären, nicht vorkommen. Man denke nur mal an meine Verwundung, eigentlich waren es zwei. Die Narben sind noch da und tun ab und zu immer noch weh und am Bauch fehlt ein ganzes Stück Fleisch. Aber darüber mache ich mir am wenigsten Gedanken.

      Ganz stimmt das nicht. Denn dieser Griff nach der Dose - das sehe ich immer wieder vor Augen. Und genau der hat mir den zweiten Treffer eingebrockt, der mich dann umgehauen hat. Wenn ich nicht so blöde gewesen wäre - aber das war schon der Schock, da steht man neben sich und macht sinnlose Dinge. Und auf der einen Seite kommt der Gedanke: hättest du besser nicht. Oder so: greif nicht hin, dann passiert auch nichts. Als ob man die Sache zurückdrehen und ungeschehen machen könnte. Geht natürlich nicht. Aber auf der anderen Seite bin ich sicher - ich würde immer wieder hingreifen, das war nun mal ein Schatz damals: diese Dose Schoka-Cola. Die wollte ich nicht verlieren. Womöglich noch dem Iwan überlassen.

      “Verbohrt” hat mich der verdammte Major einmal genannt. Aber das ist ein anderer Fall. Manche Sachen bleiben besser ungesagt, sie werden sonst zu mächtig und man kommt davon nicht wieder los. So wie ich immer wieder noch einmal rauf muss auf den Panzer, um die blöde Dose mit der Schokolade zu holen. Und paff. Da kennt man keine Angst, obwohl das besser wäre, man hätte sie in dem Moment gehabt. Aber so ist das eben im Krieg. Da kann es knallen und spritzen links und rechts und du scherst dich nicht drum. Du machst einfach weiter. Für Führer, Volk und Vaterland. Als ob man nicht an seinem Leben hängt. Dabei hängt doch jeder dran.

      5 - Pinselquälereien