Johannes W. Schottmann

Belarus (2004)


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vielleicht eine Woche später. Oder erst im nächsten Monat. Helga schmollte, sie zog ihre Hand zurück und nahm sie einen tiefen Schluck aus ihrem Glas. Dann setzte sie sich zu mir auf die Couch.

      Finger tasteten sich heran, öffneten nach und nach die Kleidung. Hände wühlten sich ein. Lippen fanden sich. Es wurde wie immer. Jeder wusste, wo er den anderen berühren musste, um ihn zu erregen. Das Bestreichen der Brüste löste das erwartete, erwartungsvolle Seufzen aus. Ihre Hand glitt in seine Hosen, er spürte das Anschwellen und begann ebenfalls zu stöhnen. Dann ging alles schnell vonstatten - die restliche Wäsche wurde ausgezogen und beiseite geworfen. Sie fanden ihren Rhythmus, bewegten sich im Einklang, begleitet von ihrem Ächzen und Stöhnen. Seine Rechte arbeitete fleißig. Er war kurz davor, sie zu besteigen. Sie steuerten auf den Höhepunkt zu, obwohl er einige Gedanken beiseite schieben musste, um sich weiter auf sie konzentrieren zu können. Aber nach einem so anstrengenden Tag konnte man nicht vor Lust überschäumen. Wieder ertappte er sich, wie er an eine andere dachte. Die Abschweifung war beliebig und belanglos, aber sie half. Er sah ihr Lächeln, ihre milden Bewegungen, ihre braunen Augen, auch die gekräuselte Stirn, die Sorgen verriet, die sie eigentlich nicht zeigen wollte. Helgas Rhythmus wurde schneller, sie bäumte sich auf…

      Geschafft.

      Was weiter.

      Sie würden liegen bleiben, sich beruhigen. Vermutlich würden sie dann anfangen zu reden. Noch war nicht klar, ob Helga hier übernachten oder heute noch zurück fahren würde. Aus einigen Bemerkungen im Laufe des Tages hatte er entnommen, dass sie ihn in der nächsten Woche in Hamburg zurückerwartete. Unter anderem war ein Abendessen mit Eberhard und Susann anberaumt, das ihn nicht sonderlich reizte. Er sah sich in Gedanken durch die Wohnung gehen, sah sich durch die Stadt streifen, in der er als Jugendlicher gelebt hatte, bevor er nach Hamburg gegangen war. Sah sich einen Kaffee bestellen, dazu ein Plunderstück. Das süße Gesicht der Verkäuferin. Er öffnete die Augen. Helga hatte etwas gefragt. Nein – eine Woche werde er mindestens noch bleiben, erst einmal müsse er alles sichten, bevor er eine Räumungsfirma bestellen könne. Die Möbel würde er lieber einem Sozialwerk überlassen, da müsse er sich noch erkundigen, wer hier vor Ort tätig sei. Helga rappelte sich wortlos auf und verschwand im Bad.

      Als sie zurückkam, war die Stimmung angespannt. Sie konnte nicht verstehen, dass ich noch länger hier bleiben wollte. Sie hielt mir vor, meinen Aufenthalt mutwillig in die Länge zu ziehen. Als ich eingestand, dass mich im Augenblick auch nichts nach Hamburg zöge, sah sie sich bestätigt. Sie wurde ungewohnt heftig: Mir sei die Erbschaft zu Kopf gestiegen! Wie ich mir das dächte - wie sie dastünde vor den anderen?! Ich könne mich doch meinen Verpflichtungen nicht einfach entziehen. Meinst du Eberhard? fragte ich, den würde ich morgen anrufen. Also bin ich dir egal! schloss sie daraus. Bis eben war ich noch gut genug, rief sie, aber jetzt brauchst du mich nicht mehr, ja?! So kannte ich sie nicht.

      Nu komm mal wieder runter, sagte ich. Nein, komm du runter! erwiderte sie.

      Dann, auf einmal, raffte sie ihre Kleidungsstücke zusammen und ging aus dem Zimmer. Eine Zeitlang hörte ich sie im Flur hantieren. Ich glaubte hin und wieder ein unterdrücktes Schluchzen zu hören. Schließlich klappte tatsächlich die Wohnungstür.

      Sie war weg.

      Du Schweinehund.

      Sagte ich zu mir.

      11 - Ein Spaziergang

      Heute früh klingelte es Sturm. Ich schreckte hoch und stieß das Wasserglas um, aus dem ich gestern Abend Rotwein getrunken hatte. Torkelte fluchend in den Flur: Wer da?! Es waren die Cramer-Leute, unangemeldet. Sie brachten die Schlafcouch. Ich zog mir rasch was über, während sie das kleine Monstrum die Treppe hochwuchteten. Schob die Matratze mitsamt meiner Bettwäsche beiseite. Sie trugen die Couch senkrecht durch den Türrahmen, sie passte haarscharf durch, stellten sie auf der Erkerseite hin und rissen die Folie ab. Gut sah sie da aus! Mein Groll war sofort aufgelöst. Ich unterschrieb und gab ihnen zwanzig Euro Trinkgeld. Als sie weg waren, öffnete ich meinen Bademantel, köpfte eine Flasche Sekt und ließ mich auf die Couch fallen. Prost!

      Damit war der Vormittag gelaufen. Sekt am Morgen legt bei mir den Schalter um. Dann gehen nur noch zwei Sachen. Entweder mit ner Frau ins Bett - nach zwei Stunden wäre der Kopf wieder klar. Oder: einfach raus an die frische Luft. Realistisch ist derzeit nur die zweite Variante. Und ich will gar nicht mal sagen: leider.

      Bin also raus. Herrliches Gefühl, wieder durch die Stadt zu schlendern nach Krankenhaus und Schufterei in der Wohnung. Schaute mir die Schaufenster an. Demnächst werde ich mich neu einkleiden, das ist fällig. Landete in der sogenannten Breiten Straße, dem Einkaufsgässchen im Zentrum. Spazierte spontan in die Buchhandlung Rother. Mal Ausschau halten nach einer Einschlaflektüre. So was brauche ich zum Rotwein, funktioniert besser als Fernsehen. Wurde fündig: Lieselott Bandel, Das Schwesternhaus. Billiger Schinken, keine Frage. Ein Bestseller: Millionen Leser können nicht irren. Irgendwie ist mir im Augenblick eher nach Massengeschmack als nach Hochkultur. Was Ähnliches hatte ich wahrscheinlich zuletzt als Teenager in die Hand genommen, als ich mir ab und zu einen von Wilmas heißgeliebten Krimis auslieh (Kommissar X - hieß der so?).

      Vor dem Schwesternhaus hatte ich sogar Proust in der Hand, und fast hätte der mich reizen können. Mir fiel ein Kollege beim Bund ein, Manfred Depenbrock. Der stammte aus dem Ruhrpott, aus einer Unternehmerfamilie und las damals Proust. Warum, konnte er uns nicht erklären. Wir fragten nach der gesellschaftlichen Relevanz solch langatmiger Schilderungen des Lebens von Adelskreisen (auch wenn wir damals den Ausdruck gesellschaftliche Relevanz sicherlich noch nicht kannten). Und hielten mit Marcuse dagegen (wo ist der geblieben? der ist doch heute ganz weit weg!). Aber Proust wäre mir jetzt unheimlich, wie er da in seiner pariser Klause vegetiert und im Bett liegend bis zum bitteren Ende an seinem Roman schreibt. Da kräuseln sich mir die Nackenhaare: so möchte ich nicht enden.

      Bin dann über den Markt und bei meiner alten Schule vorbei. Das ehrwürdige Ratsgymnasium hat einen modernen Seitenflügel erhalten, einen funktionalistischen Zweckbau, der zum verschnörkelten Kaiser-Wilhelm-Stil - der selbst schon ein Stilgemisch, wenn auch längst hingenommen - passt wie Faust auf Auge. Es war übrigens das erste Mal seit der Schulzeit, dass ich die Ratsherrnstraße wieder betreten habe. Von da weiter zum Herzberg. Da lebten Erinnerungen auf. Die ersten Küsschen mit einer dicklichen Tanzstundendame. Naja, so haben wir mal angefangen.

      Nebenan, unten beim alten Gütergleis, hatten wir mal mit der Abi-Klasse gefeiert. Am Lagerfeuer, in das wir aufgespießte Kartoffeln hielten. Dazu gab es Bier, das wir stolz - wir waren jetzt groß! - direkt aus der Flasche tranken; und Rührei, das eine rührige Mutti vorbereitet hatte: Rudis Mutter, jetzt fällt es mir wieder ein. Wo mag der Bursche abgeblieben sein? Jedenfalls hing da eine Pfanne über dem Feuer, das war seine Konstruktion. Eines der leckersten Essen, an das ich mich erinnern kann. Einmal hatten wir unseren Klassenlehrer dabei, Bulldozer Heinze, unsympathischer Bursche; war in der CDU und hatte was gegen aufbegehrende Schüler und Studenten. Bei ihm musste alles seine stramme Ordnung haben. Kein Sex vor der Ehe. Schüler hatten vor ihren Lehrern zu kuschen. Nach dem Abi haben wir ein Plakat mit seinen Sprüchen über dem Eingang zur Schule aufgehängt, das gab einen richtigen kleinen Provinz-Skandal.

      Alles längst vorbei.

      Bin dann durch den Park am Fluss entlang zurück in die Stadt. Da kamen andere, frischere Erinnerungen - die lassen wir besser beiseite.

      In der feinen Gegend am Wall hat man vor einigen Jugendstilhäusern sogenannte Stolpersteine verlegt, die an jüdische Bewohner erinnern, die von den Nazis abgeholt und im Osten umgebracht wurden. Solche Stolpersteine kennt man von Hamburg. Hätte nicht erwartet, dass man hier auch schon so weit ist.

      Bin dann beim Schützenplatz in ein Café eingekehrt, um nicht in Versuchung zu geraten, im bewussten Back-Shop zu landen. Zum Kaffee Heidelbeertorte: aber bitte mit Sahne. Die Uhr in der Mitte des Platzes zeigte unentwegt symbolische 5 nach 12 an - wahrscheinlich war sie schon länger kaputt, war mir bis dahin nur nicht aufgefallen. Ich muss versonnen auf sie gestarrt haben, als ich regelrecht zusammenzuckte - die hübsche Bedienung war von hinten herangekommen und hatte gesagt: Dein Mokka!