Johannes W. Schottmann

Belarus (2004)


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vierschrötigem Gesicht, der später für ihn zu einer Art Hassfigur geworden war. Helga schaute zwar hin, wenn er auf ein Bild wies und etwas dazu erläuterte, aber sie sagte nichts. Ihr verschlossenes Gesicht wirkte durch das zu beiden Seiten glatt herabhängende Haar noch schmaler als sonst.

      Er legte die Fotos beiseite und holte tief Luft. Wie du siehst, erklärte er, gibt es hier jede Menge zu tun. Er merkte, dass er auch damit nicht den richtigen Ton getroffen hatte. Nach einer Verlegenheitspause, in der er Geräusche aus der Wohnung unter ihnen wahrnahm - der alte Herr hatte vermutlich sein Hörgerät aus- und seinen Fernseher lauter gestellt - machte er einen neuen Anlauf: Er glaube, dass er es seiner Mutter, die sie heute beigesetzt hätten, schuldig sei, die Wohnung, die jahrzehntelang ihr Zuhause gewesen sei…

      Helga unterbrach ihn: Lass deine Mutter aus dem Spiel - die hat dich sonst auch nicht gekümmert!

      Michael wollte protestieren, aber im Grunde wusste er, dass sie recht hatte. Wenn sie bei Wilma zu Besuch waren, hatte vor allem Helga die Unterhaltung bestritten, während er sich zurückhielt und manchmal sogar kurz vor dem Einnicken war. Kaum, dass er seine Mutter auch mal allein besucht hätte.

      Helga straffte sich, sie versuchte zu lächeln, strich eine Haarsträhne hinters Ohr und legte ihre Hand auf seinen Arm. Gut, ich kann verstehen, dass es dir zu viel auf einmal ist. Deswegen mein Vorschlag: Was hältst du davon, wenn ich am nächsten Wochenende noch einmal herkomme und wir alles gemeinsam durchgehen? Dann können wir danach gemeinsam zurückfahren.

      Michael zögerte, obwohl er spürte, dass er Helga damit noch mehr kränkte. Er räusperte sich. Heute werde ich nicht mehr weit kommen - ich bin alle. Aber wir können in den nächsten Tagen telefonieren, dann sehe ich vielleicht klarer.

      Helga fragte, wie er sich das mit seiner Arbeit bei Eberhard denke - der rechne doch mit ihm.

      Den werde er morgen anrufen, erwiderte Michael. Außerdem hätten sie schon vor einiger Zeit darüber gesprochen, ob er nicht eine schöpferische Pause einlegen sollte.

      Und was heißt das? Willst du das hier noch mehr in die Länge ziehen? fragte sie mit schmalen Lippen

      Michael bemühte sich, versöhnlich zu klingen. Natürlich - sie habe ja recht, er habe sich nicht besonders intensiv um Wilma gekümmert, aber trotzdem - oder gerade deswegen! - könne er doch nicht einfach alles, was für sie wichtig gewesen sei, unbesehen auf den Müll werfen.

      Wie gesagt, ich werde mit Eberhard klären, dass er erst einmal nicht mit mir rechnen soll. Dann hätte ich von daher keinen Druck.

      Und ich?! Sie wurde laut. Zähle ich gar nicht mehr? Sie wandte sich ab, um ihre Tränen nicht zu zeigen.

      Als Michael näher an sie heran rückte und versuchte, seine Hand auf ihren Rücken zu legen, entzog sie sich. Fass mich nicht an!

      Er setzte sich zurück. Sie schwiegen.

      Irgendwann ging Helga wortlos hinaus. Er blieb sitzen und starrte vor sich hin. Wie sollte es mit ihnen weiter gehen? Warum ließ sie ihn nicht einige Tage zur Besinnung kommen? Immer musste sie alles unter Kontrolle haben. Nein, das wollte er nicht mehr. Er würde sich Zeit lassen. Basta.

      Helga kam zurück. Sie hatte sich ein Glas Wein eingegossen und Michael auf Verdacht ein Bier mitgebracht. Also hatte sie sich wieder berappelt. Typisch für sie.

      Helga setzte sich neben ihn. Sie fuhr sich mit beiden Händen durch ihr dunkelblondes Haar und strich es nach hinten - dann ein kurzes Kopfschütteln und ihre unverwüstliche Frisur war wiederhergestellt. Mit einem Ruck wandte sie sich ihm zu: Einverstanden - ich fahre morgen allein zurück und wir telefonieren. Und du sagst mir, ob ich dir helfen kann oder nicht.

      Sie lächelten sich an. Altvertraut...

      Später erhob sich Michael, um noch einmal durch die Wohnung zu schlendern, während Helga nach Wilmas Illustrierten griff und sich zurücklehnte.

      Wieder gelangte er in sein ehemaliges Jugendzimmer, wo er sich ziellos umschaute. Er trat zum Fenster und beugte sich über den Schreibtisch, um hinaus zu sehen. Gegenüber früher hatte sich nicht viel verändert. Der schmale Durchblick auf den Hinterhof mit seinen flachen Werkstattschuppen, deren Teerpappdächer wohl etwas bemooster waren als früher. Michael richtete sich auf und ging zum Eichenschrank, aus dem er vorhin die Fotoalben heruntergenommen hatte. Zwischen Schrank und Wand zog er eine Leiter heraus. Er stieg einige Stufen hinauf, bis er in das obere Regalfach hineinsehen konnte. Dort lagen weitere Alben. Rechts ein alter hölzerner Koffer. Er nahm ihn nach unten und schaute hinein. Tatsächlich noch Walters alte Triumph-Schreibmaschine. Das Farbband völlig eingetrocknet, im übrigen aber schien die Maschine noch zu funktionieren. Diese Schreibmaschine hatte er selbst in den letzten Schuljahren ausgiebig benutzt, um Referate und Hausarbeiten zu schreiben. Da sein Vater unter der Woche als Vertreter unterwegs war, kamen sie sich so gut wie nie in die Quere. Michael erinnerte sich, wie sein Vater damals seine Korrespondenz getippt hatte - im Zweifinger-Hack-System. Für Wilma - und ihn selbst – immer wieder ein Anlass für Spott, weil in diesen Briefen so wichtige Dinge wie das Wetter oder Fußballergebnisse oder die Schönheit von Nachrichtensprecherinnen abgehandelt wurden. Die Triumph war bestimmt ein seltenes Stück, vielleicht sogar von einem gewissen Interesse für Sammler oder für ein Museum. Von ihrer Technik her war sie schon zu Michaels Schulzeit veraltet gewesen, damals waren elektrische Schreibmaschinen das Maß der Dinge. Und heute - nach Speicherschreibmaschinen und Computern - machte so ein Gerät keinen praktischen Sinn mehr. Doch Michael wusste, dass er sie nicht entsorgen würde.

      Noch einmal stieg er auf die Leiter. Hinter der Stelle, an der der Holzkoffer gestanden hatte, lag eine blau-weiße Plastiktüte von Karstadt, prall gefüllt mit Papieren. Er zog sie heraus und trug sie zum Schreibtisch, wo er Wilmas Utensilien beiseiteschob und die Tüte ausschüttete. Zum Vorschein kam ein Wust von Blättern und Schnipseln. Zeitungsausschnitte, manchmal ganze Seiten, Briefumschläge, viele maschinenbeschriebene Seiten, Prospekte und ähnliches mehr. Ausschnitte aus der Wildhauser Allgemeinen und aus diversen Illustrierten. Meist ging es um Katastrophen, um Kriege, einige Artikel zum Vietnam-Krieg, andere zu den Bombardierungen im 2. Weltkrieg. Hatte Wilma das etwa gesammelt? Eher wohl Walter, obwohl es dann verwunderlich wäre, dass Wilma diesen Papierwust nicht längst entsorgt hätte. Ein ausgeprägtes Interesse für Vorgänge in der Welt kannte Michael von beiden Elternteilen nicht. Einige Briefe, die an Walter gerichtet waren, zumeist von Tante Ilse, Walters Schwester, zu DDR-Zeiten geschrieben: mit Ulbricht-Marken auf den Umschlägen. Der damals im Westen verhasste Spitzbart.

      Michaels Aufmerksamkeit richtete sich jetzt auf die vielen, eng mit Maschine beschriebenen Seiten, bei denen das „o“ oder das kleine „e“ oft Löcher ins Papier gestanzt hatten. Manchmal schien auch das Farbband geklemmt zu haben, dann waren Zeilen fast ohne Farbauftrag oder auch ganz in Rot. Walter - Michael nahm sofort an, dass er die Löcher ins Papier gehämmert hatte - Walter hatte unterschiedlichste Papiersorten benutzt, anscheinend alles, was ihm so in die Finger gekommen war: dünne Schulheftseiten mit Rechenkaros, liniertes Schreibpapier, auch normales Kopierpapier, Formularseiten aus einem Buchhaltungsbuch. Michael dachte an den Spartick seines Vaters und schmunzelte in sich hinein: Immerhin kein Klopapier.

      Je länger er den Papierberg durchwühlte, desto mehr erstaunte ihn die Menge der getippten Seiten. Es gab Durchschläge von Briefen, die Walter an verschiedene Personen gerichtet hatte, in erster Linie an seine Schwester. Und sonst?

      Lieber Richard. Wetter blablabla. Walters neuer Käfer 1300. Veteranentreffen. Gruß an die Frau Gemahlin.

      Interessant: Tante Ilses Mann war Bäcker, scheint früher eine eigene Bäckerei gehabt zu haben. Dessen Eltern waren bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Walter klagt über seine Gesundheit. Nicht zu unrecht, wie sich heraus stellen sollte.

      Dann wieder: Schlamm in Russland. Der schien es ihm angetan zu haben. Die Russen niedergemacht. Natürlich. Am Ende war es nur umgekehrt: Da haben sie euch klein gekriegt!

      Kampf auf Leben und Tod. Ja - bis alles in Schutt und Asche lag!

      Polnische Ostgrenze. Polen gab es da doch gar nicht mehr.

      Soldaten der Ostfront.

      Langsam