Johannes W. Schottmann

Belarus (2004)


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      So ging es eine Weile hin und her.

      Und dann fiel der Spruch, der ihn noch lange begleiten sollte.

      Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.

      Michael empfand das wie einen Verrat. Natürlich hatte er nicht erwartet, dass seine Eltern ihren Protest gegen die Fahrpreiserhöhungen unterstützen würden. Aber sie waren friedlich gestimmt gewesen und hatten nichts Unrechtes getan. Die Polizei war vorgerückt und hatte versucht, sie zu vertreiben. Mit welchem Recht denn? fragte er aufgebracht. Wenn er das schon hörte: Ordnung muss sein, Spielregeln sind einzuhalten. Wer macht denn die Spielregeln und wofür? Die wollen doch nur noch mehr Profit.

      Wilma sagte, das mit den Preiserhöhungen sei wirklich nicht in Ordnung.

      „Also verstoßen die gegen die Ordnung!“ versuchte Michael einzuhaken.

      Das war den Eltern zu spitzfindig.

      Er solle sie nicht in Schwierigkeiten bringen, mit der Polizei wollten sie nichts zu tun haben - sonst …

      Womit wollten sie ihm drohen? Wenn er mit der Schule fertig wäre, würde er sowieso hier weggehen, das stand fest. Nur raus aus dieser Provinz!

      Während er an seiner Stulle kaute, rasten seine Gedanken. Die Alten fanden vielleicht auch nicht alles in Ordnung, was die da oben machten. Aber sie wollten auch nichts dagegen unternehmen, sondern weiter kuschen. Das hatten sie zu Hitlers Zeiten schon zur Genüge gemacht. Wollten sie denn nichts daraus lernen?

      Er wagte nicht, dieses Thema noch einmal anzuschneiden. Darüber hatten sie sich vor einigen Wochen in die Haare gekriegt. Besonders Walter, der sonst gern seiner Frau das Wort überließ, hatte sich so ereifert, dass sein Kopf rot anlief. Was dieser kleine Schlaumeier denn für eine Ahnung habe vom Krieg! Er könne von Glück sagen, dass er überhaupt auf der Welt sei. Damals hätte es nicht viel gebraucht, um an die Wand gestellt zu werden.

      Daraufhin hatte Michael an der wundesten Stelle gerührt: Andere hätten sich quer gestellt!

      Und: Wären es mehr gewesen, wäre Auschwitz … - da war Walters Faust auf den Tisch gedonnert, sein Teller wirbelte durch die Küche und zerschepperte auf den harten Fliesen in tausend Stücke. Aber er hatte Michael nicht mehr angeschaut, sondern nur vor sich hingeblickt. Als ob er in sich hinein wütete. Wilma hatte es mit der Angst zu tun bekommen und verlangt, dass beide sofort Ruhe gäben. Daraufhin hatten sie geschwiegen.

      Walter war ins Bad verschwunden und hatte seine Pillen geschluckt. Michael hatte freiwillig den Tisch abgeräumt und war sogar bereit gewesen, den Abwasch zu machen, als Wilma das Schweigen unterbrach: „Du musst deinen Vater auch nicht so ärgern.“

      Da hatte er sich umgedreht und war auf sein Zimmer gegangen.

      Und hatte sein Tonband mit ihrer Musik - ihrer Negermusik! - aufgedreht.

      7 - Streichfinale

      Kopfschmerzen. Die Ausdünstungen der frischen Farbe haben mich gestern Abend und heute Nacht bis in Wilmas Schlafzimmer verfolgt. Eigentlich wollte ich das Wohnzimmer morgen endlich beziehen, aber dann dürfte es noch schlimmer kommen. Was hilft anderes als lüften? Vielleicht Duftkerzen (die Helga so liebt). Aber dafür müsste ich außer Haus, müsste Geschäfte abklappern, würde also noch mehr Zeit verlieren. Außerdem würde mir von denen auch übel werden. Jedenfalls hatte ich zuletzt, wenn Helga eine gemütliche Atmosphäre schaffen wollte, vorgegeben, dass mir ihre Kerzen nicht bekämen. Woraufhin jedes Mal die Stimmung in den Keller ging.

      Also bleibt nur lüften. Letztendlich wird man sich einfach dran gewöhnen müssen.

      So - jetzt war ich kurz unten. Die frische Luft hat gut getan. Hab mir einen Togo-Kaffee geholt. (Ich hoffe, Tante Ilse verzeiht mir, wenn ich ausplaudere, dass sie nach Wilmas Beisetzung gefragt hatte, ob das eine gute Sorte sei, dieser Kaffee aus Togo. Weil hier doch überall stehe: Kaffee togo. Wir haben etwas gekichert, aber sie nahm es uns nicht übel. Sie meinte, so müsse es sein: Dass man nach der Trauer auch wieder lacht.)

      Das ist also auch noch offen: der Besuch bei Tante Ilse. Wir hatten ihn damals versprochen. Mit Helga geht das nicht mehr. Muss mich demnächst allein aufraffen. Vielleicht in zwei, drei Wochen. Wenn ich ein Stück weiter sein werde.

      Morgen zum Urologen. Hoffentlich kann der Entwarnung geben. Im Augenblick bewege ich mich ständig in der Befürchtung, dass die Koliken wieder kommen und mich überfallen und dass ich mich wieder hilflos krümme und von Schmerzen gelähmt bin. So etwas könnte ich jetzt, wo ich nicht mal das Telefon benutzen kann, noch weniger gebrauchen.

      Nebenbei bemerkt: Nachbarin Barbara Kahler, die miterlebt hat, wie ich auf der Bahre durchs Treppenhaus abtransportiert wurde, hat mir gestern angeboten, ich könne, wenn ich Hilfe brauche, jederzeit bei ihr klingeln. Großzügig, die Dame.

      So. Die Wände sind fertig. Wenn man genau hinschaut, kann man zwar immer noch das penetrante Muster erkennen. Aber wenn man nur genau genug hinschaut, wird man immer etwas entdecken, das nicht vollkommen ist. Deswegen streiche ich nicht noch einmal. Es kommt auf den Gesamteindruck an - den habe ich eben genossen, als ich mit meinem Kaffee zurück kam. Der Gesamteindruck ist befreiend und wirkt erfrischend wie ein Pfefferminzbonbon. Trotz der Ausdünstungen. Außerdem sind die Kopfschmerzen nach dem Kaffee verschwunden.

      Jetzt muss ich noch unter den Fenstern streichen. Dürfte eine ziemliche Fummelei werden, weil man mit den Pinseln schlecht hinter die Heizkörper kommt. Wenn man die losmachen und ein Stück nach vorn bewegen könnte. Aber das ist wohl nicht möglich, wüsste jedenfalls nicht wie. Dummerweise habe ich keinen langen Pinsel.

      Doch die Nachtigall fragen? Besser nicht.

      An der Heizungsrippen kleben noch Blutflecken von neulich. Die lasse ich als Andenken.

      8 - Anruf bei Helga

      Mit einem Mal drehte sich alles. Was war das?! Er versuchte sich irgendwo festzuhalten, sich an der Wand abzustützen. Sein Körper krümmte sich, zwang ihn nach unten. Kaum konnte er sich noch auf den Beinen halten. Was war das? Einen solchen Schmerz hatte er noch nie erlebt. Doch - er kannte ihn seit einiger Zeit. Hatte nur immer versucht, ihn zu ignorieren. Warum hörte es nicht auf. Würde es jemals vorbei gehen. Die Schmerzen wurden immer schlimmer. Wie konnte er sie in den Griff bekommen? Aus seiner gebeugten Haltung heraus tastete er nach Halt. Griff zum Fenstergriff, der ihm aber entglitt. Das Heizungsrohr. Keine Kraft mehr. Er wankte, geriet ins Rutschen. Er wollte sich ankrallen. Und fühlte sich wie eine Stoffpuppe hinunter gleiten.

      Er sah es kommen und konnte es nicht vermeiden. Im Fallen riss er den gehäkelten Untersatz von der Fensterbank. Wilmas Gießkanne polterte über die Heizung, über seinen Kopf hinweg...

      Er erwachte in einer Pfütze von Blumenwasser.

      Offenbar fehlte ihm ein Stück Wahrnehmung. Er lag auf dem Boden. Die Schmerzen! Er war unfähig sich zu bewegen. Wollte schreien. Brachte keinen Laut heraus. Wer sollte ihn hören? Er war allein in der Wohnung. Für einen Moment schienen die Schmerzen nachzulassen, dann kam die nächste Woge, die ihm allen Willen raubte und ihn am Boden hielt.

      Schräg über sich sah er das Telefon! Er ächzte. Sah sich - wie im Kino - quälend mühsam über den Teppich kriechen. Staubige Fusseln in seinem Mund. Jetzt - er streckte den Arm aus, riss den Hörer herunter. Der dunkelrote Apparat stürzte schwer auf sein Gesicht. Es tutete aus dem Hörer. Er lag wie erschlagen.

      Jetzt eine Nummer wählen, das ist die einzige Chance. Er wählte Zahlen, die ihm einfielen. Tonzeichen: Kein Anschluss unter dieser Nummer. Falsch. Noch einmal. Wieder düdütdüt - kein Anschluss ... Ja: die Vorwahl! o4o für Hamburg. Jetzt lange Signale. Eine gültige Nummer. Es tutete. Keiner zuhause. Tuhuut. Mit einem Mal wusste er: er hatte Helgas Nummer gewählt. Um diese Zeit - da war sie in der Schule. Oder auf einer Konferenz. Tuut.

      Hallo? Eine raue Stimme. Er stöhnte. Wer ist da? Was soll das?! Sie wurde ungeduldig.

      Ich