Claus Beese

Der perfekte Angler


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an die Aue zeigte er mir viele gute Plätze und sorgte stets für reichlich Aale. Ging ich mit Thomas und Norbert an den Ziegeleiteich, gab es tags darauf gebratene Barsche. Selbst meine Mutter regte sich nicht mehr auf, nachdem ich ihr meinen Fahrtenschwimmerausweis unter die Nase gehalten hatte. Der Bengel kann schwimmen, dann darf er auch ans Wasser. Dass Petrus weiterhin schützend seine Hand über mich hielt, war mir nicht bewusst, aber es geschah trotzdem.

      Es war einer jener Tage, an denen der Unterricht kein Ende nehmen wollte. Unverständlich, wie sich bei dem herrlichen Sommerwetter, das draußen herrschte, ein Mensch vor die Klasse stellen mochte, um uns die Grundbegriffe der Geometrie einzupauken. Ein Sadist namens Pythagoras hatte sich die vor Urzeiten einfallen lassen, um Generationen von Schülern zu quälen.

      „Die Fläche des Quadrates über der Hypotenuse ist gleich...!“

      Heute würde in der Aue der Aal gut laufen. Meine Gedanken schweiften weit ab, und ich rief mir den Gezeitenkalender ins Gedächtnis. Genau, gegen halb fünf war Hochwasser, wenn ich mich nach der Schule beeilte, könnte ich gegen zwei am Wasser sein.

      „...der beiden Katheten-Quadrate!“

      Auwei, das hatte ich ganz vergessen. Heute Nachmittag war noch Sportunterricht. Um drei sollten wir auf dem Sportplatz am Stadion sein. Aber, es war doch Aalwetter, ausgerechnet heute – verdammte Penne!

      „A-Quadrat plus B-Quadrat...!“

      Der warme Sommerwind säuselte draußen in den Blättern der alten Kastanien und sang mir das Lied vom Bach, auf dessen träge dahin ziehender Oberfläche meine Posen schwammen, und von Aalen, so dick wie mein Arm, die nur darauf warteten, meine Tauwürmer vorgesetzt zu bekommen.

      „Beese, wiederholen!“

      Oh, verdammt, jetzt hatte er mich. Wo waren wir?

      „Äh, ja, Bismarck?!“

      Die Klasse tobte. Johlendes Gelächter brach über mich herein.

      „Beese, Beese, was ist nur los mit dir? Du bist ja völlig abwesend. Fühlst du dich nicht wohl? Du hast ja einen ganz roten Kopf. Hast du Fieber?“

      Ja, ich hatte Fieber, - Aalfieber! Allerdings konnte ich das dem Menschenschinder da vorn wohl kaum begreiflich machen. Aber Fieber war schon mal gut.

      „Ja, äh, ich weiß nicht so recht, ich friere ein wenig, aber dann ist mir auch wieder so warm. Ich glaube, ich kriege eine Grippe.“

      „Grippe? Um Gottes Willen! Beese, du packst sofort deine Sachen und gehst nach Hause, bevor du mir noch die ganze Klasse ansteckst. Leg dich ins Bett und kurier dich aus, verstanden?“

      „Ja, aber der Sportunterricht heute Nachmittag...?“

      „Mit einer Grippe treibt man keinen Sport. Ich werde dich bei deinem Sportlehrer entschuldigen.“

      Schau an, manchmal waren die Kinderquäler doch auch recht umgänglich. Mit zerknirschter Miene packte ich meine Bücher und Hefte zusammen, um mich dann, leidend wie ich war, aus dem Klassenraum zu schleppen.

      Mutter staunte nicht schlecht, als ich fröhlich pfeifend nach Hause kam.

      „Hitzefrei!“, erklärte ich und machte mich daran, meine Angelsachen zu packen. Wenig später stand ich an der Aue, im kühlen Schatten der hohen Bäume, die über mir wie ein grünes Dach ihre Äste und Zweige ausbreiteten. Ein wenig nah an der Brücke, über welche die Straße zum Stadion führte, aber ich würde schon aufpassen, dass mich niemand sah. Ich hatte den Vorteil, dass ich wusste, wann meine Klassenkameraden und der Leuteschinder hier vorbeikommen würden, während von denen mich hier niemand vermutete. Also, Angeln raus und warten. Ich hatte richtig vermutet, es war Aalwetter. Obwohl es hier schattig und kühl war, kam ich langsam ins Schwitzen, denn es folgte Biss auf Biss. Nach dem achten Aal musste ich aufhören, da es höchste Zeit war, mich hier dünne zu machen. Ich zog die Ruten ein und legte mein Gerät ins dichte Gebüsch. Niemand würde es von der Brücke aus sehen. Ich selber hockte mich auf einen schmalen Sims direkt unter der Brücke. Dort wartete ich auf die johlende Meute, die alsbald auf ihren Rädern, unmittelbar über meinem Kopf, über die Bohlen der hölzernen Brückenkonstruktion polterte.

      „Viel Spaß beim Turnen!“, grinste ich niederträchtig, wartete jedoch vorsichtshalber ein weiteres Viertelstündchen. Ich wollte keinem Nachzügler in die Arme laufen, wenn ich aus meinem Versteck krabbelte. Schnell waren dann die Ruten wieder klar. Die Schwimmer pendelten in der leichten Strömung hin und her. Dann war Standwasser, der Moment der tiefsten Ebbe. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis das Wasser begann, bergauf zu fließen. Es brachte aus der Weser neue Aale mit, deren Wanderung allerdings an meiner Rute zu Ende sein sollte. Heh! Was war da los? Eine wilde Horde Radfahrer hetzte den Weg vom Stadion herunter. Ich schaffte es gerade noch, unter der Brücke zu verschwinden. Laut johlend polterten die Klassenkameraden über die Brücke. Im Nu waren sie verschwunden.

      „Nanu!“, machte ich einigermaßen ratlos und krabbelte wieder aus meinem Versteck. Ich hockte mich an meine Ruten und grübelte, kam aber zu keinem vernünftigen Schluss. Das Ganze war sehr rätselhaft, und ich erging mich in den wildesten Spekulationen. Eine mir sehr wohl bekannte Stimme holte mich in die Realität zurück.

Bild 178225 - Dieses Bild ist aus diesem Werk.

      „Beese?! Wieso du hier? Ich war der Meinung, du seiest krank!“

      Am Brückengeländer lehnte lässig mein Sportlehrer und grinste mich an. Oh, mein Gott! Lass die Erde sich auftun und mich darin verschwinden! Himmel, hilf! Und sei es nur ein ganz kleines Mauseloch. Ich wollte in meiner Not auch nicht wählerisch sein. Aber mein Beten half nichts. Im Gegenteil, der Pauker stellte ein Rad ans Geländer. Behände sprang den kleinen Abhang herunter. Dann stand er neben mir.

      „Dein Klassenlehrer sagte mir etwas von Fieber, heh?“

      „Ach, das war wohl nur ein kleiner Anfall von Unwohlsein. Mir geht es durch die frische Luft auch schon viel besser.“

      Der Lehrer grinste.

      „Aalfieber, wie?“, erkundigte er sich und betrachtete den Inhalt meines Eimers. „Donnerwetter, Beese, auf hundert Meter hast du ja nicht viel drauf, aber angeln kannst du. Mann, ich hätte nicht gedacht, dass in dem Graben solche Burschen sind. Im Übrigen hast du Glück gehabt. Für heute Nachmittag ist überraschend eine Lehrerkonferenz einberufen worden, deshalb fällt Sport aus. Ich war nur hier, um den Jungs das zu sagen. Oha, da hast du gerade einen Biss. Darf ich mal?“

      Nur zu gern überließ ich ihm meine Rute. Na ja, ein wenig ungelenk stellte er sich an, aber man konnte erkennen, dass er nicht zum ersten Mal eine Angel in der Hand hielt. Beim dritten Aal handhabte er die Rute schon wie ein routinierter Sportfischer, und ich staunte Bauklötze, wie geschickt er den Köder an das unterspülte Ufer heran warf. Mit untrüglichem Instinkt witterte er den Standort der Aale. Wir wetteiferten miteinander um den nächsten Biss, den größeren Aal und versuchten vorherzusagen, ob gerade ein Aal oder eine Wollhandkrabbe mit dem Köder auf und davon ging. Im Plauderton erzählte er mir dabei von unglaublichen Fischen, von spannenden Angelpartien und den Menschen der Mecklenburger Seenplatte. Denn von dort, aus dem Osten, stammte er. Dort hatte ihn sein Vater das Angeln gelehrt, und er seinen ersten Fisch und später den für lange Zeit letzten Fisch gefangen. Schließlich hatte ihn ein gütiges Schicksal ohne große Probleme über den Eisernen Vorhang in den Westen verschlagen, jedoch hatte er seine Familie zurücklassen müssen. Zum Angeln war er seither nicht mehr gekommen, dazu hatte ihm bisher die Muße gefehlt. Ich schwieg, was hätte ich dem Mann auch sagen sollen? Das Schicksal des Mannes berührte mich. Doch konnte ich, ein Schüler, ihn trösten? Ich merkte, dass seine Laune immer besser wurde. Vergnügt hantierte er mit Fisch und Rute. Ein Aal besser als der andere. Der Eimer füllte sich zusehends.

      „Das hätte ich schon lange einmal tun sollen“, meinte er. „Heh! Was ist jetzt los? Wieso fließt das Wasser plötzlich in die andere Richtung?“

      „Fünf Uhr!“, sagte ich, noch immer im Bann seiner Erzählungen. „Flut! Das Wasser fängt jetzt an, wieder abzulaufen. Wir können einpacken,