Gerald Roman Radler

DIE LSD-KRIEGE


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mein Notendurchschnitt noch zwischen eins und zwei. Nie hätte ich tatsächlich geglaubt, dass sich die Schüler einer höheren Klasse mit mir abgeben würden. Der Altersunterschied zwischen einem Vierzehnjährigen und einem Siebzehnjährigen war doch sehr gewaltig. Umso mehr erstaunte mich, als ich herausfand, dass Jimi praktisch eine Gasse weiter lebte. Es war das Haus mit den drei Höfen, in dem auch Pipo wohnte. Seine Freundschaft wurde mir von den Eltern seit dem Kindergarten oktroyiert. Oft stand ich mit Pipo vor der Haustüre und plauderte über Airfix-Modelle und Chemiebaukästen. Sein Vater kaufte ihm jedes Schiff, Flugzeug, oder Fahrzeug, solange es sich um ein Vehikel zur Kriegführung handelte. Sorgfältig baute er die Plastikteile zusammen und stellte sie in seinen Bücherregalen auf. Dann erklärte er, zu welchem vernichtenden Einsatz das dargestellte Objekt im ersten oder zweiten Weltkrieg ausersehen war.

      Ich hatte gar kein Bedürfnis über die Funktion von Maschinen, die Menschenleben auslöschten, detaillierte Angaben zu erhalten. Allein ich entkam seiner angezüchteten Faszination kaum. Diese Verbindung wurde von Mutter und Vater herbeigeführt und unterstützt. In gewissen Grenzen erklärten sie sich mit Pipo einverstanden, die dort brutal gestoppt wurden, wo wir gemeinsame chemische Experimente durchzuführen trachteten. Der plumpe, riesige Schüler mit den karierten Wollhosen hieß eigentlich Kunibert, wurde aber abfällig Pipo genannt. Vielleicht deswegen, weil er wie ein Clown in seiner unzeitgemäßen Altmännerkleidung aussah. Das Angenehme an seinem Wesen bestand aber darin, dass er durchaus gebildet war. Er war aufgeschlossen und weltoffen und interessierte sich für alle Unterrichtsgegenstände. Er verstand rasch Interaktionen und war ein erfolgreicher Schüler. Seine Loyalität schlug sich nicht zuletzt darin nieder, dass er keine Probleme hatte, mich bei Schularbeiten abschreiben zu lassen, oder bei mündlichen Prüfungen leise einsagte. Obwohl er ein Vorzugsschüler war, verhielt er sich ganz anders, als die üblichen Streber, die abgeschlossen in ihrer Welt lebten. Sie flüsterten höchstens falsche Information den Bedürftigen zu, oder sprachen absichtlich so laut, dass der Professor es hörte und das Einsagen rigoros unterband.

      Es ergab sich manchmal, dass Jimi die Lerchenfelderstraße entlang kam, uns beide vor dem Haustor antraf und grüßte. Er verweilte genau eine Zigarettenlänge, die er genüsslich rauchte. Dabei stieß er den Rauch aus der Nase und prustete dann mit geblähten Nasenflügeln. Stets wechselte er einige Worte mit Pipo. Wahrscheinlich stand er gerne in der Öffentlichkeit, um sich zu zeigen und benutzte die Gelegenheit, Smalltalk zu führen. Immer wieder sah er mir für Sekundenbruchteile in die Augen. Sein undefinierbarer Blick wanderte ständig aufmerksam umher, als hielte er nach jemandem Ausschau. Nachdem er seine Zigarette ausgetreten hatte und mit der Schuhkappe über den Randstein auf die Straße befördert hatte, verabschiedete er sich, indem er Pipo die Hand reichte. Aus seinem Verhalten schloss ich, dass er Pipo ernst nahm. Weder spottete er ihn wegen seines Aussehens aus, noch quälte er ihn unsinnig mit Worten, wie es die meisten Schüler taten. Die beiden sprachen über politischen Themen genauso, wie über die Marotten gewisser Lehrkräfte. Mich grüßte er, indem er mich aus den Augenwinkeln eines lustigen Blickes bedachte, kurz den Kopf hob und grinste. Ich fühlte mich geehrt, von einem Älteren beachtet zu werden, was mir ziemlich ungewöhnlich vorkam. Sein Erscheinen erschütterte mein Bild von den übermächtigen, distanzierten Oberstufenschülern. Wahrscheinlich war Jimi eine Ausnahme – nicht jeder, der die sechste Klasse erreicht hatte, schaffte es der Hochnäsigkeit zu entgehen. Pipo wiederum nahm keinen Anstoß an der Angewohnheit des Rebellen, in aller Öffentlichkeit das verpönte Rauchen zu ritualisieren. Die wohlerzogenen Schüler wären vor Scham im Boden versunken, mit einem rauchenden Halbwüchsigen, gesehen zu werden. Ich war stolz darauf, neben Jimi mit dem drahtigen, abstehenden Kraushaar und der komplett verschlissenen, gebleichten Jeansjacke, in der die Zigarettenpackungen hervor lugten, im Haustor zu stehen. Jeder, der die Lerchenfelderstraße passierte, konnte uns sehen.

      Noch einem Schüler des Bundesrealgymnasiums fiel ich damals auf. Er trug einen langen, vornehmen Mantel und wirkte auch sonst eher wie ein distinguierter Herr, zu dem man aufschauen sollte. Gerald Hunger galt als intelligent und sprachgewandt. Dann wurde mir klar, dass er nicht nur so wie ich in der Schülerzeitung schrieb, sondern für die Herausgabe verantwortlich war. Man schätzte ihn für sein schriftstellerisches Können. Bald tauschten wir Lyrik und Prosafragmente aus und diskutierten vor dem genannten Haustor, das durch drei begrünte Höfe zu drei Häusern führte. Hier wohnte die Mehrzahl der Menschen, die ich seit meiner Kindheit kannte. Immer wieder entdeckte ich eine Person, die an uns vorbei ins Haustor ging. Sogar das Mädchen, um das ich mit Pipo in der Volksschule gestritten hatte, wohnte ein Stockwerk unter Jimi. Wer immer hier vorbei ging, sah mich dort in philosophische Fragen vertieft, mit hoffnungsvollen Maturanten, oder eben Freaks, wie Jimi einer war. Es gab keine Klassenunterschiede und das gefiel mir.

      Eines Tages, als ich um vierzehn Uhr Unterrichtsschluss hatte, stand Jimi gerade vor der Schule und begrüßte einen Schüler, der ein bekannter Gitarrist bei einem Wiener Musiker werden sollte, der in den USA berühmt wurde. Damals spielte er in einer Band, in der Jimi hinter seinem Schlagzeug saß. Er bemerkte mich, indem er den Kopf hob. Ich nahm all meinen Mut zusammen und fragte ihn, ob ich die beiden begleiten könnte, da wir ja offensichtlich den gleichen Weg hatten. Er war sofort einverstanden, der Gitarrist streckte mir seine Hand hin und wir gingen die Albertgasse hinab. Es war ein relativ kurzer Weg von höchstens zehn Minuten und das Eckhaus in derselben Straße, wo ich wohnte, konnte man unschwer sehen. Von da an begleitete ich Jimi fast jeden Tag, sofern sich unsere Zeiten, zu denen wir das Schulgebäude verließen, überschnitten. Dann standen wir vor dem Haustor und plauderten. Manchmal kam noch ein anderer Bursch, den Jimi gut kannte vorbei und unser Gruppe wuchs.

      An einem dieser Tage, als wir zu fünft versammelt waren, wagte ich eine Zwischenbemerkung und mischte mich in das laufende Gespräch ein. Mein Einwurf wurde nicht nur toleriert, sondern ich bekam grünes Licht, mich an der Konversation zu beteiligen. Zu meinem Vorteil wussten die Umstehenden, dass ich zu Jimis Bekanntenkreis gehörte. Als dann auch noch Gerald Hunger plötzlich neben mir auftauchte, mich durch einen jovialen Schlag auf die Schulter grüßte, waren meine gleichaltrigen Klassenkameraden bereits in weite Ferne gerückt. Einige von ihnen schlenderten auf der anderen Straßenseite an uns vorbei. Sie drehten sich schüchtern und respektvoll um, denn ich war unangreifbar geworden. Ich hatte mehr gewonnen, als wenn ich Schulsprecher geworden – oder mit einem Vorzug aufgestiegen wäre.

      Gerald Hunger passte gar nicht in den Verbund der aufständischen Gymnasiasten. Er war ein kurzhaariger, properer Mann, der stets eine seriöse, teure Kleidung trug. Doch sein Geist war revolutionär und er unterstützte mich, soweit es in seiner Macht stand. Er druckte alle meine Gedichte in der Schülerzeit und erwähnte im Editorial lobend mein neues Pamphlet. Ich freute mich maßlos über meinen Erfolg. Ich karikierte die Lehrer und hob ihre Fehler drastisch hervor. Ich arbeitete ihre Ticks aus und unterzog ihr Wesen einer grausigen Metamorphose.

      Die Schüler standen herzlich lachend in den Gängen und lasen einander meine lästerlichen Texte vor. Sie bewunderten meinen Scharfblick, die Eigenarten der Lehrer zu erfassen und ihre Marotten derart witzig wiederzugeben. Sie liebten meine Parodien, die jede Lehrkraft exakt katalogisieren konnte. Es war wichtig, die Professoren anhand von prägnanten Merkmalen zu definieren und auseinander halten zu können.

      Ich investierte mehr Energie in die Verfassung neuer Schriften, als in das Auswendiglernen von Prüfungsstoff. Der Erfolg machte mich berauscht. Die Schülerzeitung wurde umfangreicher und in einer Druckerei gebunden. Gerald Hunger schlug vor, Geld für die Zeitung zu verlangen. Bangen Herzens verlangten wir sechs Schilling für eines der begehrten Exemplare. Uns blieb keine einzige Zeitung über. Es hatte sich herumgesprochen, dass meine Schmähschriften den Schülern aus der Seele sprachen. Man konnte straflos in der Zeitung schmökern und freute sich über das, was ein anderer sich getraute niederzuschreiben.

      Ich hatte einen Weg gefunden, die Institution der Schule anzugreifen. Meine Art der Auseinandersetzung mit eingefahrenen Modellen umzugehen, war neu. Bisher hatte sich nicht einmal die Oberstufe getraut, die Lehrer in spaßiger Weise als neurotische, paranoide, verwirrte Sonderlinge darzustellen. Der ernst gemeinte Unterton war nicht zu überhören. Die Professorenschaft kochte, doch anscheinend getraute sich niemand, die Zeitung aus dem Verkehr zu ziehen. Schließlich waren wir die einzige Schule, die über ein Blatt verfügte, dass über die Grenzen des Bezirks hinaus, gelesen wurde.

      Ich