Gerald Roman Radler

DIE LSD-KRIEGE


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Was Professor Lewin schrieb, wurde als gesichert angenommen. Er musste gründlich recherchiert haben und wählte vielleicht nur aus Bescheidenheit die Möglichkeitsform, oder aber er rechnete mit keiner kritischen Begutachtung.

      Ich bezweifelte überhaupt jede einst als Dogma geltende Theorie und ließ keinen einzigen Grundsatz gelten. Egal ob ich über ein gestelltes Thema diskutierte, oder ein Buch las, ich focht alles und jeden an. So rutschte ich immer tiefer auf der Leiter der Beliebtheit hinab. Die Lehrer hatten längst vergessen, dass ich jener Musterschüler war, der ihnen die Worte von den Lippen ablas und aufzeigte, so oft er etwas wusste. Und nun saß ich mit diesen Leuten in einer parallelen Welt, von der ich nichts geahnt hatte.

      Tommy und ich machten uns schweigend auf den Weg nach Ottakring. Wieder waren wir in der Nähe des Brunnenmarktes. Wir blieben vor einem grauen, gigantischen Haustor stehen. Ein geräumiges, feudales Beleuchtungsgeschäft befand sich gassenseitig, neben dem Hauseingang. An dieser Mauerfront war ich schon viele Male vorbeigegangen, ohne zu ahnen, einmal hier meine Freunde beherbergt zu wissen. Wir gingen schnurstracks in den ersten Stock des feudalen, geräumigen Flurs. Die Luft im Parterre war kühl und muffig. Ich befand mich in einem für Wien typischen Gang, der verkündete: Hier wohnen sowohl Menschen, die sich nur winzige Garçonnièren leisten können, als auch Mieter, die für Wohnungen über hundert Quadratmeter zahlen. Der Geruch nach gekochtem Kohl lag über dem Gang. Die kultivierten Domizile befanden sich einen Stock höher. Auf zwei nebeneinander liegenden Türen stand der gleiche Name. Nur die Vornamen zeigten, dass die Kinder über eigene Gemächer verfügten. Tommy läutete kurz und runzelte angespannt die Stirne. Ein dünner, großer Bursche mit runden Brillen und feinem, langem Haar öffnete uns nach wenigen Sekunden.

      Er kicherte und gluckste und sagte: »Grüß sie, grüß sie!«

      Er bat uns durch einen dicken Filzvorhang zu schlüpfen, in dem ich mich mit den Haaren verhedderte. Schließlich stolperte ich auch noch über eine Stufe. Meine Ungeschicklichkeit wurde mit einem wissenden Gekicher quittiert. Er sagte nur »aha«, als er sich, während er voranging, umdrehte und mich genauer musterte. Wir passierten ein gemütliches Jugendzimmer mit Schreibtisch, Bücherregal, Bett und zahlreichen Posters an den Wänden, um in ein schlauchartiges Zimmer, in dessen Dämmerlicht nur eine Stehlampe und eine Matratze zu erkennen war, zu gelangen, auf der andere Jünglinge mit dem Rücken an die Wand gelehnt saßen.

      »Alles ist genauso, wie im Schulhof«, witzelte ich und Crisly, der uns geöffnet hatte, klopfte mir lachend auf die Schulter.

      »Willkommen, Alice im Wandland« sagte er mit kehliger Stimme, die von einem glucksenden Lachen unterbrochen war. Die dunklen Laute passten gar nicht zu seiner leicht gebeugten, zierlichen Gestalt. Ich erkannte sofort die Ähnlichkeit mit Charly Watts von den Rolling Stones. Besonders der charakteristische Mund war mir schon in der Schule aufgefallen, als ich ihn zum ersten Mal sah.

      Crisly war Winis Bruder, der in meine Klasse ging. Er war zwei Jahre älter und kannte keinen Schüler meines Jahrgangs, mit dem er sich strapaziert hätte. Zwischen der Fünften und der Siebten bestand schon ein beträchtlicher Unterschied. Selbst ich sah die Gleichaltrigen als unreife Kinder und wünschte mir ältere Gefährten. Wini würde den Mitschülern erzählen, dass er mich mit den Freunden seines großen Bruders gesehen hatte.

      Wini konnte ich gut leiden, aber wir hatten nichts gemeinsam. Er war ein begeisterter Skiläufer und gewann sogar Jugendrennen, wobei er über die modernste Ausrüstung verfügte. Die Eltern waren reiche Geschäftsleute und erkannten, dass ihr älterer Sohn keine Chance mehr hatte, zur Matura anzutreten, wenn es so weiterginge. Von meinem Vater hatte ich erfahren, dass sie an einem Elternabend die wissenschaftliche Ausrüstung der Schule kritisierten und beschlossen hatten, uneigennützige Geschenke der Leitung zu stiften. Zur Verbesserung des biologischen Anschauungsunterrichts spendeten sie ein modernes Mikroskop. Das alte Mikroskop aus Messing war womöglich noch aus der Zeit Anton van Leeuwenhoeks.

      Wini hatte keine Unterstützung nötig, er war trotz einer leichten Sprachbehinderung ein interessierter, aufmerksamer Schüler. Er war das genaue Gegenteil seines Bruders – klein, stämmig, schwarzgelockt und durchtrainiert. Eine längere Unterhaltung entpuppte sich als mühsam, da er stotterte. Wenn er sich aufregte, brachte er nur mehr die Wiederholung einzelner Silben hervor. Dabei bewegte er den Kopf auf und ab, als könne er die Worte so besser aus dem Gehirn schütteln.

      Crisly brachte uns auf einem Tablett mehrere Gläser Himbeersaft. Mein Glas drückte er mir freundlich grinsend in die Hand, legte den Kopf schief, damit seine blonden Haare sein Gesicht freigaben und sah mir mit leuchtenden Augen ins Gesicht.

      »Hmm!« sagte er, als wollte er seinen Himbeersaft preisen. Er wirkte irgendwie ätherisch, wie ein netter Geist aus der Flasche. Seine Erscheinung konnte man fast als zerbrechlich beschreiben.

      In dem Raum saßen noch andere falsche Hofgeher. Einer davon war Mike. Die zwei übrigen Burschen besuchten ebenfalls das Gymnasium. Marc hatte die Augen geschlossen und öffnete sie nur kurz, um mich mit zusammengekniffenen Augen zu fixieren.

      »Irre!« sagte er, als er mich erkannte hatte und schüttelte den Kopf. Dann schloss er seine Augen und lachte heiser. Er dürfte der Jüngste der Liga gewesen sein, da er nur eine Klasse höher war und nie repetieren musste. Mit seinem starken Kinnbart wirkte sehr selbstsicher. Bei ihm war es wahrscheinlich, dass er das Maturaniveau erreichte, schließlich leistete seine Mutter schon jahrelang vorzügliche Dienste an der Quelle der Macht – im Vorzimmer des Mannes, der die letzten Entscheidungen traf. Ihre vielen Überstunden zu vergelten, wäre eine sehr aufwendige Arbeit gewesen. Man munkelte, dass Marc schon jetzt das Abitur in der Tasche hatte. Marc hielt etwas in der Hand, dass einer hölzernen, kleinen Vase glich, die er mit einem Tuch umwickelt hielt. Er hatte beide Hände in einer absonderlichen Haltung um das untere Ende des Geräts geschlungen und zog durch den Hohlraum seiner Hände dicken, duftenden Rauch. Der Hausherr war der nächste. Er umfasste in derselben Art die Vase, nur dass er wie eine feine Dame den kleinen Finger wegstreckte. Er inhalierte den Rauch eher in kurzen, hastigen Zügen, die er immer wieder unterbrach, indem er den Blick von uns abwandte.

      Der rote Mike gab die eindrucksvollste Vorstellung. Er sog gierig den Rauch mit eingezogenen Wangen in die Lunge, sein Gesicht verzerrte sich in unvorstellbarem Leiden, während er das Gerät weit von sich wegstreckte und den Rauch, mit im Nacken gelegten Kopf, an die Zimmerdecke blies, um mit einer hastigen Bewegung erneut anzuziehen. Dieses Spiel wiederholte er viermal. Damit schloss er sich den anderen an und ich wusste, ich durfte viermal rauchen. Jimi, den seine verkrüppelte Hand behinderte, filterte den Rauch nicht mit den Handflächen. Er warf das Safi achtlos neben sich und steckte den Stiel des Chillums unzeremoniell in den Mund und sog mit langen Zügen. Dabei bewegte sich sein Adamsapfel, als würde er den Rauch schlucken.

      Dann war ich an der Reihe. Ich bediente mich des einfachen Griffes, den Tommy mir gezeigt hatte und ich kühlte, und vermischte den Rauch erfolgreich mit Luft.

      Crisly drehte das Licht ab. Wir hörten Pink Floyd und eine riesige Tropfkerze verbreitete einen sanften Schimmer. Ich lehnte mich erwartungsvoll an die Wand und fühlte, wie ich schwach wurde. Die Geräusche, die Tommy beim Aufbröseln der Droge machte, als er, kurz nachdem das hölzerne Rauchgerät erloschen war, eine neue Mischung fertigte, hörte ich hallend wie aus weiter Ferne. Bald hatte ich schon eine schwarze, verzierte Pfeife mit langem Stiel in der Hand, die ein zweites Loch am anderen Ende des Stiels hatte. Auf dieses Loch musste man den Zeigefinger beim Ansaugen legen. Ließ man unvermittelt aus, schoss ein Schwall des würzigen Rauches in die Lunge. Die Bewegungen der Anderen wurden langsamer und unbeholfener. Die Musik war aus und niemand bediente den Plattenspieler. Tommy fragte mit hohler Stimme in die Stille, ob nicht einer die Platte umdrehen könne. Kurze nervöse Lacher waren die Folge. Als sich dann doch Jimi erbarmte, brach ein hysterisches Gekicher aus, in das ich einfiel. Wir beobachteten jeder seiner Bewegungen, die darauf hinzielten, eine neue Platte auf den Teller zum Klingen zu bringen. Seine Bestrebungen waren wie in einem Slapstickfilm mit beträchtlichen Mühen verbunden. Ich lachte am Lautesten, aber die abgehackten Geräusche klangen, als wäre es jemand anderes, der von der Zimmerdecke herab lachte.

      Anknüpfend fertigte Crisly noch einen Joint. Die Stimmung konnte man mittlerweile als gehoben bezeichnen. Den Joint rauchte ich wie eine Zigarette,