Gerald Roman Radler

DIE LSD-KRIEGE


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ein klagendes Fiepen umschlugen, ließen meinen Herzschlag stocken, der nach überstandener Gefahr hart und unbarmherzig von innen gegen meinen Brustkorb schlug. Ich hoffte, dass etwa Fledermäuse diese Geräusche verursachten, an denen ich als begeisterter Leser von Vampir-Horror-Romanen gar nichts auszusetzen hatte. Langsam begann ich mich zu fragen, wie lange der unheilvolle Schlauch wohl sei, der gar nicht existieren durfte. Dass ich an so einen ausgedehnten Stollen keine Erinnerung haben sollte, trug zu meinem schwindenden Gefühl für einen Rest von Realität bei.

      Aber irgendwann, als ich halb verrückt vor Angst mit dem Schlimmsten rechnete, sah ich vor mir einen wackeligen Lichtfinger auf mich zeigen und es hieß: »Nur du bist gemeint!«

      Ich begann zu rennen und stürzte erleichtert ins Freie, wälzte mich im Gras und starrte ins Firmament. Ich war gerettet, die Welt hatte mich wieder angenommen – mich den Verschollenen im düsteren Erdreich. Ich war nicht verloren, ich war wiedergeboren und hatte – zumindest für dieses eine Mal – meine Feigheit überwunden. Erschöpft suchte ich in der Nähe der Straße und doch von Autos uneinsichtig einen Platz in einer moosigen Mulde. Von Schlaf war ich trotz lähmender Müdigkeit doch weit entfernt. Insbesondere nachdem eine klamme Kälte und ein feuchter Tau bis in meine Knochen zu kriechen schien. Es war derart ungemütlich am Waldboden zu liegen, als würde ich in einer eingelassenen Badewanne mit Eiswasser ruhen. Dennoch verharrte ich geschützt in dieser unwirtlichen Mulde. Wenn ich mich nicht bewegte, dann spürte ich die Kälte kaum. Sobald ich aber meine Position änderte, fror ich erbärmlich. Zähneklappernd stand ich von meinem Versteck auf und taumelte der Dämmerung entgegen. Ich musste bisher stundenlang gegangen sein. Ich konnte das Aufgehen der Sonne kaum erwarten. Als ich schon glaubte das Land würde von einer nördlichen Mitternachtssonne bestrahlt werden, schob sich eine rote, feurige Scheibe hinter den Bergen hervor.

      Es war schon einige Stunden hell, als ich das Forsthaus erschöpft erreichte. Ich fühlte mich gereinigt, meine Augen sahen die Umgebung in einer schmerzenden, viel zu klaren Helligkeit, die jedes Detail überzeichnete. Meine Träume waren einer stumpfen Apathie gewichen, in der ich nicht mehr wusste, wie es weitergehen sollte. Ich zimmerte mir in aller Eile eine neue Wirklichkeit zusammen, in der ich bei der einfachen Familie wohnen und arbeiten würde. Ich klammerte mich an ein Wahngebilde wie an die selbstverständlichste Sache der Welt. Ansonsten wäre ich in ein schwarzes Loch gefallen, ähnlich beschaffen wie das, nie enden wollende Tunnel, der vergangenen Nacht.

      Die Mutter meines Freundes würde mir ein Zimmer freimachen, so malte ich mir die nahe Zukunft aus. Ich würde lernen, Tiere zu beobachten, bei Waldarbeiten helfen und verwundete Hirsche pflegen. Die Familie würde sich geehrt fühlen, dass ich mich bei ihnen zufriedener fühlte, als in der Stadt. Einen Freund hatte ich auch, der sich über mein Kommen erfreut zeigen würde. Er konnte ein gutes Wort für mich bei den Eltern einlegen und ich konnte ihm Nachhilfe in Latein, Chemie und Deutsch geben.

      Die Wirklichkeit sah freilich anders aus. Mein Kommen wurde mit geschockter Überraschung quittiert und dann mit gespielter Freundlichkeit bedacht. Auch die Freude meines Freundes war beträchtlich gedämpft. Ich war innerlich entsetzt und hoffte, mich zu irren. Aber meine neu erworbene, stationäre Sichtweise, ließ keine Zweifel offen. Das blendend helle Licht der frischen Sonne ließ diese Menschen wie Schauspieler auf einer grell ausgeleuchteten Bühne erscheinen, welches nur ihre Versprecher und Fehler scharf hervor arbeitete. Auf die Frage, wieso ich denn allein und ohne Voranmeldung hier auftauchte, antwortete ich mit einer Lüge. Meine Eltern ließen mir genug Spielraum und hätten das Vertrauen, mich allein reisen zu lassen. Ich würde oft ohne Aufsicht in der Welt herumreisen, sagte ich, ganz wie es mir beliebte. Da ich zum Ausklang der Ferien einen spontanen Besuch bei lieben Freunden machen wollte, sei ich eben überstürzt gekommen. Die Mutter meinte, die Überraschung sei gelungen und ob ich mich nicht zu Hause melden wolle, dass es mir gut gehe. Das sei überhaupt nicht nötig, antwortete ich. Mein Freund, der eine gehörige Portion Bauernschläue aufwies, sah verlegen zu Boden. Der Blick seiner Mutter war lauernd und böse. Es schien, als hätte sie hinter ihren freundlichen, dummen Augen noch zwei Augen, die zusammengekniffen und voller Gehässigkeit auf mich blickten. Immer wenn ihr zweites Gesicht das Erste, Freundliche überlagerte, verzerrte sich auch ihr Mund. Ich war über das Wechseln ihrer Masken geschockt. Aber dann ließ ich mich aus Bequemlichkeit auf die nette Larve ein. Das restlose Verdauen meiner neuen Sichtweise hätte mich Unmengen an Energie gekostet und die stand mir einfach noch nicht zur Verfügung. Ich sollte zu gegebener Zeit noch genügend Gelegenheit finden, mich mit diesem Phänomen zu beschäftigen. Ohne nicht innerlich stark erregt zu sein, war es mir unmöglich hinter die Maskerade zu sehen. Ich wünschte mir die nötige Gelassenheit, die erschreckenden Bilder in ihrer Gesamtheit zu verstehen. Denn ich war weit davon entfernt, die Menschen und ihre Beweggründe zu erfassen. Die Impressionen zogen mich in einen Strudel, der mir keine Gelegenheit ließ, Luft zu schnappen und meine Eindrücke zu ordnen.

      Das einfache Paar war von meinen Beteuerungen also einigermaßen beruhigt. Sie hatten ja keine Ahnung, wie es in der Stadt zuging, da sie noch nie weiter als nach Eisenerz gefahren waren. Ich verdrängte die unhaltbare Situation, obwohl ich wusste, dass ich hier sicher nicht bleiben konnte. Wenn ich aus dem Fenster in den Schlauch des Weges sah, der in der Schlucht endete, wurde mir angst und bange. Ich war in Wahrheit mutterseelenallein und sollte mich schleunigst aus dem Staub machen. Ich starrte abwesend aus dem Fenster. Die Straße wurde zum Wiesenweg, der Wiesenweg zum Pfad, der sich immer mehr verjüngte. Von hier aus entstand der Eindruck, die Natur hätte einen überdimensionalen Trichter erbaut, in den ich eingezogen wurde, wenn ich hinter das Anwesen ging. Dort lauerte die andere Welt und sie war längst nicht mehr die ersehnte Lösung meiner Probleme. Sie war fremd und Furcht erregend. Die aufgetürmten Felsen starrten mich feindselig an, während ich mich unter diesen Menschen zum Weinen unwohl fühlte. Ich verbrachte einige Stunden mit belanglosen Gesprächen mit dem Freund, der plötzlich gar nicht mehr zu mir passte. Er war mein Feind geworden, dem ich mich nicht anvertrauen konnte. Im Gegenteil – ich passte auf, was ich ihm mitteilte, da er mich mit halb geöffnetem Mund und angespannter Haltung belauerte. Er hielt mich zweifelsohne hin, bis seine Eltern einen Entschluss gefasst hatten. Er bildete eine Einheit mit ihnen, wie ich sie mit meinen Eltern nie hätte haben können. Ich war von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Ich hatte einen Fehler begangen, als ich hierher gekommen war. Ich suchte nicht diese Menschen und nicht diese Landschaft, die unter anderen Umständen romantisch hätte sein können. Ich rannte hinter dem Wunsch nach einer Beziehung zu einem Mädchen her, mit dem ich mein seltsames Leben teilen konnte. Eine Frau, die reif genug war, mich zu verstehen und der ich durch mein Anderssein bei der Bewältigung ihres eigenen Lebens helfen konnte. Ich suchte also einen Menschen, mit dem ich aus dem Wahnsinn dieser familiären und schulischen Enge ausbrechen konnte und ein Leben, das besser zu mir passte, beginnen konnte. Das so klare Ziel schien unendlich ferne und ich war plötzlich sterbensmüde. Die schwere Last drückte mich buchstäblich nieder. Als letzte Möglichkeit, in die Schlucht steigen zu müssen, lag wie ein Klotz auf meiner Brust und erstickte alle anderen Gefühle. Zu Mittag rief dann die Mutter zum gemeinsamen Mahl. Ein Ritual, das ich zu hassen gelernt hatte.

      Zu Hause wurde die Runde bei Tisch gleichzeitig als Verhör benutzt. Wir Kinder wurden mit Worten und Blicken gequält und mussten essen, auch wenn wie keinen Hunger hatten. Aber es wäre äußerst unklug gewesen, mich zu verweigern. Während wir schweigend aßen, kreischte ein kleines Radio in der Küche. Leise, bodenständige Musik bescherte mir ein Missbehagen der besonderen Art. Es war Österreich regional eingestellt, ein Sender, den ich nie freiwillig hörte. Die Blicke, die ich meinem Freund zuwarf, wurden mit Unverständnis bescheinigt. Dann begann die tägliche Übertragung von Autofahrer unterwegs. Zahlreiche Vermisstenmeldungen wurden vorgelesen. Ob die anderen in der Bauernstube es so genau vernahmen wie ich, wusste ich natürlich nicht. Meine Eltern hatten prompt reagiert. Schließlich bin ich noch nie ohne Abmeldung eine ganze Nacht weg gewesen. An den Wortlaut des Textes erinnerte ich mich noch lange danach mit Schrecken.

       Seit gestern Nachmittag ist der vierzehnjährige Gerald R. aus der elterlichen Wohnung abgängig. Wenn du mich hörst, Gerald, melde dich zu Hause! Es ist alles in bester Ordnung.

      Natürlich war nichts in Ordnung. Es war so peinlich bei diesen Leuten beim Mittagmahl zu sitzen und über das Radio ausgerufen zu werden. Nicht viel Zeit verging und die Mutter des Freundes gestand, mit meinen