Luca DiPorreta

EXTRA VERGINE


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Ohnmacht. Wenn sie erst einmal das Bewusstsein verloren hatte, gab es kein Erwachen mehr. Ein unsinniger Gedanke schoss ihr durch den Kopf: „Hätten sie doch wenigstens gutes, nach frischem Gras oder Brombeeren riechendes Öl genommen, um mich umzubringen, anstatt mich in dieser stinkende Brühe zu ertränken.“

      Ihre Armmuskeln begannen ob der Anstrengungen zu zittern. Die Füße rutschten von den schleimigen Stufen der Innenleiter, und die Hände lösten sich von den stählernen Handläufen. Die Lampe fiel ihr aus dem Mund und verschwand im schwarzen Öl. Einzig die Fixierung mit dem Gürtel verhinderte, dass sie in den finsteren Tank zurückglitt, als sie das Bewusstsein verlor.

      Dass Sekunden später der Deckel wieder geöffnet wurde und ein Gesicht in den Tank lugte, nahm sie nicht mehr wahr. Auch nicht, dass jemand sie an den Schultern fasste, den verknoteten Gürtel löste und sie aus dem Öltank zog.

      Kapitel Zwei

      Max erwachte mit einem gewaltigen Brummschädel. Sein Körper fühlte sich an, als seien Gelenke und Muskeln durch den Fleischwolf gedreht worden. Vom nahen Turm der Kathedrale hörte er eine Glocke schlagen. Die Schläge rauschten an ihm vorbei, ohne dass er sie zu zählen vermochte. Immerhin nahm er wahr, dass es viele waren. Der Vormittag musste schon weit fortgeschritten sein.

      Durch die schräg gestellten Jalousien seines Schlafzimmers fiel ein Lichtstrahl. Rasch schloss er die geblendeten Augen wieder und wälzte sich ächzend auf den Rücken. Mit den Fingerspitzen massierte er die pochenden Schläfen. An solchen Tagen verstand er, was mit dem Begriff „Morgengrauen“ gemeint war. Erneut versuchte er, zumindest eines seiner Augen zu öffnen, um einen Blick auf die Digitalanzeige des elektronischen Weckers neben dem Bett zu werfen.

      Schon elf!

      Die Sonne hätte ihn vermutlich nicht aus dem Tiefschlaf erwachen lassen. Doch vor seinem Bett wartete Whisky, sein kleiner Terrier, und winselte zu ihm hinauf. Als der Hund merkte, dass das nichts half, stellte er die Vorderpfoten auf die Matratze und begann, mit der warmen Zunge Max’ Ohr zu lecken. Er wusste, dass er nicht aufs Bett durfte. Aber zwei Pfoten waren erlaubt und brachten seine Schnauze so nah zu Max’ Gesicht, dass dieser sich nicht weiterhin schlafend stellen konnte. Trotz seiner noch immer reduzierten Wahrnehmung wusste Max, dass sein Hund ihm mit Nachdruck zwei Botschaften zu übermitteln versuchte: zum einen „Hunger“ und zum andern „Ich muss raus!“.

      Mühsam rollte er sich aus seinem zerknautschten Doppelbett. Er streckte sich, begleitet von einem lauten Gähnen. Dabei knackten vom Fuß bis zum Nacken fast alle seine Ge-lenke und erinnerten ihn daran, dass er schon mehr als das erste halbe Jahrhundert seines Lebens hinter sich liegen hatte. Mit der Hand fuhr er sich durch das wirre Haar und wankte ins Badezimmer. Die Gestalt, die ihn dort im grellen Licht entgegenblickte, mit dunklen Schatten unter den roten Augen, das Gesicht voller schwarzer Bartstoppeln und mit Falten, die sich von der Nase bis fast zum Kinn hinab zogen, kam ihm bekannt vor.

      Er drehte den Mischer in der Dusche auf Kalt und stellte sich schnaubend unter den eisigen Wasserstrahl. Nach dieser Prozedur war er einigermaßen wach. Er trocknete sich oberflächlich ab und tappte zurück ins Schlafzimmer. Dort erwartete ihn schwanzwedelnd Whisky vor dem Tischchen mit der ledernen Leine und blickte ihm erwartungsvoll entgegen.

      „Ich komme ja schon!“

      Während er mit einem Tuch seine Haare trocknete, warf Max einen wehmütigen Blick auf sein großes Boxspring-Bett. Die Matratze war das teuerste Stück in seinem Appartement. Aber schließlich, so hatte er sich beim Kauf gesagt, verbrachte er nirgends so viel Zeit wie in seinem Bett. Und natürlich waren Bett und Matratze samt Auflage daraufhin ausgelegt, dass nicht nur eine Person gut darauf schlafen konnte. Wie lange war es her, seit er hier zusammen mit Vivienne erwacht war? Eine Woche, zehn Tage? Oder lag es noch weiter zurück? Jedenfalls viel zu lange. Während er mit dem Handtuch seinen Haarschopf trocknete, sah er vor seinem inneren Auge die Umrisse ihres Körpers unter dem dünnen Leintuch. Sie schliefen immer nackt. Vivi vertrat die These, dass ein Paar so viel besseren und vor allem häufiger Sex habe, als wenn man sich beim Einschlafen oder Erwachen erst von Pyjamas oder sonstiger Nachtbekleidung befreien musste. Sie hatten diese These zusammen gründlich überprüft und empirisch unwiderlegbar bestätigt. Morgens waren sie sich meist noch schlaftrunken in die Arme gefallen und hatten den neuen Tag mit Lust und Zärtlichkeit begrüßt.

      Tempi passati. Vor ein paar Tagen erst hatte ihm Vivienne in einer kurz gehaltenen WhatsApp-Nachricht mitgeteilt, sie fände es gut, wenn sie beide mal wieder eine Denkpause einlegen würden. Denkpause! Wenn er das Wort nur hörte! Seit gut zwei Jahren waren sie zusammen. Genauer gesagt: immer mal wieder zusammen und dann wieder nicht. Soviel Max wusste, nannte man so etwas heute eine „on-off-Beziehung“. Er hatte Vivienne noch in seiner Funktion als Kultur- und Gesellschaftsredakteur einer großen Regionalzeitung auf einer Podiumsveranstaltung kennengelernt. Sie war eine dieser modernen Influencerinnen mit eigenem Food-Blog und einem beruflich wie privat sehr intensiven Social-Media-Engagement. Sie waren sich auf Anhieb sympathisch gewesen. Nach der Veranstaltung hatte er sie spontan auf einen Drink eingeladen. Er vereinbarte ein Interview mit ihr, das er in seinen Themenbeitrag für die Wochenendbeilage einzubauen gedachte. Als sie sich nach einigen Tagen in einem Restaurant zum vereinbarten Gespräch trafen, führte eines zum andern, und der Abend endete für beide bei Max zu Hause im Bett.

      Seither waren sie zusammen. Manchmal tatsächlich und fast ebenso oft nur virtuell, weil sie oder er beruflich irgendwo unterwegs waren, oder weil sie sich mal wieder so eine „Denkpause“ gönnten. Max stellte nicht so hohe Ansprüche an eine Beziehung. Hauptsache, man mochte sich und hatte regelmäßig Sex. Doch gerade letzteres entwickelte sich zu Max‘ Bedauern nicht in die Richtung, die er sich wünschte. So hatte er sich über ihre Abwesenheiten immer mal wieder mit kurzen Affären hinweggetröstet. Vivienne bekam das zwar meist nicht mit. Aber da, wo sie es mit der vielen Frauen eigenen Intuition zumindest erahnen konnte, hatte das zu einer Steigerung von Kadenz und zeitlicher Ausdehnung der „Denkpausen“ geführt. Was wiederum Max‘ Frust vergrößerte.

      So hatte ihn Vivis Nachricht denn auch nicht überrascht. Und er ahnte, dass es diesmal nicht nur eine Pause sein würde. Zwar fand er es schade, mal wieder einen Schlussstrich ziehen zu müssen – je älter er wurde, desto mühsamer fand er den Aufbau einer neuen festeren Beziehung. Und mit Vivienne hatte er mehr als zwei Jahre seines Lebenswegs und viele gemeinsamen Erlebnisse und Gefühle geteilt. Sex mit ihr war immer leidenschaftlich gewesen. Darüber hinaus hatten sie allerdings wenig Gemeinsamkeiten. Nun musste er wohl wieder einmal von vorne beginnen, wenn er mit jemandem eine längerfristige Partnerschaft und damit ein Stück gemeinsames Leben aufbauen wollte.

      Er warf einen raschen Blick auf sein Handy, das er am vorigen Abend achtlos in die leere Früchteschale auf dem Tisch geworfen hatte. Das Display meldete einen verpassten Anruf vor etwas mehr als einer Stunde und signalisierte eine abzurufende Sprachmeldung. Die Nummer sagte ihm nichts, und er verspürte keine Lust, die wartende Meldung abzurufen. In seinem Kopf pochte es noch immer, als bearbeiteten Presslufthämmer seine Nerven von der Stirn bis zum Hinterkopf.

      Er legte das Handy zurück auf den Tisch und ging in die Küche, um sich einen ersten starken Kaffee zu genehmigen und eine Schmerztablette einzuwerfen. Er stürzte den Espresso mit zwei Schlucken hinunter und rief den Hund zur verspäteten Gassirunde im Klosterhof.

      Kapitel Drei

      Als er nach einer halben Stunde in seine Wohnung zurückkehrte, fühlte er sich etwas besser. Der Kaffee und die frische Morgenluft hatten seine Kopfschmerzen auf ein erträgliches Maß reduziert. Er richtete Whisky das Frühstück und gönnte sich einen weiteren Koffeinschub. Der Blick auf das Chaos von leeren Flaschen, zerbröselten Chipsresten, ungewaschenen Tellern mit eingetrocknetem Ketchup sowie überquellendem Aschenbecher ließen keine Zweifel zu, wo der Grund seines desolaten Zustands zu suchen war. Rotwein, Weißwein, eine halbvolle Flasche mit dem karibischen Rum vom letzten Urlaub und eine Batterie leerer Bierflaschen zeugten vom Gelage, das in der vorigen Nacht in seiner Wohnung stattgefunden hatte.

      Er trug die Flaschen in die Küche und fragte sich, wer das alles getrunken hatte. Es war gestern