Luca DiPorreta

EXTRA VERGINE


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Löwen im Klosterviertel verabredet. Während der ersten Stunden besprachen sie bei einigen Flaschen des malzigen Klosterbiers die aktuellen Ereignisse in der Stadt, und natürlich die immer schwierigere Situation der Presse im Allgemeinen und der Redaktion des Tagblatts, ihres langjährigen Arbeitgebers, im Besonderen.

      Als der Barkeeper nach Mitternacht mit der kleinen Glocke über dem Tresen die letzte Runde ankündigte und demonstrativ die Stühle hochzustellen begann, waren sie alle drei viel zu aufgekratzt, um an Heimkehr und Schlafen zu denken. So lud Max seine Zechkumpanen noch „auf einen Schluck“ zu sich ein. Sein kleines Appartement in einem der jahrhundertealten Häuser des Klosterbezirks lag nur wenige Schritte vom Goldenen Löwen entfernt.

      Für das Trio wurde es eine lange Nacht. Sie setzten ihr Trinkgelage zuerst mit Bier fort, bevor sie zum Wein übergingen. Berufsbedingt besaß Max einen mit sehr guten Tropfen gefüllten Weinschrank. Unter seinen wenigen Möbeln war der klimatisierte und mit unzähligem elektronischem Firlefanz versehene Weinschrank sein ganzer Stolz. Er konnte endlos über die sensorgesteuerte Temperatureinstellung und die Lagerungsoptionen des Möbels dozieren. Ganz zu schweigen von dem aus der Sicht eines unterbezahlten Redakteurs im Ressort Kultur sehr hochwertigen Inhalt. Wenn Max ein Weingut besuchte, über dessen Erzeugnisse er dann in seiner Zeitung berichtete, erhielt er stets Kartons und Kistchen der zu begutachtenden Produkte als „Arbeitsproben“ mit auf den Heimweg. Einen Teil davon verteilte er unter seinen Redaktionskollegen. Niemand brauchte allerdings zu wissen, dass er einige der erhaltenen Spirituosen und andere Feinkostgeschenke für den Eigengebrauch abzuzweigen pflegte. Diese Flaschen, Büchsen oder Kistchen nannte er bei sich „Testobjekte“. Sie füllten seinen Weinschrank und auch den Kühlschrank meist bis auf den letzten Liegeplatz.

      Im Lauf der Nacht hatten sie eine Flasche nach der anderen geöffnet. Max fragte gar nicht erst, wie seine beiden Kollegen später am bereits anbrechenden Tag ihre Redaktionsarbeiten erledigen wollten. Er war der Einzige des Trios, der seinen Rausch in den Tag hinein würde ausschlafen können. In seiner elektronischen Agenda war für den ganzen Tag kein einziger Termin eingetragen. Seitdem er nicht mehr Mitglied der Redaktion war, verliefen seine Tage weitgehend unstrukturiert und, wie er sich eingestehen musste, ziemlich langweilig.

      Als seine beiden Kumpels sich endlich auf den Heimweg gemacht und er die Jalousie in seinem Schlafzimmer geschlossen hatte, waren am Horizont schon die ersten blassen Streifen des anbrechenden Morgens zu erkennen gewesen. Er hatte sich in seinen verrauchten und mit Weinflecken bekleckerten Kleidern aufs Bett geworfen und war binnen weniger Sekunden eingeschlafen.

      Kapitel Vier

      Die bier- und weinselige Abschiedsfeier mit seinen bei-den Kollegen in der vergangenen Nacht hatte natürlich einen Grund, der allerdings schon einige Zeit zurücklag. An einem nebligen Wintermorgen vor einigen Monaten hatte der Chefredakteur ihn in sein Büro gerufen. Max hatte geahnt, dass das wohl nichts Gutes bedeutete. Solche überraschende Einbestellungen zum „Alten“ lösten bei jedem Mitarbeiter unmittelbar Puls- und Blutdruckerhöhungen aus, nach dem Motto: Ich weiß zwar nicht, was ich verbrochen habe, aber er wird schon wissen, was bei mir wieder schief gelaufen ist.

      Das Gespräch damals war ziemlich kurz ausgefallen. Sein Chef informierte ihn ohne lange Vorrede darüber, dass von den Herausgebern angesichts der unerfreulichen finanziellen Situation der Zeitung erneut ein hartes Sparprogramm angeordnet worden war. Dem müsse sich die ganze Redaktion unterziehen. Leider würde im neuen Organigramm dadurch auch seine Position als Redakteur und Ressortleiter wegfallen.

      Max hatte diese Ankündigung nicht überrascht. Gerüchte zu den bevorstehenden Veränderungen zirkulierten seit Tagen in den Redaktionsräumen. Schon bei der letzten großen Reorganisation vor einigen Jahren war das Budget von Max’ Abteilung zusammengestrichen und sein Team mit dem ebenfalls arg gebeutelten Ressort „Gesellschaft“ zusammengelegt worden. Als die neuerliche radikale Restrukturierung sich abzuzeichnen begann, hatte er sich zunächst wacker für seine Mitarbeiter und ihre Themen gewehrt. Er musste jedoch rasch erkennen, dass er auf verlorenem Posten stand. Im Kampf gegen die ebenfalls vom Rotstift bedrohten Ressorts „Wirtschaft und Politik“ hatte er mit seinen Themen kaum Trümpfe in der Hand. Und es war nachvollziehbar, dass bei der Fusion seines bisherigen Ressorts mit dem Ressort „Kultur“ nicht ihm, sondern einer fast zwanzig Jahre jüngeren Redaktorin die Verantwortung für das neue Gebilde übertragen wurde.

      Die Geschäftsleitung hatte ihm als altgedientem Kadermitglied der Zeitung einen Wechsel in die Onlineredaktion angeboten. Aber er machte sich keine Illusionen. Mit den über fünfzig Lenzen auf seinem inzwischen immer öfter etwas schmerzenden Buckel fühlte er, dass er zu alt war für diese neue elektronische Welt, in der es immer weniger um fundierte Analysen und profilierte Meinungen als um skalierbare „Breaking News“ ging. Einer wie er mit seinem langjährigen analogen Denken und Schreiben war da fehl am Platz. Und für ein Gnadenbrot irgendwo in einer Ecke der neuen digitalen Welt war er sich zu schade. Dass die jungen, smarten Journalisten, die man für die Online-Projekte eingestellt hatte, dies genauso sahen, machten ihm die wenigen Konzeptbesprechungen, an denen er höflichkeitshalber noch teilnahm, unmissverständlich klar.

      So hatte ihn die Zeitung, für die er gut dreissig Jahre als Mitglied der Redaktion gearbeitet hatte, schließlich vor ein paar Monaten „mit großem Bedauern“ freigestellt. Das gestrige Gelage war eine etwas verspätete Abschiedsparty mit ehemaligen Arbeitskollegen gewesen, die sich in der laufenden Sparübung gerade noch einmal hatten retten können. Was, wie ihnen allen klar war, wohl lediglich ein vorläufiger Sieg war.

      Nach dem Gespräch mit dem Chef hatte er sich für eine Woche abgemeldet. Er brauchte ein wenig Zeit in einer anderen Umgebung, um den Kopf wieder freizubekommen und über sein weiteres berufliches Leben nachzudenken.

      Er wusste, dass er ein fähiger Journalist war, der sein Handwerk beherrschte. Deshalb war er zuversichtlich, rasch einen neuen Job zu finden. Doch je länger er über seine veränderte Situation nachdachte, desto mehr begann er zu hinterfragen, ob er das überhaupt wollte. Er war jetzt Mitte fünfzig. Mit seinem unfreiwilligen Abgang aus der geschützten Werkstatt einer regionalen Redaktion bot sich ihm die vielleicht letzte Gelegenheit, aus dem engen Korsett der Redaktionsarbeit auszubrechen und sein berufliches Leben nochmals neu auszurichten.

      Warum nicht endlich den Traum des unabhängigen, freien Journalisten verwirklichen, der nach eigenen Vorgaben und Interessen Reportagen und Fachbeiträge verfasst und diese den Redaktionen anbietet? Oder als Freelancer diejenigen Aufträge anzunehmen, die ihn wirklich interessierten? Freiheit und Unabhängigkeit waren ihm immer wichtig gewesen. Aber wie das Leben so spielt, war er nach einem Volontariat eben doch in der Redaktion einer Regionalzeitung gelandet. Er hatte viel zu früh geheiratet, die Frau brachte ein kleines Kind aus einer anderen Beziehung mit in die Ehe, und plötzlich sah er sich in der Verantwortung, regelmäßig Geld für eine Familie zu verdienen. Ein gutes und vor allem zuverlässig auf seinem Konto eintreffendes Salär kaufte ihm seine Freiheitsträume ab. Und mit den Jahren ließen Routine und institutionelle Zwänge einer von vielen Seiten unter Druck stehenden Redaktion seine Jugendträume unmerklich in Vergessenheit geraten.

      Die Freistellung zeigte ihm zu seiner Überraschung, dass diese Träume doch noch irgendwo in seinem Innern schlummerten. Er spürte, etwas war vorbei und würde in dieser Art nie wiederkommen. Ein Kapitel im Buch seines Lebens war abgeschlossen. Doch die Seite zu einem neuen Kapitel war schon aufgeschlagen. Jung war er nicht mehr, das stimmte. Aber auch noch nicht zu alt, um nochmals etwas Neues zu beginnen.

      Jetzt oder nie! Es war das wohl letzte Mal in seinem Berufsleben, dass er so eine Wahl hatte.

      Kapitel Fünf

      Die Abendsonne tauchte die Hafenanlagen von Gioia Tauro für ein paar Minuten in ein warmes Licht, bis der Sonnenuntergang die Industriezone in eine blaugraue Stahllandschaft aus riesigen Kränen und Containerbergen verwandelte. Einzig die Blumenkohlwolken am Horizont leuchteten noch eine Zeit lang in rasch wechselnden Schattierungen von Orange über Rot bis hin zu fast kitschig anmutenden violetten Pastelltönen. Im ruhigen Meer vor dem Hafen begannen die Positionslichter der langen Kette von Schiffen zu blinken, die auf ihre