Luca DiPorreta

EXTRA VERGINE


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Ende der Terrasse blickte ein weiterer Gast kurz über den Rand seiner Morgenzeitung. Er reagierte nicht auf das grüßende Nicken von Max und verschwand sogleich wieder hinter dem rosaroten Papier der Gazzetta dello Sport.

      Max setzte sich an einen freien Tisch im Schatten eines mächtigen Maulbeerbaums. Er lehnte sich im mit weichen Kissen gepolsterten Klappstuhl zurück und atmete tief durch. Absichtlich hatte er keine der im Frühstücksraum aufliegenden Tageszeitungen mitgenommen. Denn er wusste, dass ihn wie jedes Mal der phantastische Ausblick von der Terrasse über die toskanischen Hügel und die sich bis zum Horizont hinziehenden Weinberge und Olivenhaine gefangen nehmen würde.

      Die alte Villa stand inmitten eines großen Weinbergs, der sich vor und hinter dem Haus den Hang des Monte Luco entlang zog. Etwas vom Haus entfernt gingen die akkurat ausgerichteten Reihen der Rebstöcke in große Olivenhaine über. Lange Reihen von Zypressen begrenzten das dunkle Grün der Weinreben, an denen bei genauem Hinsehen die dunkelblauen, fast schon reifen Traubenbeeren zu erkennen waren. Weiter unten ragten die Mauern des mittelalterlichen Dörfchens San Gusmé wie eine Insel aus dem Flickenteppich der Wein- und Olivenpflanzungen. Die Befestigungsmauern mit den in sie integrierten Hausfassaden erzählten von vergangenen turbulenten Zeiten. Ein Natursträßchen führte rechtwinklig von der Passstraße zur wenige hundert Meter entfernten Casacchia ab. Zwei hohe Zypressen mit mächtigen Stämmen markierten die Einfahrt. Hätte ein Maler ein kitschiges Bild seiner Vorstellung der Toskana malen müssen, es hätte genauso aussehen können wie dieser Ausblick von der Terrasse.

      Max hatte sich kaum an seinen Frühstückstisch gesetzt, da kam auch schon Alessia, das langjährige Faktotum des Hauses, zu seinem Tisch. Sie brachte ihm ungefragt seinen ersten Espresso, zusammen mit einem Brotkörbchen, Butter und Konfitüre, und begrüßte ihn mit einem lauten

      „Non e vero! Il signore Max!“

      „Buon giorno, Alessia!“

      Er schüttelte in gespieltem Unglauben den Kopf.

      „Incredibile! Sie sehen jedes Mal, wenn wir uns sehen, noch besser aus! Jetzt verraten Sie mir endlich, was Sie tun, um einfach nicht älter zu werden!“

      Max war aufgestanden und umarmte sie herzlich. Alessia war schon im Hotel gewesen, als er in kurzen Hosen in den Sommerferien mit seinen Eltern manchmal hier einen Zwischenstopp auf der langen Fahrt einlegten, ehe sie am nächsten Tag in die gemietete Wohnung ans Meer weiterfuhren. Sie war ihm damals schon uralt erschienen.

      Alessia erwiderte die Umarmung und brummte in ihrem toskanischen Italienisch, er solle nicht zu dick auftragen, wenn er nicht seine Glaubwürdigkeit verlieren wolle. Aber sie reagierte mit einem kurzen Lächeln, und er spürte, dass sein Kompliment sie freute.

      Max wusste, dass man in Italien keinen Wert auf ein üppiges Frühstück legte. Dafür wird dann beim Pranzo, dem Mittagessen, umso ausgiebiger getafelt. Viele Hotels und Gasthäuser hatten sich jedoch in den vergangenen Jahren auf die Gepflogenheiten der Touristen aus dem Norden eingestellt und brachten auf Bestellung jedem das, was er zu seinem Frühstück vorzufinden gewohnt war.

      Auch er war morgens kein großer Esser. Meist ließ er es bei einigen Espressi aus der Maschine bewenden, die er in kleinen Schlucken hinunterstürzte. Heute jedoch hatte er Hunger.

      „Alessia, gibt’s noch die phantastische Omelette, die wir früher immer bestellt haben? Die ‚con tutto’, Sie wissen schon? So etwas wäre jetzt genau richtig für mich.“

      Damit hatte Max sie endgültig gewonnen. Er wusste, dass Alessia diese Köstlichkeit selbst zubereitete. Seit sie aber mit zunehmendem Alter ihre Gelenke immer stärker spürte und nicht mehr so gerne hinter dem Herd stand, gab’s die Leckerei nur auf ausdrücklichen Wunsch und auch dann nur für spezielle Gäste. Max war so ein spezieller Gast, und wenig später konnte er die Omelette genießen, die Alessia ihm zubereitet hatte und mit unverhohlenem Stolz servierte.

      Kapitel Zehn

      Max war schon beim zweiten Espresso, als er Leonardo auf die Terrasse treten sah, der mit einem Cappuccino in der Hand sogleich zu Max hinüber kam.

      Leonardo war für einen Italiener von beeindruckender Körpergröße. Mit seinen schlohweißen Haaren und dem von der Sonne gegerbten Gesicht war er eine imposante Erscheinung. Max wusste, dass er der letzte entfernte Angehörige der jahrhundertalten Guelfi-Familie war. Zusammen mit seiner Frau Maria führte er das kleine Hotel in dem alten Gutshaus, das er von seinem Vater übernommen hatte. Die beiden hatten sich damit abgefunden, dass sie keine Nachkommen haben würden, und deshalb schon vor vielen Jahren die zum Familienbesitz gehörenden Rebberge und Olivenhaine verkauft. Zum Haus gehörte nur noch ein großer Hain, der sich hinter dem Haus den Hügel hinauf zog.

      Max und Leonardo plauderten ein wenig über den Lauf der Welt, die Kapriolen der italienischen Politik und die wichtigsten Ereignisse aus ihrem eigenen Leben, die sich seit ihrem letzten Treffen ereignet hatten. Max erzählte, dass er nicht mehr bei der Zeitung angestellt sei und nun als freier Journalist arbeite. Und dass er einen Auftrag für eine längere Reportage zum Thema Oliven und Olivenöl erhalten habe.

      „Vielleicht kannst du mir bei meiner Recherche etwas weiterhelfen. Ich verstehe nicht viel von Oliven oder Olivenöl und suche Kontakt zu Leuten, die mir meine Fragen beantworten können.“

      Leonardo nickte. „Was interessiert dich denn besonders?“

      „Nun, ich muss mich erst ins Thema einarbeiten,“ erwiderte Max. „Gibt es jemanden hier in der Umgebung, bei dem ich so etwas wie einen ‚Crashkurs Oliven’ absolvieren könnte? Oder gibt es ein Olivengut, das man besuchen kann und wo man sieht, wie Olivenöl hergestellt wird?“

      Leonardo nippte an seinem Kaffee und schien kurz nachzudenken.

      „Du solltest mit Julia sprechen“, meinte er schließlich. „Sie hat selbst ein sehr schönes Olivengut, einige Kilometer von hier. Seit vor vielen Jahren ihr Mann gestorben ist, führt sie das Landgut alleine. Es ist eines der wenigen hier im Chianti, das nicht primär Wein produziert und Olivenöl nur als Nebenprodukt herstellt. Sie macht ausschließlich Olivenöl und andere Olivenprodukte.“

      „Genau, was ich suche!“ rief Max begeistert. „Kannst du mir den Kontakt vermitteln?“

      „Sicher. Ich rufe sie nachher an und frage, ob du dich mit ihr treffen kannst. Du wirst sehen, sie ist eine charmante Person. Und ein absoluter Profi in Sachen Oliven und Olivenöl. Viele Restaurants im ganzen Chianti kochen mit ihrem Öl.“

      Dann hatte er noch eine andere Anregung für Max.

      „Nicht weit von ihrem Gut entfernt liegt die bekannte Fattoria San Vicente, von der du vielleicht schon gehört hast. Das Landgut ist einer der größten Produzenten von Olivenöl in der Toskana. Ihr ‚San Vicente Extra Vergine‘ wird in die ganze Welt exportiert. Sie haben auch eine informative Website, die du dir anschauen solltest.“

      Max machte sich ein paar Notizen.

      „Das werde ich gleich abklären!“

      „Soviel ich weiß“, ergänzte Leonardo, „bieten sie auf San Vicente für Besucher bis zur Olivenernte regelmäßig Führungen durch ihre Olivenhaine und Produktionshallen an.“

      Er blickte auf seine Uhr und erhob sich wieder.

      „Ich muss im Büro noch einigen Papierkram erledigen. Bitte entschuldige mich. Wir sehen uns später.“

      Als Leonardo nach einer knappen Stunde auf die Terrasse zurückkehrte, fand er Max in den Corriere vertieft. Er setzte sich erneut neben ihn an den Frühstückstisch.

      „Ich habe Julia erreicht und ihr von dir erzählt“, berichtete er. „Sie ist gerne zu einem Gespräch bereit. Morgen ist sie auf dem Markt. Sie hat dort einen festen Standplatz, gleich bei der Bar Centrale, wo sie ihr Olivenöl und andere Produkte aus ihren Pflanzungen anbietet.“

      Er nahm eine Papierserviette vom Tisch und kritzelte eine Telefonnummer darauf.

      „Ihre Handynummer. Aber vielleicht schaust du morgen