Torsten Thiele

Die Legende der Alten


Скачать книгу

      Die Legende der Alten

      Teil 1

      Erwachen

      Copyright © 2013 Torsten Thiele

      Danksagung

      Vielen Dank an meine Testleser, Antje, Birgit, Doro und Sigi. Die Diskussionen mit euch haben mich stets motiviert, eure Anregungen und Kritik mir sehr geholfen. Und ohne eure teils ungeduldige Nachfragen nach neuen Kapiteln, wäre dieses Buch vielleicht nie fertig geworden.

      Verheißung

      Kann es eine bessere Welt geben? Eine Welt, in der die Sehnsüchte der Menschheit erfüllt sind, in der jeder sein Glück findet? Eine Welt ohne Gewalt, ohne Hunger? Eine Welt, in der Krankheiten besiegt sind, ja selbst der Tod? Das muss eine wahrlich grandiose Welt sein. Je tiefer jemand im Dreck unserer heutigen Zeit steckt, desto sehnlicher wünscht er sich diese Welt herbei. Jene hoffen, beten, bitten und betteln zu den Alten. Sie mögen zurückkommen, ihnen diese Welt bringen. Hoffnung, oft ist es das einzige, das sie am Leben erhält. Es sind die Ärmsten der Armen, die, denen es an allem mangelt, selbst an Würde. Unter ihnen ist die Sehnsucht am stärksten, sie haben nichts zu verlieren.

      Es sind die Legenden der Alten, die man sich in schäbigen Kaschemmen erzählt. Zu jener Zeit, so sagt man, lebten die Menschen in Städten, so groß, dass man sie an einem Tag nicht durchwandern konnte. Die Häuser der Alten ragten bis in den Himmel und glänzten in der Sonne. Und in der Nacht leuchteten die Städte, so, als sei die Sonne niemals untergegangen. Manche behaupten sogar, die Alten konnten fliegen, durch die Lüfte schweben, wie die Vögel, von einer Stadt zur anderen. Sonderbare Geräte nahmen den Alten die Arbeit ab, noch heute findet der, der sich traut, einige davon in den Ruinen. Keiner weiß, wie sie funktionieren. Dennoch sind sie ein Vermögen wert. Sie müssen reich gewesen sein, die Alten. Vielleicht mussten sie auch deshalb nicht mehr arbeiten, so wie die Beseelten heute. Doch irgendwer muss die Arbeit getan haben und da die Legenden keine armen Menschen erwähnen – zur Zeit der Alten war jeder beseelt –, bleiben nur die Geräte. Die Beseelten behaupten, die Alten seien bessere Menschen gewesen, und dass sie, die Beseelten, das Erbe der Alten in sich trügen. Das erhebt sie über alle anderen. Bei den Alten war niemand der Herr über den anderen. Es gab auch immer genug zu essen, für jeden, selbst im Winter. Und die Häuser waren warm, auch ohne Feuer. Kein Wunder, dass die Alten nicht krank wurden. Die Legenden sprechen davon, dass die Alten niemals starben, sie hatten das ewige Leben entdeckt. Wahrscheinlich nennen wir sie deshalb die Alten, vielleicht aber auch, weil das alles so unendlich lange her ist. Die Alten hatten den Hunger besiegt, die Alten hatten die Krankheiten besiegt, die Alten hatten den Tod besiegt. Aber niemand fragt sich, warum sie dann nicht mehr da sind.

      Heute werden die Alten Götter genannt, die Priester bringen ihnen Opfer dar. Die Alten werden zurückkehren, versprechen die Priester, und mit ihnen diese bessere Welt.

      Nur ein Kind

      Großwesir Houst streifte mit einigen Wachen durch das Armenviertel der Stadt. Es war Herbst, der Himmel bedeckt und es regnete leicht. Nach der unbarmherzig brennenden Sonne des Sommers eine Wohltat, endlich konnte man wieder ohne den lästigen Gesichtsschal nach draußen. Wie immer blieb sein Blick an jeder Frau, jedem Mädchen hängen, dass ihm begegnete. Jetzt da die meisten nicht mehr verhüllt waren, konnte er ihre Gesichter sehen. Deswegen war er hier, das war seine Aufgabe. Er hielt Ausschau nach den jungen, den unverbrauchten, nach jenen, die gerade die Schwelle zum Erwachsensein überschritten hatten. Seinem geübten Auge entging dabei keine noch so versteckte Blüte, Schmutz und zerlumpte Kleidung täuschten ihn nicht. Wie immer würde er jedem Mädchen, das seinen hohen Ansprüchen gerecht wurde, ein in ihren Augen generöses finanzielles Angebot unterbreiten. Dafür mussten sie sich lediglich bereit erklären, auf einem Ball im Palast zu tanzen. Sie würden gewaschen, frisiert und bekämen ein hübsches Kleid. Man brachte ihnen sogar das Tanzen bei. Letztlich landeten die Mädchen aber in den Betten der ausschließlich männlichen Ballgäste. Housts Bruder, der König, belohnte mit ihnen verdiente Beseelte und sicherte sich deren Loyalität. Und obwohl sich Houst mehr oder minder klar ausdrückte, wussten die wenigsten der jungen Frauen, was sie erwartete. Sein Angebot wurde niemals abgelehnt. Jede Frau hatte ihren Preis, hier im Armenviertel war dieser nicht sehr hoch. Einige würden Houst sicher auch für das Versprechen einer warmen Mahlzeit begleiten. Doch Houst war ein gerechter Mann, zehn Silberlinge waren das Mindeste, das jedes der Mädchen bekam, und natürlich die Aussicht auf eine dauerhafte Anstellung innerhalb der Palastmauern. Die besonders Kecken konnten aber auch den fünffachen Preis herausschlagen. Sie versprachen beim Ball einen besonderen Unterhaltungswert.

      Housts Blick blieb an einer Frau hängen, die ihm entgegen kam. Ihr Gesicht war mager, die Wangen eingefallen, das rechte Auge blau unterlaufen. Sicher ein Andenken an den letzten Streit mit ihrem Mann. Auf dem Ball würde sie nicht mehr tanzen, dafür war sie zu alt. Dennoch blieb Houst stehen, beobachtete sie, wartete. Sie kam ihm irgendwie bekannt vor. Vielleicht hatte er sie einst angeworben, vor ein paar Jahren, als sie noch in der Blüte ihrer Jugend stand. Houst überkam oft ein beklemmendes Gefühl, wenn er diesen Frauen wieder begegnete. Jene, die nach dem Ball nicht im Palast unterkamen – und das waren die meisten von ihnen – landeten wieder hier im Armenviertel. Die Frau hielt einen kleinen Jungen an der Hand, Houst erinnerte der Junge an den alten Chak. Chak war sein Mentor, ein verdienter Forscher jenseits seiner besten Jahre, der regelmäßig an den Bällen teilnahm, sich dabei aber immer derart betrank, dass er von den Mädchen nichts hatte. Die Frau blieb direkt vor Houst stehen. Verächtlich verzog sie den Mund. Plötzlich spuckte sie Houst ins Gesicht. Zwei Wachen traten nach vorn, doch Houst hielt sie zurück. Die Frau ging weiter, ohne ein Wort zu sagen. Der kleine Junge blickte sich um, während ihn seine Mutter hinter sich her zerrte. Houst wischte sich mit einem Tuch die Spucke aus dem Gesicht und schaute ihr nach, bis sie hinter der nächsten Straßenbiegung verschwand.

      ***

      „Wie immer vertieft in ein Puzzel aus Papierschnipseln. Ich werde nie verstehen, wie Ihr euch den ganzen Tag nur mit diesen Schriften aus der Zeit der Alten beschäftigen könnt. Mich langweilt das zutiefst. Viel lieber probiere ich die technischen Gerätschaften aus, die uns die Alten hinterlassen haben. Manche davon bringen zumindest einen Nutzen“, sagte Großwesir Houst als er in das Studierzimmer seines alten Mentors Chak eintrat.

      Chak blickte von seinem Schreibtisch auf, seine Brille drohte ihm jeden Augenblick von der Nasenspitze zu rutschen. Er lächelte Houst entgegen.

      „Ah, mein Schüler beehrt mich wieder einmal mit einem Besuch. Seit Ihr zum Großwesir aufgestiegen seid, macht Ihr euch ziemlich rar. Keine Zeit mehr für die Forschung? Und was meine Schriften angeht, wie oft seid Ihr – zumindest früher – schon zu mir gekommen, mit der Bitte, doch einmal in ebendiesen Schriften etwas über die Funktionsweise eines Eurer ach so nützlichen Geräte herauszufinden? Es gibt also keinen Grund, derart verächtlich auf die angeblich langweiligen Aufzeichnungen der Alten herab zu schauen. Sicher, sie erwachen nicht plötzlich zum Leben wie so manch eines der Geräte, aber ohne sie würde doch keiner von Euch Praktikern auch nur die einfachste dieser Maschinen verstehen. Im Übrigen habe ich eben einen sehr interessanten Artikel fertig übersetzt. Wollt Ihr ihn lesen?“, sagte Chak.

      „Nun, Ihr lasst mich ja doch nicht wieder gehen, bevor ich diesen Artikel nicht gelesen habe. Also zeigt her“, entgegnete Houst und ging zu dem älteren Mann hinüber.

      Angesichts der immer größer werdenden Energieknappheit plant die Europäische Weltraumorganisation ESA, in Zusammenarbeit mit einem Konsortium der größten europäischen Energiekonzerne, die Entwicklung und den Bau eines im Orbit stationierten Sonnenkraftwerks. Das Kraftwerk soll die gigantische Leistung von 10 TW haben, mehr als genug Energie, um ganz Europa mit Strom zu versorgen. Allein die Größe der Basisstation stellt alle bisherigen Raumstationen in den Schatten. Riesige Sonnensegel werden die Energie der Sonne 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr einsammeln, ohne jemals von Wolken verdeckt zu werden. Befürchtungen, die Sonnensegel könnten die Sonneneinstrahlung auf der Erde verringern und so das Klima beeinflussen, entkräften die Wissenschaftler. Die Sonnensegel werden stets neben der Erde stehen, also nie ihren Schatten auf die Erde werfen, so heißt es in der Mitteilung der ESA. Wann das Kraftwerk fertig sein soll, steht noch nicht fest, ebenso wenig die Kosten. Angesichts der derzeit