Torsten Thiele

Die Legende der Alten


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sorgenvoll. Kex fragte sich, ob es der erste Besuch dieses Händlers in der Stadt war. Jeder wusste, dass die Wachen niemanden ohne Wegzoll einließen. Konnte oder wollte jemand nicht zahlen, bedienten sie sich bei seinen Waren. Fanden sie dort nichts, jagten sie den armen Narren einfach davon. Erst wenn ihre Börsen bereits gut gefüllt waren und das Wachhaus schier überquoll, zeigten sie sich milder. Wer nicht viel hatte, ließ anderen also gern den Vortritt. Allerdings war der Marktplatz begrenzt und wer zuerst kam, besetzte die aussichtsreichsten Plätze, dort, wo die Diener der Beseelten einkauften, oder manchmal sogar die Beseelten selbst flanierten. Die Letzten, die in die Stadt eingelassen wurden, konnten ihre Waren höchstens noch in einer der schäbigen Seitengassen feilbieten. Dort zahlte so mancher Kunde eher mit den Fäusten, oder schlimmer noch, mit Messerstichen, denn mit Geld. Insofern schienen ein paar Kupferlinge mehr für die Torwachen gut angelegt, wenn sie einen dafür nur früh genug einließen.

      Wie immer unternahmen die Wachen nicht einmal den Versuch, Kex aufzuhalten. Zu oft schon hatten sie sich zum Gespött der halben Stadt gemacht, als sie hinter ihm her hetzten und über allerlei Hindernisse stolperten, die Kex mühelos vermied. Ihre fettgefressenen Bäuche schwabbelten dabei lustig über ihre Hosen. Jedes Mal hatten sie aufgegeben, ihre hübschen Uniformen verdreckt und zerrissen. Nicht umsonst nannten die anderen Kex Wiesel. Diesen Spitznamen hatte er sich redlich verdient. Mittlerweile quetschten die Wachen nur noch ein kurzes „Verschwinde!“ zwischen den Zähnen hervor und widmeten sich dann wieder ihrer lukrativeren Klientel. Esrin konnte nicht davonlaufen, zahlen musste aber auch er nicht. Welche Abmachung Esrin mit den Wachen getroffen hatte, konnte Kex bisher noch nicht herausfinden. Geheimnisse zu bewahren, zählte zu Esrins herausragenden Fähigkeiten.

      Die anderen Jungen der Bande lungerten schon in einer Ecke des Marktplatzes herum. Scheinbar gelangweilt beobachten sie die Ankunft der Händler. Insgeheim schmiedeten sie aber sicher bereits Pläne, wie sie jeden einzelnen um einige Kupferlinge erleichtern konnten. Ein Gesicht kannte Kex noch nicht, ein kleiner Junge, wohl kaum einmal zehn Jahre alt. Er musste neu sein.

      „Wer ist der Knirps? Der kommt doch kaum an den Hosenbund heran, so klein wie er ist“, fragte Kex.

      „Er erfüllt seinen Zweck. Hoher Besuch ist heute angesagt, meine Quellen berichten von einer Beseelten samt Gefolge. Ich und der Kleine werden sie für euch ablenken, diese schüchternen Kinderaugen werden ihre Wirkung auch bei der Beseelten nicht verfehlen. Ich habe ihn extra dafür gekauft. Kümmer du dich mit den anderen gefälligst darum, dass den Herrschaften der Hosenbund etwas leichter wird. Sonst ziehe ich den Kaufpreis für den Balg von eurem Anteil ab“, raunzte Esrin.

      „Das tust du doch sowieso“, erwiderte Kex.

      Er biss die Zähne zusammen, als er zur Antwort Esrins Krücke im Rücken spürte. Betont gelassen schlenderte er zu den anderen Jungen hinüber, Esrin blieb zurück, er zeigte sich nie mit der ganzen Bande zusammen. Der kleine Junge trat schüchtern einen Schritt zur Seite, musterte Kex aber immer wieder verstohlen.

      „Esrin will, dass wir uns um eine Beseelte kümmern“, sagte Kex.

      „Die haben jede Menge Wachen dabei. Ich bin nicht scharf auf die Grube. Soll der alte Drecksack sie doch selber beklauen!“, monierte Bartar.

      Er war ein stämmiger, großgewachsener Junge, überragte Kex und die anderen um mindestens einen halben Kopf. Die ersten Anzeichen eines Bartes zierten bereits sein Gesicht. Ein Ereignis, auf das Kex bei sich selbst bisher vergebens wartete. Dabei war er nur ein halbes Jahr jünger als Bartar. Bartar beschwerte sich oft, solange Esrin nicht in der Nähe war, tat aber immer wie ihm geheißen. Und obwohl alle zumindest ein bisschen Angst vor ihm hatten, respektierten ihn nur wenige und wohl kaum einer traute ihm. Das lag vor allem daran, dass er Esrin in dessen Gegenwart geradezu in den Hintern kroch. Keiner der Jungen hatte Lust, von Esrin verprügelt zu werden, nur weil Bartar seinem Meister alle Neuigkeiten aus der Bande zutrug. Stattdessen hatte die Bande Kex als Anführer auserkoren, Bartar beschwerte sich darüber nicht. Immer wenn Kex an seinen Rücken dachte, so wie jetzt, da der dumpfe Schmerz gerade erst abklang, hielt er Bartar für klüger als sich selbst.

      „Der Neue soll sie ablenken. Wie heißt du?“, fragte Kex.

      „Ich?“, stammelte der kleine Junge und schaute sich dabei um, in der Hoffnung hinter ihm stünde noch jemand, der an seiner statt gemeint sein könnte. Aber da stand niemand.

      „Mein Name ist Lasikosa.“

      Einige der anderen Jungen kicherten unverhohlen. Auch Kex konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

      „Wer hat dir denn diesen bescheuerten Namen gegeben? Wir nennen dich am besten nur Kos“, entschied Kex.

      Der Junge zog den Kopf zwischen die Schultern und nickte nur. Kex fragte sich, wie Kos in die Hände von Esrin geraten war. Viel tiefer konnte man nicht mehr sinken, eine Karriere als Dieb und Bettler. Früher oder später würden ihn die Wachen erwischen, vielleicht schon heute. Dann endete das Leben in der Grube. Von Bestien bei lebendigem Leib zerrissen, so erzählte man es sich zumindest in den Tavernen. Kein schöner Tod. Nur die Kinder in den Minen waren noch schlimmer dran, sie sahen kaum das Sonnenlicht. Obwohl, damit bekamen sie auch keine Sonnenkrankheit. Kex wischte diesen Gedanken beiseite. Solange er die Dinge nur richtig anpackte, musste niemand in die Grube, zumindest nicht heute.

      ***

      Prinzessin Nomo hatte ihr schönstes Kleid angezogen, schließlich durfte sie zum ersten Mal in die Stadt auf den Markt. Schon von Kindes an faszinierte sie das Treiben auf den Straßen. Sie saß bisweilen stundenlang vor dem kleinen Fenster im Turm, von dem aus man über die Mauer des Palastbezirkes sehen konnte. Heute würde sie Teil dieses Treibens sein, sie war fürchterlich aufgeregt. Nach jahrelangem Betteln hatte Nomos Mutter diesem Ausflug endlich zugestimmt. Vielleicht beruhigte es ihre Mutter, dass Kirai Nomo begleitete. In letzter Zeit drängte er sich förmlich in Nomos Leben, wo sie war, konnte Kirai nicht weit sein. Kirai war durchaus ansehnlich, stolz, er gab sich öffentlich stets charmant, und so wie bei den meisten anderen Mädchen, hatte dies auch Nomos Herz die ersten Begegnungen schneller schlagen lassen, ihr die Stimme versagt. Doch wenige Treffen hatten Kirai entzaubert, Nomos Aufregung sich schnell gelegt. Er sprach selten mit ihr, nach einigen überschwänglichen Komplimenten bei der Begrüßung – insbesondere wenn ihre Mutter anwesend war – ignorierte er sie zumeist völlig. Ausgiebig unterhielt sich Kirai nur mit anderen Beseelten. Oder, waren keine Beseelten außer ihr anwesend, kommandierte er die Dienerschaft umher. Nomo hielt Kirai deswegen für ausgesprochen eingebildet, aber wenn er ihr zu diesem einmaligen Ausflug verhalf, würde sie seine Gesellschaft auch heute ertragen. Sicher gab es auf dem Markt genügend Ablenkung.

      Als sich das Palasttor öffnete, zögerte Nomo für einen Moment. Dann holte sie noch einmal tief Luft und schritt hindurch. Zwei Diener liefen rückwärts vor ihr her und fächerten ihr mit großen Palmenwedeln Luft zu. Mit heftigen Armbewegungen scheuchte Nomo sie davon, der riesige, über sie gehaltene Sonnenschirm war schon auffällig genug. Am liebsten hätte sie auch diesen im Palast gelassen. Aber ohne seinen Schatten riskierte man die Sonnenkrankheit. Auch die Beseelten waren davor nicht gefeit und Nomos dünne Schleier schützten nicht genug. Neben ihr lief Kirai, er nickte ihr kurz zu, sein Blick war leicht verächtlich. Dafür mochte Nomo das Sonnenlicht, die meisten Gesichter waren verhüllt, nur die Augen waren noch zu sehen. Die Augen ersetzten die Mimik, nur wenige konnten mit ihren Augen lügen. Für einen geübten Betrachter – und Nomo war geübt – ließen die Augen wenig Raum für Fehlinterpretationen.

      „Manche Beseelte erzählen immer, wie toll doch die Stadt sei. Aber wie Ihr bemerkt, die Sonne brennt hier noch schlimmer als im Palastgarten und die Straßen sind staubig. Man muss es nur einmal gesehen haben und hat für ein Leben genug“, sagte Kirai.

      „Ich mag es!“, antwortete Nomo.

      Sie hatte die Augen weit aufgerissen, wendete den Kopf neugierig mal in die eine, mal in die andere Richtung. Hinter ihr setzte sich ein ganzer Tross aus Dienern und Wachen in Bewegung. Ihre Augen blickten finster aus dem schmalen Spalt, den ihre Gesichtsschals frei ließen. Anscheinend freute sich außer Nomo niemand auf diesen Ausflug. Nomo hatte darauf bestanden, zu Fuß zu gehen, schließlich sollten sich die Beseelten nicht über die einfachen Menschen erheben. Im Gegensatz