Torsten Thiele

Die Legende der Alten


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Alten wollten das Licht der Sonne einfangen“, begann Chak aufgeregt, „Wenn es ihnen gelungen ist, schweben vielleicht heute noch die Geräte weit oben am Himmel. Sicher gibt es darüber noch weitere Aufzeichnungen, und ich werde sie finden.“

      „Meint Ihr nicht, dass ein solches Gerät, wenn es denn je eines gegeben hat, längst vom Himmel gefallen sein müsste? Wie lange könnt Ihr einen Stein in der Luft schweben lassen, bevor er zu Boden fällt?“, entgegnete Houst und zog dabei die Augenbrauen zusammen.

      „Ich habe Euch doch wohl nicht zu einem kleingeistigen Skeptiker ausgebildet. Jeder Mann, selbst ein so alter wie ich, braucht seine Visionen und Ziele. Ohne eine Aufgabe wird das Leben doch fad“, sagte Chak.

      „Nun, wenn es Euch um eine Aufgabe geht, dann hätte ich vielleicht eine. Ich bin heute einem Jungen im Armenviertel begegnet, der Euch wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Und seine Mutter war bei einem unserer Bälle. Ihr habt nicht zufällig einen Sohn gezeugt?“, sagte Houst.

      „Ein Junge, sagt Ihr… Und er könnte tatsächlich mein Sohn sein… Meine Frau hat mir all die Jahre nie ein Kind geboren. Das… Ich muss ihn sehen! Wo lebt er? Könnt Ihr mich zu ihm bringen. Diskret, so, dass es meine Frau nicht bemerkt natürlich“, stammelte Chak.

      „Natürlich kann ich Euch zu ihm bringen“, antwortete Houst.

      ***

      Kex spielte still in einer Ecke des Zimmers. Solange er keinen Lärm machte, würde ihn sein Vater übersehen. Der saß am Tisch, einen Krug Bier in den Händen und döste vor sich hin. Jemand donnerte mit der Faust kräftig an die Tür. Kex hielt inne und blickte auf.

      „Die Tür ist offen!“, brüllte sein Vater.

      Manchmal glaubte Kex, sein Vater sei mit dem Stuhl verwachsen. Kex Vater bewegte sich nicht gern, eine alte Verletzung an der Hüfte hinderte ihn daran. Wenn er es doch einmal tat, bedeutete es meist nichts Gutes, für Kex Mutter und auch für Kex selbst. Die Tür wurde aufgerissen und zwei Männer in Uniform traten ein. Kex Vater schaute kurz auf.

      „Ah, mein alter Hauptmann kommt mich wieder einmal besuchen. Lust auf ein kleines Spielchen? Der Einsatz ist wie immer“, begrüßte er die Männer.

      Die beiden Uniformierten setzten sich an den Tisch. Einer der Beiden stellte einen Becher ab, darin klapperten einige Würfel. Dann ließ er noch ein paar Kupferlinge auf die Tischplatte klimpern.

      „Einsatz wie immer“, sagte er, „Aber müssen wir mit trockener Kehle spielen?“

      „Weib… Weib, verdammt noch mal, wo bleibst du? Bring Bier, ich habe Gäste!“, brüllte Kex Vater.

      Die Tür zur Küche ging auf und Kex Mutter lugte hindurch. Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab, verschwand noch einmal kurz im Dunkel der Küche und kam wenig später mit zwei Bierkrügen beladen zurück. Als sie die Bierkrüge auf den Tisch abstellte, fasste ihr einer der Männer von hinten unter den Rock. Kex Mutter verzog angewidert das Gesicht, wehrte sich aber nicht.

      „He, noch hast du nicht gewonnen!“, ereiferte sich Kex Vater.

      „Halts Maul, Krüppel! Sei froh, dass wir dir überhaupt etwas für deine kleine Hure hier zahlen“, entgegnete der Mann und ließ dabei drohend seine Faust auf die Tischplatte sausen.

      „Schon gut, schon gut“, sagte Kex Vater kleinlaut, „Spielen wir jetzt?“

      „Ich denke, ich habe heute keine Lust zum Würfeln. Wir werden die Sache ein wenig abkürzen“, sagte der Mann.

      Seine Hand immer noch am Hintern von Kex Mutter stand er auf, holte einen Silberling aus seiner Tasche und warf ihn Kex Vater zu. Dann drängte er Kex Mutter zum Bett in der Ecke. Kex hatte aufgehört zu spielen und starrte ihnen hinterher.

      „Spiel draußen weiter, Kex“, sagte seine Mutter.

      „Hast du nicht gehört, was deine Mutter gesagt hat? Raus mit dir!“, brüllte sein Vater, als Kex nicht sofort reagierte.

      Kex rannte aus dem Haus.

      ***

      Der Junge kam aus dem Haus gestürmt und rannte direkt in die Beine von Chak. Nachdem Chak nun bereits seit Wochen immer wieder um das Haus herumschlich, den Jungen und seine Mutter beobachtete, aber nie den Mut fand, sie anzusprechen, half ihm jetzt der Zufall. Erschrocken trat der Junge einen Schritt zurück und schaute mit großen, dunklen Augen zu Chak auf. Chak hätte beim Anblick dieser Augen beinahe geweint. Der Junge sah ihm so ähnlich, es musste sein Sohn sein. Natürlich, Chak konnte sich nicht an die Mutter des Jungen erinnern, aber was sagte das schon. Chak konnte sich nie an eine der Frauen auf den Festen des Königs erinnern, in den seltensten Fällen erinnerte er sich am nächsten Morgen an das Fest selbst. Dafür war er dem guten Wein viel zu sehr zugetan. Die Feiern waren sehr ausgelassen und ab und an verirrte sich auch eines der Mädchen zu ihm – so zumindest die Gerüchte, die er hier und da aufschnappte – warum also nicht die Mutter des Jungen. Es wäre zumindest denkbar. Chak kam plötzlich eine Idee.

      „Na da hat es aber einer eilig. Ein Privileg der Jugend, möchte ich meinen. Wie heißt du, mein Junge?“, fragte Chak freundlich.

      Der Junge schaute noch einen Moment misstrauisch, als würde er seine Optionen abwägen.

      „Kex“, antwortete er schließlich.

      „Kex? Ein passender Name für einen so aufgeweckten Jungen. Mein Name ist Chak. Hättest du Lust, dir ein paar Kupferlinge zu verdienen? Weißt du, ich bin nämlich ein Forscher, ich erforsche die Schriften der Alten. Dabei könnte ich einen Gehilfen wie dich gut gebrauchen. Du hast doch schon von den Alten gehört?“, sagte Chak.

      Kex schüttelte mit dem Kopf.

      „Nun, das macht eigentlich nichts. Das meiste, was man sich von den Alten erzählt, stimmt ohnehin nicht. Da ist es sogar besser, du kennst diese Geschichten erst gar nicht. Also, sind wir im Geschäft, Kex?“, fragte Chak und hielt dem Jungen seine Hand hin.

      „Vater wird es nie erlauben“, antwortete Kex nach langem Zögern.

      „Wir müssen es ihm ja nicht unbedingt erzählen. Es bleibt unser kleines Geheimnis. Abgemacht?“, versuchte es Chak noch einmal.

      Kex kaute auf seiner Unterlippe, nervös rieb er sich mit den Händen über die Unterarme. Schließlich lachte er und schlug ein.

      „Du erzählst es auch bestimmt nicht Vater?“, fragte er noch einmal.

      „Bei den Alten, versprochen!“, antwortete Chak.

      ***

      Kex lief durch die leeren Gassen, der Mond schimmerte durch einige Wolken. Er hatte sich von zuhause weggeschlichen, als seine Eltern schliefen. Eine brennende Fackel an einer Hauswand erhellte die Straße ein wenig. Kex zog noch einmal die Karte hervor, die er von Chak erhalten hatte. Es war eine Kopie einer Karte aus der Zeit der Alten, Chak hatte nachträglich die Straßen der heutigen Stadt eingezeichnet. Das Haus gleich an der nächsten Ecke war Kex Ziel. Im Keller dieses Hauses verbarg sich ein Zugang zu einer Ruine der Alten. Das Haus stand schon lange leer. Es ging das Gerücht, dass es darin spukte. Die ehemaligen Bewohner hatten sich oft über seltsame Geräusche beschwert. Irgendwann sind die Bewohner dann spurlos verschwunden. Seither traute sich niemand mehr, in diesem Haus zu wohnen. Kex würde also ungestört sein. Seit mehr als fünf Jahren arbeitete er jetzt schon für den Forscher, durchstöberte verlassene Orte für ihn, oder – was Chak natürlich nie erfahren durfte – er brach in die Keller und Dachböden der Stadtbewohner ein, um dort nach vergessenen Artefakten der Alten zu suchen. Kex mochte den alten Kauz, nicht nur, weil er Kex für seine Dienste gut bezahlte. Chak hatte Kex noch nie geschlagen, selbst wenn es dafür sicher den einen oder anderen Grund gegeben hätte. Und er brachte ihm allerlei interessante, wenn auch wenig nützliche Dinge bei. So konnte Kex inzwischen Lesen und Schreiben, sogar recht leidlich von den Schriften der Alten, verstand sich prima aufs Rechnen und kannte die Geschichte der Alten besser als so mancher Priester. Alles Fähigkeiten, die in den Gassen des Armenviertels wenig gefragt waren. Einmal hatte er sogar eine Tracht Prügel bezogen, weil er einem Priester