Torsten Thiele

Die Legende der Alten


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hatten sie seit Monaten nicht mehr erbeutet. Auch Kex leerte seine Taschen. Dann schob er jedem seinen Anteil zu, jeder bekam dasselbe, egal wie viel er selbst erbeutet hatte. Eine stumme Übereinkunft, die sie vor langer Zeit getroffen hatten. Kex wollte es so, und niemand hatte widersprochen, auch Bartar nicht. Zwei Silberlinge, ein kleines Vermögen, solange Esrin es nicht entdeckte.

      Kaum hatte jeder seine Münzen verstaut, trat Esrin durch die Tür. Er war allein.

      „Wo ist Kos?“, fragte Kex.

      „Kos?“

      „Der Neue. Wir nennen ihn Kos“, sagte Kex.

      „Ach, der Junge. Er hat seinen Zweck erfüllt. Am Ende war er nicht fix genug, ich hatte mir mehr von ihm versprochen. Nur schade um den Preis, den ich für ihn bezahlt habe“, antwortete Esrin.

      „Drecksack. Du hast ihn einfach zurückgelassen. Sie werden ihn in die Grube werfen!“, fuhr in Kex an.

      Mit einer Geschwindigkeit, die man einem Krüppel niemals zugetraut hätte, warf Esrin seine Krücke wie einen Speer in Kex Richtung. Diesmal hatte Kex aber damit gerechnet, er wich geschickt aus. Die Krücke knallte in den Bauch von Bartar, dem vernehmlich die Luft entwich und der sich daraufhin zusammenkrümmte. Die anderen sprangen erschrocken von ihren Schemeln auf und traten einen Schritt zurück.

      „Treibe es nicht zu weit, langsam werde ich deiner überdrüssig. Du kannst ihn ja aus der Grube retten. Vielleicht wäre ich dich und dein vorlautes, aufmüpfiges Mundwerk dann endlich los“, zischte Esrin während er zu Bartar humpelte und seine Krücke aufhob.

      „Das werde ich auch tun“, entgegnete Kex.

      „Oh ja, geh nur. Der heldenhafte Ritter zieht hinaus, die Schwachen zu retten. Heldenhaft und gerecht… Ich würde ja zu gern beobachten, wie der schmutzige Dieb vor die Beseelten tritt und die Herausgabe von Seinesgleichen verlangt. Wahrscheinlich lachen sich die Wachen halb tot und lassen dich mit dem Balg davonkommen“, spottete Esrin.

      Kex ballte die Fäuste. Für einen Moment zögerte er noch, dann rannte er aus dem Schuppen. Er würde sich beeilen müssen. Nach solch einem Ereignis zogen sich die Beseelten für gewöhnlich schnell in den Palast zurück. Wenn sie den Markt erst einmal verlassen hatten, standen die Chancen schlecht, Kos aus ihrer Gefangenschaft zu befreien. Die Chancen standen auch so schlecht, das gestand Kex sich selbst aber nicht ein, denn das hieße, vor Esrin zu kapitulieren. Also kletterte er auf eines der Dächer, von wo aus er den Markt überblicken und, ohne sich durch das Gedränge des Marktes zwängen zu müssen, Kos hoffentlich noch rechtzeitig erreichen konnte. Tatsächlich hatten die Beseelten und ihr Gefolge den Rand des Marktes noch nicht erreicht. Zwei der Wachen schleiften Kos mit sich. Die Beseelte redete unentwegt auf ihren Begleiter ein. Dabei blieb sie immer wieder stehen und deutete auf Kos. So kam der Tross nur sehr langsam voran, Glück für Kex. Er lief über die Dächer, sprang über kleine Gassen, kletterte an Fassaden hoch und balancierte über schmale Mauern. Er hatte keinen Plan, keine Ahnung wie er Kos aus der Mitte dieser Leute herausholen sollte. Letztlich entschied er sich für die einfachste aller Lösungen. Auf das Überraschungsmoment bauend, sprang er einfach vom Dach mitten in das Gefolge der Beseelten, schnappte Kos beim Ärmel und zerrte ihn mit sich davon. Nachdem die Wachen die Schrecksekunde überwunden hatten, stellten sie den beiden nach. Allein hätte Kex die Wachen sicher nach wenigen Metern abgeschüttelt, doch mit dem kleinen Jungen im Schlepptau gelang ihm dies nicht so leicht. Wie viele Haken sie auch schlugen, wie viele Hindernisse sie ihren Verfolgern auch in den Weg legten, die Wachen blieben an ihren Fersen. Mit seinen kurzen Beinen war Kos einfach zu langsam, musste mühsam über Hindernisse klettern, die Kex mit Leichtigkeit übersprang. Sie mussten nach oben, sie mussten auf die Dächer. Auf den Dächern waren sie in Sicherheit, auf die Dächer folgten die Wachen nie. Sie nutzten einen Karren als Rampe, Kex hob Kos auf das Vordach, bevor er selbst ebenfalls hinaufkletterte. Noch einmal um die Ecke, dann an der Fahnenstange auf das Dach. Zum Glück konnte Kos wenigstens klettern. Sie waren oben, sie liefen über das Dach, sie waren in Sicherheit. Plötzlich traf Kex etwas an der Schulter, ein dumpfer Aufprall, als hätte Esrin mit seiner Krücke zugeschlagen. Gleich darauf durchzog Kex ein heftiger Schmerz im ganzen Körper, kleine Blitze zuckten über seine rechte Schulter. Seine Beine, seine Arme, nichts gehorchte Kex noch, er war gelähmt, selbst sein Herz schien nicht mehr zu schlagen. Er spürte noch, wie etwas an seiner Hand zog, bevor er vorn überfiel. Er schlug auf dem Dach auf, den Schmerz spürte sein tauber Körper nicht mehr. Dann rollte er über die Dachkannte und fiel. Ihm wurde schwarz vor Augen.

      Wie lange Kex nicht bei Bewusstsein war, konnte er nicht sagen. Noch immer zerrte jemand an seiner Hand. Erst langsam stellten sich seine Sinneswahrnehmungen wieder ein. Er lag weich, starrte in den wolkenlosen Himmel. Es stank fürchterlich nach Mist. Nach einer gefühlten Ewigkeit konnte er auch seine Beine wieder spüren, jeder einzelne Muskel schien zu schmerzen, so als hätte er am ganzen Körper Muskelkater. Dennoch setzte er sich auf, ein kleiner Junge mit ängstlich aufgerissenen Augen starrte ihn an, zog an seinem Arm. Kos, erinnerte sich Kex, er hatte ihn gerettet, sie waren auf der Flucht, sie mussten weg hier. Kex schaute sich um, er musste sich erst einmal orientieren. Er saß mitten in einem großen Misthaufen, daher also der Gestank. Es würde Wochen dauern, bis seine Kleider nicht mehr danach rochen. Aber der Haufen hatte ihnen das Leben gerettet, ihren Sturz vom Dach abgefangen, insofern war der Geruch ein kleiner Preis. Mühsam wühlte sich Kex von dem Haufen herunter, bis er endlich festen Boden unter die Füße bekam. Sie standen in einer kleinen Sackgasse, sie mussten hinaus bevor die Wachen kamen. Vor dem Ausgang der Gasse blitzen bereits die Spitzen einiger Lanzen in der Sonne. Es war zu spät, sie saßen in der Falle. Einige Ratten, aufgeschreckt durch die beiden Jungen, verschwanden in einem Loch, das ein verwitterter Holzverschlag offen ließ. Ein Versteck, das war zumindest eine Chance. Kos war klein genug, er passte mühelos hindurch. Kex musste sich schon mehr anstrengen. Zum Glück war das Holz bereits morsch und brach aus, als sich Kex durch das Loch am Boden zwängte. Eine der Ratten sprang quiekend über ihn hinweg. Er schaffte es gerade noch rechtzeitig, bevor die erste Wache in die Sackgasse einbog. Hinter dem Verschlag war nur wenig Platz, der Boden war feucht und schmierig. Auch hier stank es fürchterlich, beißend nach Urin. Anscheinend waren sie unter der Latrine einer der billigen Gasthäuser gelandet. An der Steinwand hinter ihnen ergoss sich ein kleines aber beständiges Rinnsal. Die ganze Wand glänzte im diffusen Licht, das durch die Ritzen im Bretterverschlag eindrang. Draußen waren jetzt deutlich mehrere Schritte zu vernehmen.

      „Habt ihr sie?“, fragte eine Stimme vom Eingang der Gasse her.

      „Sie sind nicht hier Herr“, antwortete jemand direkt vor dem Verschlag.

      „Dann sucht sie gefälligst! Ich habe diesen dreisten Kerl schließlich mit dem Blitzwerfer getroffen, sie sind hier vom Dach gefallen. Sie können sich nicht in Luft aufgelöst haben“, rief der Mann vom Eingang der Gasse wieder.

      „Ja, Herr“, kam die Antwort, beinahe konnte Kex den Atem des Mannes spüren so nah war er.

      Die beiden hielten die Luft an. Eine Lanze stocherte plötzlich durch einen etwas breiteren Spalt im Verschlag. Sie streifte Kex am Arm, bevor ihre Spitze gegen die Wand schlug. Kex biss die Zähne zusammen, er zitterte leicht. Kos hatte sich ängstlich in die hinterste Ecke des Verschlags geduckt. Die Lanze verschwand wieder, nachdem sie noch einige Male gegen die Wand gestoßen wurde. Schritte entfernten sich.

      „Wir haben alles durchsucht. Sie sind nicht mehr hier, Herr“, sagte draußen eine Stimme.

      „Dafür lasse ich Euch in die Grube werfen! Abmarsch!“, schrie der Mann am Eingang der Gasse.

      Als Antwort bekam er nur Gemurmel. Die Schrittgeräusche entfernten sich schnell. Dennoch warteten die beiden Jungen noch stumm bis die Sonne unterging, ehe sie aus dem Bretterverschlag wieder hervorkrochen. Im fahlen Licht der Neumondnacht waren die Wachen am Ausgang der Gasse kaum zu erkennen, aber Kex Augen hatten sich im inneren des Verschlags an die Dunkelheit gewöhnt.

      „Ich…“, begann Kos.

      Durch die ansonsten reduzierten Geräusche der Nacht, klang Kos Stimme unglaublich laut. Kex erschrak regelrecht. Schnell drückte er seine Hand auf den Mund des Jungen. Er selbst hielt die Luft an und starrte zu den Wachen hinüber. Einer der Männer