Torsten Thiele

Die Legende der Alten


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der Alten interessierten Kirai schon eher. Er hätte einiges dafür gegeben, zu wissen, wie dieses Licht funktionierte. Jetzt hatte er jedoch wichtiger Aufgaben. Seine Hände in den Rücken gelegt, trat Kirai nah an den Mann heran.

      „Sicher hadert Ihr jetzt mit Eurem Schicksal“, begann Kirai, „fragt Euch, warum man Euch hierher gebracht hat. Lasst es mich Euch erklären. Ihr kennt Großwesir Houst?“

      Der Mann nickte nur.

      „Nun, das ist ja noch nichts Außergewöhnliches. Ich habe von Leuten gehört, die nicht einmal wussten, wer ihr König ist, den Großwesir aber kannten sie sehr wohl. Was nur wenige wissen, der Großwesir ist ein geradezu fanatischer Forscher. Er besitzt die größte Sammlung an Artefakten der Alten im Palast und damit im ganzen Land. Zudem weiß ich aus sicherer Quelle, dass er irgendwo in der Stadt noch eine weitere Sammlung unterhält, die jene im Palast geradezu mickrig erscheinen lässt. Ich frage mich nun, wo er diese ganzen Artefakte nur hernimmt? Auch wäre ich an einer kleinen Wegbeschreibung zu seiner Sammlung in der Stadt sehr interessiert. Ihr könnt meine Unwissenheit hier sicher ein wenig erhellen, oder?“, führte Kirai aus.

      „Ich weiß nichts darüber“, antwortete der Mann.

      „Oh, wie schade. Das ist nicht ganz die Antwort, die ich erhofft hatte“, sagte Kirai und winkte den beiden Wachen, die hinter ihm standen.

      Der Mann wich ängstlich zurück, bis er mit dem Rücken an der Wand anstieß. Eine der Wachen versetzte ihm einen Schlag in die Magengrube. Der Mann stöhnte auf und krümmte sich zusammen. Dann packten die Wachen ihn jeweils an einem Arm, schleiften ihn zu dem gut gefüllten Wasserbecken in einer Ecke und tauchten seinen Kopf unter Wasser.

      „Ich weiß nic…“

      Ein gurgelndes Geräusch erstickte den Schrei des Mannes. Als die Wachen seinen Kopf nach einer Weile wieder aus dem Wasser rissen, schnappte der Mann frenetisch nach Luft.

      „Beginnen wir doch noch einmal von vorn“, sagte Kirai.

      ***

      Großwesir Houst saß im Studierzimmer, vor ihm ratterte eine kleine Maschine. In kleinen Tippelschritten wanderte die Figur über den Schreibtisch, machte dabei manchmal Musik. Houst hatte sie erst vor wenigen Tagen erhalten. Gern hätte er sich der Erforschung dieses Artefakts der Alten gewidmet, aber Sleem war bei ihm. Sleem war der Sohn von Wesir Kolat, und einem hochrangigen Beseelten konnte Houst die Ausbildung seines Sohnes leider nicht abschlagen. Das war umso ärgerlicher, da Sleem nicht gerade mit herausragenden geistigen Fähigkeiten glänzte und dies auch nicht mit überbordendem Fleiß ausglich. Viel lieber beschäftigte sich Sleem mit den jungen Damen am Hofe, deren Interesse an Sleem wohl am ehesten der hohen Position seines Vaters geschuldet war. Sleems Äußeres entsprach seinem Naturell, er glich irgendwie mehr einer aufgedunsenen Kröte, denn einem jungen Mann. Schwer vorstellbar, dass eine Frau daran Gefallen finden könnte. Kurz, Houst konnte ihn nicht ausstehen. Dass Sleems Mundwerk niemals still zu stehen schien, machte die Angelegenheit nicht einfacher.

      „Meister Houst, die Aufzeichnungen, die Ihr mir gegeben habt, sind ganz formidabel. Sie zeugen von wahrer Meisterschaft. Wie Ihr darin die Schrift der Alten erklären … Könnt Ihr die Schrift der Alten wirklich lesen? Was man damit alles erforschen könnte, welche Geheimnisse sich damit aufdecken ließen. Ich bin so froh, dass Ihr mich als Euren Schüler angenommen habt. Mit all dem Wissen werde ich bestimmt ein großer Forscher. Nicht so ein großer wie Ihr natürlich, wer könnte Euch schon überflügeln, aber doch einer der besten Forscher im Land. Ihr lasst mich doch an weiteren Ergebnissen teilhaben? Ich würde so gern die Sprache der Alten lernen. Ich meine, die Alten, das muss man sich einmal vorstellen. Ich könnte die Götter verstehen. Bitte Meister Houst, lehrt mich die Sprache der Götter“, sabberte Sleem.

      „Dazu hatte ich dir die Unterlagen gegeben. Wenn du sie aufmerksam studiert hast, solltest du die Sprache der Alten bereits lesen können“, antwortete Houst.

      „Wirklich? Das ist ja großartig. Ich kann die Sprache der Götter lesen. Das werden mir die Damen am Hof nie glauben. Und wie neidisch…“

      „Darf ich hereinkommen, Onkel Houst?“

      Prinzessin Nomo betrat das Zimmer ohne eine Antwort abzuwarten. Sleem verbeugte sich tief vor ihr und grinste schief.

      „Prinzessin Nomo, Eure liebreizende Erscheinung schmeichelt wie immer meinen Augen. Es freut mich so, Euch zu sehen. Ihr glaubt nicht, was mir Euer Onkel beigebracht hat. Ich kann jetzt die Sprache unserer Götter lesen. Ist das nicht wundervoll?“, sagte er.

      „Ach tatsächlich. Dann habt Ihr ja eine große Karriere vor Euch“, antwortete Nomo.

      Sie konnte Sleem genauso wenig leiden, wie ihr Onkel, sie ekelte sich sogar ein wenig vor ihm.

      „Sleem, warum versuchst du nicht, mit deinem neu erworbenen Wissen die Schriften im Tempel zu entziffern? Die Hohepriesterin wäre davon sicher sehr beeindruckt. Vielleicht erlangst du damit sogar das Recht auf eine Privataudienz bei ihr“, schlug Houst vor.

      „Eine ausgezeichnete Idee, Meister Houst. Welcher Mann träumt nicht von einer Privataudienz bei der Hohepriesterin. Ich könnte damit eine ganz neue Linie der Beseelten gründen. Ich mache mich gleich auf den Weg. Natürlich nur, wenn Ihr und Prinzessin Nomo mich hier nicht benötigen“, sagte Sleem und verbeugte sich zum Abschied noch einmal so tief, wie es sein fetter Bauch zuließ.

      „Nein, geh nur. Ich denke, ich und meine Nichte können dich für eine Weile entbehren“, entließ ihn Houst.

      Nachdem Sleem den Raum verlassen hatte, stand Houst auf, nahm Prinzessin Nomo in seine Arme und drückte sie zur Begrüßung. Schließlich hielt er sie auf Armlänge von sich.

      „Was verschafft mir denn die Ehre eines Besuchs meiner Lieblingsnichte?“, fragte Houst.

      „Lieblingsnichte? Ich bin deine einzige Nichte Onkel Houst“, antwortete Nomo.

      „Eben. Also, gibt es wieder Ärger mit deiner Mutter?“, fragte Houst.

      „Außer, dass sie mich behandelt wie ein kleines Mädchen, hinter jeder Ecke jemanden vermutet, der mir ans Leben will und mich, nach dem kleinen Zwischenfall heute, wahrscheinlich nie wieder aus dem Palast lässt? Nein, es gibt wohl keinen Ärger, denn diese Behandlung ist normal für eine Prinzessin, meint Mutter. Sie hat mich übrigens ausdrücklich vor dir gewarnt. Du sollst sogar Schuld daran sein, dass ich überhaupt die Prinzessin bin! Du hättest sie an Vater verkauft“, antwortete Nomo.

      Houst räusperte sich und drehte sich zum Fenster um.

      „Ach, jetzt fängt sie wieder damit an. Nur weil ich deine Mutter meinem Bruder vorgestellt habe. Das sie mir das immer noch nachträgt, nach so langer Zeit“, sagte er und schüttelte leicht den Kopf.

      Dann drehte er sich wieder um und lächelte Nomo an.

      „Aber vergessen wir die alten Geschichten. Bist du denn nicht gern Prinzessin? Die ganze Welt liegt dir zu Füßen. Es gibt nicht wenige, die mit dir tauschen würden. Und es vergeht kaum ein Tag, an dem dir nicht einer der jungen Männer am Hofe Avancen macht…“

      „Der Prinzessin Avancen macht, nicht Nomo! Das ist es ja, alle interessieren sich nur für die Prinzessin, niemand interessiert sich wirklich für mich. Und wenn ich Mutter glauben soll, dann wetzt die Hälfte derer, die mir ins Gesicht lächeln hinter ihrem Rücken die Messer“, fiel Nomo ihrem Onkel ins Wort.

      „Deine Mutter will dich nur beschützen. Schon immer haben Intrigen zum Hof gehört, nicht einmal der König ist vor ihnen sicher. Wir alle müssen achtsam sein. Erst letzte Woche ist Priester Pegul verschwunden. Er hatte sich zu sehr in die Angelegenheiten einiger der Beseelten gemischt. Von einem Besuch in der Stadt ist er dann einfach nicht zurückgekehrt. Du solltest die Warnungen deiner Mutter also nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sicher, niemand wird öffentlich den Zorn des Königs riskieren, wenn dir, als seiner geliebten Tochter etwas zustößt. Das hält die meisten aber nicht davon ab, im Verborgenen Komplotte gegen dich zu schmieden“, erklärte Houst.

      „Und das ist sie, die Welt, die mir zu Füßen liegt. Eine