Torsten Thiele

Die Legende der Alten


Скачать книгу

Jungen ins Zimmer. Im letzten Augenblick konnte sich Nomo noch zu ihnen umdrehen, bevor die beiden sie womöglich umgeschubst hätten. Sie zerrten wild an Nomos Ärmeln. „Gefangen!“, riefen sie dabei immer wieder. Nomos Halbbrüder waren richtige Rabauken, ungezogen, lärmend und grob. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit spielten sie Nomo Streiche. Nomo mochte sie trotzdem, oder auch gerade deswegen. Wenigstens spannen sie noch keine heimlichen Intrigen. Den Kindern auf dem Fuß folgte die Königin.

      „Nicht so stürmisch, meine Lieblinge. Einer jungen und liebreizenden Dame, wie eure Schwester mittlerweile eine ist, nähert man sich nicht derart ungestüm. Wo sind nur eure Manieren“, tadelte sie halbherzig.

      Nomo machte einen Knicks. Ihre Brüder lachten schelmisch, schubsten und zerrten dann an ihr und versuchten, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Beinahe wäre es ihnen gelungen. Als Nomo die beiden zurückschubsen wollte, rannten sie schnell davon und versteckten sich hinter ihrer Mutter. Dort, in Sicherheit, lugten sie immer wieder hinter dem Rücken der Königin hervor und streckten Nomo die Zunge heraus. Sobald ihre Köpfe wieder verschwunden waren, kicherten die beiden laut.

      „Sind sie nicht goldig, meine Lieblinge? Man kann ihnen einfach nicht böse sein“, sagte die Königin.

      „Königin Isi, was verschafft mir denn die seltene Ehre Eures Besuches?“, fragte Houst.

      „Selten in der Tat. Ihr vergrabt Euch zu sehr in Euren Büchern, Großwesir. Dadurch leiden die politischen Geschäfte. Und am gesellschaftlichen Leben nehmt Ihr auch kaum noch teil. Das empfinde nicht nur ich so, sondern auch Euer Bruder, der König. Deshalb hat er mich gebeten, Euch persönlich zu dem kleinen Ball heute Abend einzuladen. Ihr werdet mir diese Einladung doch nicht ausschlagen?“, antwortete Isi.

      „Derlei Aktivitäten liegen mir nicht mehr sonderlich, dass solltet Ihr wissen“, warf Houst ein.

      „Es gibt einen Ball?“, freute sich Nomo.

      „Ja, Kind. Natürlich seid Ihr ebenfalls eingeladen. Euch brauche ich ja wenigstens nicht lange bitten. Wenn Ihr vielleicht noch ein gutes Wort für den Ball bei Eurem Onkel einlegen könntet? Sicher wird er eine Bitte von Euch nicht ablehnen, Euer Charme ist am Hofe geliebt und gefürchtet zugleich. Es wäre in seinem eigenen Interesse. Ich denke, der König wäre ungehalten, wenn sein Bruder nicht erschiene. Und ich wäre sehr enttäuscht“, sagte Isi und tat dabei so, als sei Houst gar nicht da.

      „Oh ja, bitte Onkel Houst. Du hast nicht mehr mit mir getanzt, seit ich ein kleines Mädchen war“, sagte Nomo.

      Houst grummelte nur etwas Unverständliches in seinen Vollbart.

      ***

      Es war laut in der Kneipe. Der Wirt, ein stämmiger Mann mit einem beachtlichen Bauch, schleppte unentwegt Bierkrüge an die Tische, an denen Männer würfelten und johlten. Eine Zigeunerin tanzte zur Musik, die ihr Kompagnon einer Fidel entlockte. Die Luft war stickig und schwül, Rauch vom offenen Kamin waberte durch den Gastraum. Niemand beachtete Esrin, als er eintrat. Er kniff die Augen zusammen. Ganz hinten, in der Ecke saß ein Mann allein am Tisch. Der Mann hatte die Kapuze tief in die Stirn gezogen, sein Gesicht lag im Schatten. Ab und an nippte er an seinem Bier. Esrin humpelte durch den Gastraum und setzte sich auf den freien Schemel, dem Mann direkt gegenüber. Seine Krücke lehnte er an die Tischkante.

      „Ihr wolltet mich sprechen“, sagte Esrin.

      Der Mann antwortete nicht. Stattdessen griff er in seine Jackentasche, kramte dort einen Beutel hervor. Als er den Beutel vor sich auf den Tisch fallen ließ, klimperte im Inneren Metall gegeneinander. Esrin fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und fixierte den Beutel. Mit einem kurzen Schwung ließ der Mann den Beutel über den Tisch zu Esrin gleiten. Der öffnete ihn und stieß einen kurzen, leisen Pfiff aus.

      „Ein beträchtliches Sümmchen! Wofür?“, fragte Esrin.

      „Mein Herr wird dafür sorgen, dass Ihr heute Nacht in den Palast gelassen werdet. Ihr werdet im Gegenzug dafür sorgen, dass Prinzessin Nomo aus dem Palast verschwindet“, sagte der Mann.

      „Prinzessin Nomo? Eine heikle Angelegenheit…“, begann Esrin.

      „Die mein Herr fürstlich entlohnt!“, fiel ihm der Mann ins Wort.

      Dann stand er auf und legte einen Kupferling für das Bier auf den Tisch.

      „Und, mein Herr möchte sie unversehrt, er hat Pläne mit ihr. Wenn der Prinzessin etwas zustößt, wird es nicht nur Euch den Kopf kosten. Ich kenne eure kleine Idylle auf dem Land“, warnte der Mann, „Hier, das sollte dabei helfen.“

      Der Mann warf Esrin ein kleines Fläschchen zu.

      „Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis Ihr meine Familie findet. Der Prinzessin wird nichts geschehen. Was ist das?“, fragte Esrin, während er sich am Verschluss des Fläschchens zu schaffen machte.

      „Ihr riecht besser nicht daran! Es dauert etwa eine Stunde bevor man danach wieder aufwacht“, antwortete der Mann, bevor er ging.

      Esrin schaute ihm nicht nach. Er steckte das Fläschchen ein. Dann zurrte er den Geldbeutel zu und verstaute ihn unter seinem Mantel. Wenig später verließ auch er die Kneipe.

      ***

      Kex presste seine Hand immer noch an den Mund von Kos und starrte zum Ausgang der Gasse. Die eine Wache trat lediglich von einem Bein auf das Andere und lehnte sich an die Mauer eines der Häuser. Sie waren unentdeckt geblieben. Langsam entspannte Kex sich und ließ Kos los, legte aber zur Sicherheit noch einmal den Zeigefinger an seinen Mund. Mittlerweile hatte aber auch Kos die Wachen bemerkt. Der halbe Tag in dem engen, stinkenden Loch hinter dem Bretterverschlag hatte ihnen nicht gut getan, ihre Kleider waren klamm, Kex fühlte sich irgendwie steif und fröstelte leicht. Er schaffte es kaum, einen klaren Gedanken zu fassen. Nicht die besten Voraussetzungen für einen Fluchtplan. Kex schaute sich um. Die Häuserwände ringsum waren kahl und an der niedrigsten Stelle immer noch mindestens drei Meter hoch, nirgends zeigte sich ein Vorsprung, kein Fenster in Reichweite, nicht einmal eine Dachrinne, an der man hätte hinaufklettern können. Zurück auf die Dächer würde er es von hier aus nicht schaffen, schon gar nicht mit Kos. Viele Optionen hatten sie also nicht. Sie konnten sich noch für weitere quälende Stunden in dem kleinen Loch verkriechen, oder sie mussten direkt an den Wachen vorbei. Auch Kos schien zu diesem Schluss gekommen zu sein. Er schaute abwechselnd zum Bretterverschlag und dann zum Ausgang der Gasse. Zuletzt blickte er noch einmal in Richtung Ausgang, dann starrte er Kex fragend an. Nach einer Weile nickte Kex und zog sich die Schuhe aus, die machten zu viel Lärm. Kos trug ohnehin keine Schuhe. Vielleicht kamen sie so unbemerkt nah genug an die Wachen heran, konnten an ihnen vorbeirennen, bevor diese reagierten. Sehr langsam, Schritt für Schritt näherten sich die Jungen dem Ausgang der Sackgasse. Dabei fixierte Kex immer wieder die Wachen. Mittlerweile konnte er drei Männer erkennen, ihre genaue Blickrichtung blieb aber im Dunkel der Nacht verborgen. Zumindest regte sich keiner der drei, noch waren sie sicher. Dann plötzlich eine Bewegung, Kex und Kos erstarrten. Ein Speer klimperte zu Boden, das Geräusch hallte in der Gasse wider. Es folgte ein unverständliches Grummeln, dann ließ sich einer der Männer an der Wand nach unten gleiten und setzte sich, die Knie mit den Armen umschlossen, auf die Straße. Die Geräusche der Nacht kehrten zurück. Irgendwo auf den Dächern stritten sich zwei Katzen, ein einsamer Vogel zwitscherte und weit entfernt grölte ein Betrunkener. Kex und Kos warteten noch eine Weile, bevor sie weiterschlichen. Als sie nur noch ein paar Meter von den Wachen entfernt waren, bemerkten sie, dass alle drei Wachen schliefen. Aber gerade in dem Moment, in dem die Jungen an den Wachen vorbeischlichen, schreckte einer der Männer auf.

      „Achtung! Sie kommen. Verteidigt euch…“, rief er.

      Kex gab Kos einen Schubs und die beiden rannten los. Doch niemand folgte ihnen. Kex blieb wenigen Metern stehen und blickte sich um. Die drei Männer standen, beziehungsweise hockten noch genauso wie vorhin. Anscheinend hatte einer nur im Schlaf geredet. Erleichtert atmete Kex aus, sie hatten es geschafft, er hatte Kos gerettet. Es war eine Wette, er hatte gewonnen, Esrin verloren.

      Mit stolz geschwellter Brust, Kos vor sich herschiebend betrat er wenig später das Versteck der Bande.

      „Ich