Henny Frank

Himmelslandtourist


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      “Ja, jetzt plärrt er bestimmt wieder!” Thomas stieß Carsten in die Seite. “Wilke, weißt du was du bist? Ne richtige Heulsuse!”

      Damit ließen sie ihn stehen.

      Für die nächsten Augenblicke war Carsten nicht imstande sich zu rühren. Er war wie gelähmt. Als das dumpfe Gefühl aber nachließ, lief er hastig zur Hecke und suchte angsterfüllt zwischen ihren kurzen krausen Ästchen nach seinem Kreuz.

      Carsten konnte den Anhänger nicht finden und schließlich läutete die Schulglocke die neue Unterrichtsstunde ein.

      Der Garten lag aber außer Sichtweite des Schulhofes vor dem Gebäude und so bemerkte Carsten nicht, dass sich der Platz allmählich zu leeren begann. Auch die Glocke hatte er kaum wahrgenommen.

      Mama, dachte er, ich brauch das Kreuz und die Kette. Sonst hab ich nichts mehr von dir und außerdem ist dieser Anhänger von allem was mir gehört das schönste…

      Dann fiel Carsten die zerrissene Kette auf dem Ranunkelbeet ein und seine Tränen tropften in die störrischen Zweige der Hecke.

      Nicht weinen, sagte er sich.

       Bei der Kette weiß ich ja wenigstens, wo sie ist. Den einen Teil hab ich hier und der andere liegt da vorne im Beet.

       Bestimmt können Papa und Ulrike das reparieren.

       Wo aber ist das Kreuz…

      Carsten war nun vollständig aus seiner Erstarrung erwacht.

      Er konnte den Anhänger jedoch nicht finden und seine Suche wurde immer verzweifelter.

      Plötzlich wurde im Schulgebäude ein Fenster aufgerissen.

      “Carsten Wilke, was treibst du da?”

      Laut und grell klang eine weibliche Stimme zu Carsten herüber.

      Sie schrillte förmlich in seinen Ohren.

      Frau Schenker… Erschrocken fuhr er herum.

      “Wie oft haben wir euch schon gesagt, dass ihr im Garten nichts zu suchen habt! Hast du das noch immer nicht kapiert? Außerdem hat es längst geklingelt!“

      Carsten bekam vor Aufregung einen Schluckauf und er machte jetzt so eilig kehrt, dass er fast über seine eigenen Füße gestolpert und gestürzt wäre. Die Lehrerin sah ihn bedenklich an und schüttelte den Kopf.

      Während Carsten nun in die Klasse lief, wurde er abwechselnd blass und rot vor Erregung. Wisst Ihr, er hatte ziemliche Angst vor dieser Lehrerin.

      Sie war streng und ungerecht und insbesondere auf ihn schien sie es abgesehen zu haben. Fast täglich schimpfte sie mit Carsten und überdies machte sie ihn ständig vor den anderen Kindern lächerlich.

      Carsten seufzte. Im Grunde konnte er ja jetzt gar nicht reingehen -

      nein, er musste weitersuchen und wenigstens den Teil seiner Kette vom Ranunkelbeet aufheben.

      Niemals aber hätte er gewagt, ausgerechnet dieser Lehrerin zu widersprechen und von seinem Kreuz erzählen mochte er ihr auch nicht.

      Carsten vertraute ihr nicht und am Ende machte sie sich nur wieder über ihn lustig.

      Neulich erst hatte sie dies getan und während die anderen Kinder über ihn lachten, hatte sie vorn an ihrem Pult gesessen und so merkwürdig vor sich hingeblickt; nahezu hämisch.

       Nein, diese Schenker wäre die letzte gewesen, der Carsten sich anvertraut hätte.

      Nun betrat er den Klassenraum.

      Ein paar Kinder grinsten, als er hineingestolpert kam.

      Vermutlich hatten Heiko und Thomas ihnen erzählt, was sich vorhin im Schulgarten zugetragen hatte. Vielleicht aber waren sie auch einfach nur schadenfroh, weil Carsten Ärger bekommen hatte und aller Voraussicht nach noch größeren bekommen würde.

      Jeder wusste, wie ängstlich er war, wie schnell er weinte

      und jetzt warteten sie auf einen neuen peinlichen Auftritt.

      Angstvoll setzte Carsten sich auf seinen Platz und blinzelte verstohlen zu der Lehrerin herüber. Dabei flehte er innerlich, dass sie es nun dabei belassen und mit dem Unterricht fortfahren würde.

      Doch seine Hoffnung erfüllte sich nicht.

      “Hast du die Pausenglocke nicht gehört?“, fragte sie ihn unfreundlich.

      Und bevor er hätte antworten können:

      “Was hattest du überhaupt im Garten zu suchen?!”

      “Ich - ich…”, stotterte Carsten. Er brach ab und rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her.

      Warum starrten ihn jetzt bloß alle an…

      Carsten wurde beinahe schlecht vor Aufregung.

      Dann dachte er an das Kreuz, das noch immer draußen in der Hecke lag und das war zuviel. Seine Tränen begannen zu fließen.

      Er konnte noch so viel “Bitte nicht” denken; sie ließen sich einfach nicht zurückhalten. Unterdrücktes Kichern in der Klasse. Einige bekamen nun genau das, worauf sie gewartet hatten.

      “Nun hör bloß auf, gleich wieder zu heulen!”

      Die Stimme der Lehrerin klang unwirsch.

      “Ich will jetzt endlich wissen, was du da draußen gemacht hast!“

      Carsten versuchte auf ihre Frage zu antworten, doch er brachte nur ein klägliches Schluchzen hervor.

      “Das ist doch nicht zu glauben!! Reiß dich gefälligst zusammen!“

      Carsten weinte so sehr, dass seine Schultern zuckten.

      Er fiel ein Stück nach vorn. “Meine Kette…”, stammelte er.

      Die Lehrerin sah ihn kritisch an. “Deine Kette?” Was für eine Kette?“

      “Von meiner - von meiner Mutter…”

      “Und deshalb veranstaltest du so ein Theater?”

      Die Schenker machte kein sonderlich emphatisches Gesicht.

      “Also jetzt spinnst du wohl völlig!”

      Carsten schluckte und starrte auf die Tischplatte vor sich.

      “Wie auch immer”, fuhr die Schenker fort, “diese Kette, also die ist jetzt jedenfalls weg. Vielleicht begreifst du dann, dass ihr nichts im Garten zu suchen habt!“

      Erschrocken sah Carsten auf.

      “Aber ich muss…“, brachte er mühsam hervor.

      “Du musst gar nichts! Und wehe dir, wenn ich dich in der nächsten Pause dort erwische!”

      Versucht nun, Euch in einen ängstlichen, empfindsamen achtjährigen Jungen hineinzuversetzen, der fest davon überzeugt ist, dass man ihm soeben verboten hat, nach dem Liebsten und Kostbarsten zu suchen,

      das er besitzt.

      Ich selbst sollte nun allerdings aus Gründen der Fairness auch zugeben, dass diese Schenker wenigstens nicht wusste, dass die Kette Carstens toter Mutter gehört hatte - auch wenn mir überhaupt nicht danach ist.

      Es war aber so, dass sie von Ilona noch nie gehört hatte und dass Carsten adoptiert war, wusste sie auch nicht. Sie hielt ihn für Ulrikes leiblichen Sohn, denn dass er das nicht war, hatten Johannes und Ulrike bei Carstens Einschulung verschwiegen. Ulrike wollte das so.

      Überhaupt gaben sie seit ihrer Zeit in Kaltenkirchen Carsten überall als Ulrikes echten Sohn aus. -

      Damals aber, in jener Schulstunde, beschloss diese komische Lehrerin gerade, sich wieder