Henny Frank

Himmelslandtourist


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Marcels Bemerkung und die wenigen, die nicht lachen, machen keinerlei Anstalten, Carsten zu verteidigen - selbst der Lehrer nicht.

      Er sieht Carsten zwar unsicher an, sagt jedoch nichts.

       Aber so ist es halt und so war es immer…

      Wenn Sie nun bloß hier wären, Frau von Haydn, denkt Carsten.

       Sie hätten Marcel bestimmt gesagt, dass er mich in Ruhe lassen soll -

       so wie letzte Woche. Zwar hat er nur gelacht, doch wissen Sie,

       ich hab mich ja so gefreut, dass mir endlich jemand beisteht…

      Später in der Umkleidekabine wartet noch eine böse Überraschung auf Carsten - all seine Sachen sind verschwunden.

      “Na, Willy Wilke, dann such mal schön.” Marcel sieht ihn böse an.

      “Das ist ein kleines Dankeschön, weil du heute wieder so großartig gespielt hast!”

      Carsten wird rot vor Aufregung. Das gibt es doch nicht…

      Was interessiert diesen Marcel überhaupt, wie er gespielt hat -

      Carsten war ja noch nicht mal in seiner Mannschaft! Aber darum geht es wohl nicht.

      “Das beste wird sein, wenn Wilke beim Sport in Zukunft zu den Weibern rüber geht”, grinst Oliver.

      “Ach was - selbst die haben mehr drauf als diese Schwuchtel.”

      Marcel wendet sich ab.

      Wie vom Donner gerührt steht Carsten vor der leeren Bank, wo er zuvor seine Kleidungsstücke abgelegt hatte.

       Es ist nichts mehr da…

      Die anderen Jungen gehen an ihm vorbei - keiner hilft ihm - und schließlich verlässt auch Marcel mit seinen engsten Vertrauten Sven und Oliver die Kabine.

      Allerdings tun sie dies nicht, ohne Carsten noch einmal mit Spott zu überschütten und Sven rempelt Carsten, als er an ihm vorbeigeht, sogar absichtlich an.

      “Na, Willy, nun beeil dich, sonst kommst du zu spät zu Mathe!”

      “Ach, egal, der ist doch sowieso viel zu dumm, der ist ja schon

      in der Grundschule backen geblieben.”

      “Was will der überhaupt hier? So einer wie der gehört doch aufs Brettergymnasium.”

      “Aber echt…”

      “Genau, Wilke, was machst du eigentlich hier - ach Gottchen, jetzt heult er gleich wieder!”

      Die Tür zur Sporthalle fällt ins Schloss und Carsten ist allein.

      Verzweifelt lässt er sich auf der Bank nieder und starrt vor sich hin.

      Darum also ist Marcel vorhin aus der Halle gegangen - in dieser Zeit war er hier in der Kabine und hat Carstens Sachen versteckt.

      Das alles ist so demütigend…

      Und jetzt muss er, Carsten, wohl herumgehen und alles wieder mühsam zusammensuchen.

      Einen Schuh hat er bereits entdeckt - er steckt im Wasserkasten des Klosets.

      Carsten vergräbt sein Gesicht in den Händen und weint.

      Mama, denkt er, ich will sterben.

      I. 10.

       O Mann, was für Arschlöcher…

      Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber mir tut Carsten unendlich leid.

      Er ist lieb, tut niemanden was und trotzdem (oder deswegen?) lassen die anderen ihn nicht in Ruhe.

      Diese ewige Mobberei kenn ich übrigens auch. Bevor die Leukämie kam, waren die Anderen eines meiner größten Probleme, doch im Moment ist das unwichtig geworden.

      Ich finde aber, dass ich für das in Ruhegelassen werden einen ziemlich hohen Preis zahlen muss.

      Nun aber werde ich Euch ein bisschen mehr über Carsten erzählen; seinen Lebenslauf und so und ob es nicht vielleicht eine Verbindung zu Tibor gibt.

      Also:

      Carsten Wilke wurde am 21. Februar 1973 in Debrecen geboren.

      Das ist übrigens auch mein Geburtstag, nur halt ein paar Jahre später.

      Vielleicht werden ein paar von Euch jetzt merken, dass ich Debrecen schon mal erwähnt hab - war das nicht die steinerne Festung, die aus der Großen Tiefebene herausragt?

      Ja, das ist wahr und dort wurde Carsten geboren.

      Seine Eltern heißen Johannes und Ilona und bevor Ilona Johannes geheiratet hat, hieß sie mit Nachnamen Kiss (Klein).

      Ausgesprochen wird das Kisch und es ist ein ungarischer Name. Carstens Mutter ist nämlich Ungarin.

      Ich schätz mal, sie hätte ihren Namen gern behalten, doch ich glaub in den 1970ern ging das noch nicht und in Ungarn bestimmt auch nicht oder noch weniger.

      Paul hat mir erzählt, manche nehmen dort nach der Hochzeit sogar den Vornamen des Mannes an und zwar mit einem angehängten né.

      Das heißt dann soviel wie die Frau von soundso.

      Wenn einer zum Beispiel Janos heißt, dann würde die Frau von dem nach der Hochzeit Janosné heißen; Frau von Janos also.

       O Mann…

      Ich weiß aber nicht, ob das damals tatsächlich alle so gemacht haben, weil man das musste und so hab ich das in meiner Geschichte weggelassen und die Frauen haben wenigstens ihren Vornamen behalten.

      Lieber Gott, ich bin gerade so traurig, dass Paul nicht hier bleiben konnte - ich kann mich kaum auf das konzentrieren, was ich Euch erzählen wollte.

      Ich hab soeben beschlossen, dass ich trotz seines Todes immer in der Gegenwart von Paul sprechen werde; also nicht er “war” oder er ”wusste”, sondern er ist und er weiß!

      Dort wo er jetzt ist, ist er ja noch immer und wissen tut er auch noch alles genauso wie vorher.

      Paul lebt - eben nur nicht mehr hier.

      Ja, das glaub ich und ich werde nie in der Vergangenheit von ihm sprechen! Nie! -

      Nun geht es mir ein wenig besser und ich erzähle ich Euch meine Geschichte weiter.

      Carstens Eltern haben sich im Sommer 1971 in Tiszafüred kennengelernt. Johannes wollte seinen Urlaub in Ungarn verbringen und kam schließlich, nachdem es ihm am Balaton zu langweilig geworden war,

      in die Großen Tiefebene.

      Dort lernte er ein Mädchen namens Ilona kennen.

      Es war Liebe auf den ersten Blick und Johannes vergaß darüber völlig, dass er ursprünglich vorgehabt hatte, seine Reise noch fortzusetzen.

      Nein, jetzt reiste er nicht mehr weiter - er kehrte nicht mal nach Deutschland zurück.

      Stattdessen blieb er in Tiszafüred, heiratete im September seine Ilona und im Februar 73 wurde Carsten geboren.

      Ursprünglich sollte er ja Levente heißen, doch dann stieß Ilona in einem Bildband über die Nordsee, den Johannes aus Deutschland mitgebracht hatte, auf diesen einen Namen und sie fand, dass dies der schönste Name sei, den sie je gehört hatte.

      So wurde aus Levente Carsten. Sie schrieben es damals allerdings Karszten, denn wenn du es Carsten schreibst, dann würden die meisten Ungarn es in etwa wie Zorschten aussprechen - auch das hat Paul mir erklärt. Er hat während seiner Aufenthalte in Ungarn die Sprache