Henny Frank

Himmelslandtourist


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Zeitpunkt gerade Herbst, aber ich stelle mir das ganze trotzdem an einem milden Frühlingsabend vor.

      Es wird allmählich dunkel und von der Puszta her weht eine sanfte Brise in den Ort hinein. Das Storchenpaar, das in einem Horst an der Straße vor der Kirche brütet, hat sich bereits zur Ruhe begeben, doch aus dem Ligusterbusch hinter dem Kirchenschiff ertönt der Gesang einer Amsel.

       Wie gern wär ich dann dort…

      Doch auch im Oktober ist es wunderschön in Tiszafüred mit seiner stillen, klaren Luft.

      Ich schließe die Augen. Vielleicht kann ich ja wenigstens in meinen Träumen dorthin gelangen…

      Bevor ich nun hoffentlich schnell einschlafe, fällt mir noch was ein:

      Wohlmöglich habt Ihr ja den Namen Debrecen nie gehört.

      Wisst Ihr, Debrecen ist die zweitgrößte Stadt in Ungarn und die einzig größere in der Großen Tiefebene. Wie eine Festung aus Stein ragt sie aus den flachen Weiten der Puszta heraus; so jedenfalls hat es Paul mir erzählt.

      I. 9.

      Inzwischen ist es nächster Tag. Ich will nun erst mal Tibor wieder verlassen und stattdessen zu Carsten Wilke zurückkehren.

      Carsten ist gerade in der Schule.

      Er hat jetzt Sportunterricht und er sieht sich nervös um.

      Er hasst diesen Schulsport, denn hier ist die Gefahr, sich zu blamieren besonders hoch. Und auch das kennt Carsten schon:

      Seit er denken kann, bleibt er bei der Mannschaftsauswahl als letztes übrig.

      Mit zwölf Jahren hat er aber eine einigermaßen wirkungsvolle Taktik entwickelt, um dieser Demütigung zu entgehen: wenn die Gruppen ausgewählt werden, verschwindet er so oft es geht unauffällig nach draußen und bis jetzt hat zum Glück noch niemand was von dieser Strategie bemerkt.

      Wenn Carsten wieder zurückkommt, stehen die Mannschaften längst fest und es heißt lediglich noch von den Einen (herablassend): “Ach, der Wilke - nehmt ihr den noch?”,

      und die Anderen antworten (betont gnädig und ergeben):

      “Ja - wenns sein muss…”

       Oder umgekehrt…

      Nicht dass Carsten sich dabei wohl fühlen würde. Doch so ist es immer noch besser, als rum zustehen und nicht ausgewählt zu werden.

      Außerdem ändert es ja auch nichts am Ergebnis. Er geht halt in die Mannschaft, in der noch einer gefehlt hat.

       O Mann, wie er diese ganzen Ballsportarten hasst…

      Und auch heute scheint nichts anders zu sein als sonst - wenn man mal davon absieht, dass sich Carsten noch zusätzlich körperlich absolut schlecht fühlt. Er lehnt sich gegen die Tür des Geräteraumes. Ihm ist so schwindelig, dass er sich kaum aufrecht halten kann.

      Carsten wagt aber nicht, sich einfach hinzusetzen, denn einige Meter von ihm entfernt steht Marcel mit seiner Clique. Immer wieder sehen sie zu ihm rüber; grinsen und tuscheln miteinander.

      Schließlich löst sich Marcel aus der Gruppe und kommt auf Carsten zu.

       O nein - was will der von mir?

      “Na, Willy Wilke”, schnurrt Marcel, als er Carsten schließlich erreicht und sich vor ihm aufgebaut hat, “in welcher Mannschaft loosen wir heute ab?”

      Carsten antwortet nicht. Zwar hat der Schwindel ein wenig nachgelassen, doch als er jetzt an sich heruntersieht, entdeckt er ein Hämatom auf seinem rechten Arm. Carsten versucht sich daran zu erinnern, ob er sich vielleicht gestoßen hat - das passiert ihm oft, er ist ziemlich ungeschickt.

      Doch heute kann er sich nicht an einen Stoß erinnern.

      Hat er den blauen Fleck vielleicht von einer dieser Anrempeleinen, die Marcel und seine Clique ihm immer wieder zukommen lassen?

      Aber auch dazu fällt ihm nichts bestimmtes ein.

      “Hey Willy, ich red mit dir!”

      Marcel stemmt seine Arme in die Hüften und starrt Carsten unerbittlich an. Der hebt den Kopf, blickt genau in Marcels spöttisches Gesicht und sieht schnell wieder weg.

      Wie war das, was hat der ihn gefragt?

      Ach ja, in welcher Mannschaft er, Carsten, heute abloosen würde.

      Carsten spürt, dass er rot wird. Eine Antwort fällt ihm aber nicht ein und so zuckt er lediglich mit den Schultern.

      Marcel grinst verächtlich. “Weiß er nicht, der Vollspaten…”

      Er rammt Carsten seinen Zeigefinger in die Schulter.

      “Alter - was bist du bloß für n Spacken!”

      Damit lässt Marcel ihn stehen und schlendert aus der Halle.

      Carsten sieht verstohlen zu den anderen Jungen aus Marcels Gruppe.

      Sie haben alles mitbekommen und feixen vor sich hin.

      “O Mann Wilke, du bist so was von peinlich!”,

      ruft einer von ihnen und Carsten denkt für einen Moment daran, in die Umkleidekabine zu gehen. Dort wäre er wenigstens allein.

      Dann aber fällt ihm ein, dass dieser Marcel ja vielleicht gerade deshalb die Halle verlassen hat, um genau dort hinzugehen und dem möchte Carsten jetzt unter keinen Umständen begegnen.

      So bleibt er wo er ist und erträgt den Spott der anderen.

      Im Grunde erträgt er es aber längst nicht mehr, doch er ist es nicht anders gewohnt.

      So war es und so wird es immer bleiben

      Wenigstens der Schwindel ist inzwischen fast vollständig verschwunden und Carsten denkt, dass vielleicht einmal mehr sein Blutdruck viel zu niedrig war und nun wieder angestiegen ist.

       Genau - so wird es sein.

      Sein Blutdruck war im Keller und als Marcel zu ihm gekommen ist,

      stieg der vor lauter Aufregung sprunghaft an. In der Tat spürt Carsten noch immer Röte der Erregung in seinem Gesicht.

      Jetzt kommt der Sportlehrer in die Halle. Die Mannschaften sollen nun ausgewählt werden und Carsten traut sich aus Angst dort draußen Marcel zu begegnen, noch nicht mal hinaus.

      Widerstrebend geht er zu der Bank, vor der seine Klassenkameraden sich aufgestellt haben.

      Selbstverständlich bleibt er als letztes übrig, doch Carsten versucht,

      sich die Scham darüber nicht anmerken zu lassen.

      Stattdessen starrt er auf den blauen Fleck auf seinem Arm und versucht, sich doch noch daran zu erinnern, woher der wohl stammt.

      Als die Mannschaften dabei sind, auf das Spielfeld zu gehen kommt Marcel in die Halle zurück.

      Heute wird Basketball gespielt. Carsten ist froh, dass es wenigstens nicht Hockey oder Fußball ist - doch wenn er genauer darüber nachdenkt:

      Ist Basketball wirklich soviel besser?

       Nein. Eher nicht.

      Nun betritt Marcel das Spielfeld und der Sportlehrer ruft ihm zu: “Marcel, wo warst du denn? Wir haben patt - du kannst dir die Mannschaft aussuchen.”

      Marcel nickt oberflächlich. “Mir egal…”

      Er macht eine Pause und lässt seinen Blick angestrengt umherschweifen.

      Auf Carsten bleibt er schließlich haften. “Aber wenn ichs mir recht überlege, dann geh ich wohl doch lieber in die Mannschaft, in der dieser Wilke nicht ist…” Sein Blick