Henny Frank

Himmelslandtourist


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Irgendwann wird es schon wieder so weit sein, aber bitte nicht sofort…

      Dr. Wegener ist noch ziemlich jung und ich hab schon manche hinter vorgehaltener Hand sagen hören, er habe sich noch nicht so recht an das Sterben hier gewöhnt. -

      Ich lehne mich zurück und nehme langsam Pauls Tuch ab.

      Wenn ich ganz allein bin, sitze oder liege ich manchmal auch mit kahlem Kopf rum und gerade jetzt möchte ich Pauls Tuch hier in meinen Händen spüren.

      Ich halte mich an seinem Tuch fest und stelle meinen MP3-Player an.

      Ich schließe die Augen und sofort sehe ich wieder die weiße Pastorenvilla in Tiszafüred vor mir.

      Sie befindet sich direkt neben der evangelischen Kirche am Stadtrand und wenn Tibor zu Hause ist, kann er die Turmuhr zu jeder halben und vollen Stunde schlagen hören.

      Mittags um zwölf schlägt sie sogar minutenlang - das hat Paul mir erzählt. Ihr heller, klarer Klang ertönt gleich nach der Glocke der katholischen Kirche.

      Die katholische Kirche steht übrigens in der Innenstadt, direkt an der Hauptstraße; der Debreceni Utca.

      In Tiszafüred kommt Tibor jetzt aus dem Proberaum.

      Er hat heute einen ziemlich guten Tag gehabt und ist zufrieden mit sich und der Welt.

      Neben dem täglichen Spiel ist er gerade dabei, ein paar neue Songs zu schreiben und dabei kann er einen schier unglaublichen Ehrgeiz entwickeln. Nun ist er müde, aber auch glücklich, denn er hat wirklich viel erreicht.

      Umso wütender wird er dementsprechend am Abendbrotstisch, als seine Mutter wieder anfängt, ihm Vorhaltungen zu machen.

      Sie verlangt zum Beispiel, dass er jetzt, wo er mit der Schule fertig ist, sich endlich einen “ernstzunehmenden Ausbildungsplatz” suchen soll. Ohnehin ist sie ziemlich verdrossen darüber, dass er nie zur Oberschule gegangen ist. Wisst Ihr, sie gehört zu diesen Leuten, für die nichts anderes zählt.

      “Was glaubst du, was ich heute den ganzen Tag lang gemacht hab?“

      Mit bewegter Geste stellt Tibor sein Glas auf den Tisch zurück.

      “Ich hab gearbeitet!”

      Judit, seine Mutter, zieht geringschätzig die Mundwinkel nach unten.

      “Das soll Arbeit sein?! Das ist doch wohl allenfalls ein Hobby!”

      Sie ist ja Musikprofessorin und irgendwie hat sie Tibor bis heute nicht recht verziehen, dass er sich mit zwölf Jahren für die Gitarre und nicht in erster Linie für das Klavier entschieden hat.

      Wäre es nach ihr gegangen, hätte Tibor Pianist werden sollen.

      Er hat bereits mit vier Jahren angefangen zu spielen und stellte sich schnell als beachtliches Talent heraus. Trotzdem hat es das Instrument nie geschafft, ihn vollständig für sich zu vereinnahmen. Nein, er hatte und hat so viele andere musikalische Vorlieben und seine Mutter fand und findet, dass er zuviel herumexperimentiert.

      Ihrer Meinung nach ist das nichts halbes und nichts ganzes und wie sollte Tibor bei diesem Chaos eines Tages von der Musik leben können?

      Selbstverständlich irrt sie aber - Mann, wie die sich irrt…

      In Wirklichkeit ist Tibor nämlich weder konfus noch planlos,

      Nein, er ist bloß vielfältig und genau das ist eine seiner großen Stärken als Musiker.

      Nun sieht Tibor seine Mutter kühl an.

      “Pff. Schlimm, wie wenig Ahnung du hast…“

      Sein Blick gefriert zu Eis. “Das was du ein Hobby nennst, ist der beste Metal in ganz Ungarn. Und nicht nur das, sondern auch weit darüber hinaus!” An Selbstbewusstsein mangelt es Tibor ja nicht.

      “Klar, so wird’s sein”, murmelt sein Bruder vor sich hin. Er ist zwei Jahre älter und heißt Ferenc, was bei uns soviel wie Franz heißen würde.

      Die Mutter schüttelt unzufrieden den Kopf. Sie kann nicht viel anfangen mit Tibor. Im Ernst, dieser Judit ist er ziemlich suspekt, doch ich weiß gar nicht, ob sie ihn überhaupt gut genug kennt, um ihn angemessen beurteilen zu können. Das Verhältnis zwischen Tibor und seiner Mutter ist - bis heute - ziemlich distanziert und kühl .

      Sie nahm damals Tibors musikalische Ambitionen nicht ernst,

      fand ihn mit seinem mäßigen Mittelschulabschluss ungebildet und kannte nur das selbstverliebte Zerrbild, dass er selbst von sich in die Öffentlichkeit getragen hatte.-

      Tibor hat inzwischen den Blick gewendet und sieht zu Ferenc hin.

      “Hat einer dich Zinkenträger um deine Meinung gebeten?”,

      fragt er betont gelangweilt und zieht abfällig die Brauen seiner hellblauen Gletscheraugen nach oben.

      “Und jetzt zieh dir nen Sack übern Kopf, Rübezahl…”

      In der Tat ist Ferenc´ Nase ein wenig lang und auch sonst entspricht er nicht gerade einem gängigen Schönheitsideal.

      Ähnlichkeit mit Tibor hat er jedenfalls nicht und Tibor wird auch nicht müde, Ferenc auf seine optischen Mängel hinzuweisen. Besonders auf die Nase seines Bruders hat er es abgesehen.

      Dabei hat Ferenc ein liebes Gesicht; ohne schön zu sein ansprechend und charismatisch. Vor allem aber ist er im allgemeinen ein friedfertiger und besonnener Junge - bloß Tibor bringt ihn regelmäßig auf die Palme.

      Ferenc erwartet von seinen Mitmenschen eine gewisse Ernsthaftigkeit in deren Lebensauffassung und die kann er bei seinem jüngeren Bruder nicht finden.

      Seiner Meinung nach ist Tibor ein oberflächlicher Schönling und Blender, dem andere Menschen völlig egal sind - es sei denn sie gereichen ihm gerade in irgendeiner Form zum Vorteil.

      Auch er sieht also nur jenes Zerrbild von Tibor und außerdem sitzt der Keil zwischen den Beiden zu jener Zeit so tief, dass Ferenc gar kein anderes Bild zugelassen hätte.

      “Ich muss mich nicht von dir beleidigen lassen”, entgegnet er jetzt so beherrscht wie möglich.

      Wenn er ehrlich ist, tut Ferenc sein Spruch inzwischen fast schon wieder leid. Ohne Frage ist Tibor ein selbstsüchtiger Idiot - aber ein schlechter Musiker ist er nicht und das weiß auch Ferenc.

      Wer weiß - wohlmöglich kommt der eines Tages, begabt und charismatisch wie er ist, tatsächlich noch groß raus.

      Doch solche Gedanken würde Ferenc selbstverständlich niemals laut äußern. Im Gegenteil - eher würde er sich die Zunge blutig beißen,

      als diesem eingebildeten Kerl irgendwelche Zugeständnisse zu machen.

      “Musst du immer auf deinem Bruder herumhacken?”, fragt die Mutter verärgert.

      “Genau - ich find das auch nicht gut von dem, doch er kann wohl nicht anders.” Tibor grinst arglos vor sich hin.

      Selbstverständlich weiß er nur zu gut, an wen diese Unmutsbekundung in Wahrheit gerichtet ist.

      Ferenc sieht ihn bloß kurz an und seufzt. Diesmal will er sich nicht provozieren lassen, das passiert ihm ohnehin viel zu oft.

      Dieses Getue immer bei diesem Tibor, denkt er. Wahrhaftig, für den ist die ganze Welt nichts weiter als ne riesige Theaterbühne und die Leute, denen er darin begegnet, sind ein - mehr oder weniger - dankbares Publikum.

      “Ich meine nicht Ferenc, sondern dich”, klärt die Mutter jetzt überflüssigerweise Tibor auf und der macht sich noch nicht mal die Mühe, überrascht auszusehen.

      “Echt? Ach was…”

      Dann steht er abrupt auf und schiebt seinen Stuhl energisch an den Tisch zurück. Er weiß schon, was jetzt kommen wird:

      Die