Henny Frank

Himmelslandtourist


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      Fest steht jedenfalls, dass Paul und ich diese Leukämie einfach nur ätzend finden und insbesondere ich verspür fast nichts als Angst -

      und dass obwohl ich derzeit immerhin noch besser dran bin als Paul.

      Aber Paul ist ja viel stärker als ich.

      Zwar hat auch er Angst, aber nicht so wie ich.

      Ich stelle jetzt nachdenklich meine Tasse wieder auf den Tisch.

      Wisst Ihr, ich hab das Gefühl, in den letzten zehn Minuten mindestens einen Liter von diesem Zeug getrunken zu haben, doch die Tasse ist noch nicht mal halb leer.

      Ich wende den Blick und sehe aus dem Fenster.

       Paul, hoffentlich geht es dir schnell wieder besser - wenn du nur endlich einen Spender gefunden hast. Denn sonst können sie nichts mehr für dich tun, das weiß ich… Auch wenn ich es am liebsten gar nicht so genau wissen würde. Aber ich weiß es eben. Du weißt es ja auch.

      Unruhig zupfe ich an meinem Kopftuch herum und mein Vater fragt mich nun in meine Gedanken hinein: “Woher hast du das?”

      “Was?”, murmle ich.

      “Na, dieses Tuch, das du heute trägst. Ist das neu?”

      Ich nicke. “Ja, das ist neu. Paul hat’s mir geschenkt. Er meinte, dass sei cooler, als die Mütze.”

      “Da hat er recht.” Mein Vater sieht regelrecht begeistert aus. Merkwürdig nur, dass ihm das Tuch bis jetzt noch gar nicht aufgefallen zu sein scheint.

      ”Wie geht es Paul überhaupt? Hast du was von ihm gehört?“, will meine Mutter wissen.

      Ich spüre, wie sich mein Blick regelrecht verdunkelt.

      “Wir haben gestern telefoniert. Ihm geht’s nicht gut…”

      “Ja…”

      Meine Eltern tauschen einen betretenen Blick. Dann räuspert sich meine Mutter und fragt: “Möchtest du noch was, Henny?”

      Offenbar will sie nun das Thema wechseln, doch das will ich nicht.

      “Nee, ich will nichts mehr. Ich bin froh, wenn dieser Tee hier alle ist.”

      Ich starre eine Weile vor mich hin.

      “Und was Paul betrifft”, fahre ich schließlich fort, “könnte ich genauso gut an seiner Stelle sein.”

      Ich weiß zwar, dass meine Eltern so was nicht hören wollen.

      Aber so ist es ja nun mal. Es tut mir auch, sollte Paul sterben, nicht nur für ihn leid, sondern ebenso für mich.

      Ich werde dann absolut niemanden mehr haben, mit dem ich sprechen kann und wieder allein sein.

      Meine Eltern sind immer viel zu betroffen, andere Verwandte hab ich nicht und was meine Freunde betrifft - also, die kommen immer seltener. Anscheinend haben sie gemerkt, dass Leukämie etwas länger dauert und auch sonst nicht besonders aufmunternd ist.

      Zwar versuche ich, mir das so wenig wie möglich anmerken zu lassen, aber krank bin ich eben doch.

      Ich starre auf den Tisch.

       Selbstverständlich tut es mir in erster Linie für dich leid, wenn du stirbst, Paul. Schließlich bist du es ja, der dann tot ist. Wie das klingt… Na ja.

       Es tut mir aber auch leid für deine Eltern, deine Schwester, deine Freunde und alle anderen die dich so oft besucht haben.

       Na ja, du verstehst doch - ich glaub, die sind dann aber nicht so allein wie ich. Ich hab nur dich.

       Was soll bloß aus mir werden, wenn du gehst.

       Aber nein, du gehst ja gar nicht…

      Ich starre trüb vor mich hin.

      Gibt es denn außer Paul wirklich niemanden, der mich versteht?

      Und gab es außer ihm überhaupt schon mal jemanden?

       Nein - nie…

      Aber jetzt - jetzt wird es jemanden geben.

       Wenn ich nur erst mal genauer darüber nachgedacht hab…

      Tibor gibt es ja schon, aber ich glaub, da ist noch jemand anderes.

      Einer, der für mich wichtig sein wird…

      Noch viel wichtiger als Tibor. Eben weil er mich so gut versteht.

       Ja, genau das ist es - er kann all das verstehen.

      I. 6.

      Seht Ihr den blassen, unscheinbaren Jungen, der dort in Kaltenkirchen an der Alvesloer Straße entlanggeht? Wie trüb und freudlos er vor sich hinblickt, doch als er plötzlich in den Zweigen einer Hainbuche hinter einem Gartenzaun ein Rotkehlchen entdeckt zu lächeln beginnt?

      Das ist Carsten Wilke.

      Carsten Wilke liebt Vögel und er bleibt jetzt sogar stehen, um das Tier genauer zu betrachten. Als es nach einer Weile schließlich davonfliegt, geht er weiter. Die Straße herunter, bis er einen kleinen Seitenweg erreicht hat. Den schlägt er ein und geht durch eine Siedlung auf einen Wendehammer, der das Ende des Weges markiert, zu.

      Dort steht ein großes rotes Satteldachhaus und hier wohnt Carsten mit seinen Eltern.

      Er geht auf das Haus zu und wirft einen prüfenden Blick in den Garten. Die Blätter der Korkenhasel verfärben sich bereits.

      Es ist September, langsam wird es Herbst und auch das Laub der

      Kirsch- und Apfelbäume auf der kleinen Streuobstwiese neben dem Haus wirkt jetzt nicht mehr so sattgrün wie im Sommer.

      Ganz besonders aber liebt Carsten die Lärche, die am Rande der Hecke vor dem Küchenfenster steht. Wie viele Vögel hat Carsten schon in diesem Baum gesehen! Kernbeißer, Elstern, verschiedene Meisenarten, Finkenvögel, Drosseln, Sperlinge, Ringeltauben, Kleiber und ein Rabenkrähenpaar, das oft mit seinem Nachwuchs vorbeikommt.

      Den Tieren des Gartens bietet die Lärche jedenfalls eine reichhaltige Nahrungsquelle und ein sicheres Versteck.

      Carsten wirft noch einen letzten Blick auf die beiden Grünfinken,

      die durch das Geäst schwirren. Dann geht er weiter.

      Je näher er der Haustür kommt, desto langsamer wird er allerdings.

      Wenn er an zu Hause denkt, hat Carsten nämlich gar kein gutes Gefühl. Er weiß, dass seine Mutter noch auf der Arbeit ist, doch vielleicht ist der Vater schon zu Hause und das wiederum könnte heißen, dass…

      Carsten steht vor der Haustür und seufzt.

      “Hoffentlich nicht”, murmelt er vor sich hin. Dann dreht er den Schlüssel im Schloss herum.

      Im ersten Augenblick scheinen sich seine düsteren Vorahnungen nicht zu bestätigen. Doch dann entdeckt Carsten einen Schuh seines Vaters,

      der vor der Wohnzimmertür mitten auf dem Boden liegt und nun schlägt ihm auch Alkoholdunst entgegen.

      Carsten seufzt noch einmal, atmet tief durch und betritt das Haus.

      Alles bleibt ruhig und Carsten zieht im Vorflur langsam seine Schuhe aus. Dann geht er ins Wohnzimmer.

      Vor dem Sofa findet er den zweiten Schuh des Vaters und unmittelbar daneben auch dessen Jacke.

      Der Vater selbst liegt schlafend auf einem Sessel. Auf dem Tisch vor ihm steht eine Flasche Korn. Carsten nimmt sie in die Hand und betrachtet sie eingehend. Die Flasche ist zwar noch zu etwa zwei Dritteln gefüllt,

      aber wer