Henny Frank

Himmelslandtourist


Скачать книгу

coole Sau, dieser Tibor, findet Ihr nicht auch.

      Ich komme noch um vor Bewunderung.

       So selbstbewusst und attraktiv ist der… Wie Paul…

      Ich kann ihn genau vor mir sehen, wie er über die Wiese bei der Kirche förmlich davon schwebt; gut gebaut und leicht.

      Genauso ging Paul damals, als er mir draußen auf dem Gang vor den Krankenzimmern entgegen oszillierte, oder wie das heißt.

      Ich sehe nun auf und stelle fest, dass von der gelblichen Flüssigkeit zumindest in dem Fläschchen kaum noch was zu sehen ist, wohl aber im Katheter.

      Manchmal beunruhigt es mich ja, wenn ich das Gefühl hab, dass ich mich zu absolut nichts mehr aufraffen kann. Doch diese Sache mit Tibor fasziniert mich. Soviel weiß ich jedenfalls schon:

      Tibor kommt aus Ungarn; aus einem kleinen Ort in der Puszta.

      Den Namen weiß ich allerdings nicht, aber vielleicht kennt Paul ja einen. Er war früher nämlich oft mit seinen Eltern dort.

      Tibor ist sechzehn Jahre alt, zwei Jahre jünger als wir.

      Paul und ich werden dieses Jahr beide achtzehn; Paul im März und ich im Februar.

      Tibors Vater ist der Pastor der evangelischen Kirchengemeinde des Ortes und seine Mutter ist Musikprofessorin.

      Tibor selbst hat gerade die Schule hinter sich gebracht und von daher Zeit, sich uneingeschränkt seiner Zukunft zu widmen.

      Tibor ist nämlich Musiker. Vor zwei Jahren hat er ne Band gegründet, deren Namen ich aber leider auch noch nicht weiß. Es wird ja wohlmöglich sogar ein ungarischer sein und auf dieser Sprache kann ich ungelogen kein Wort.

      Ich frage mich, wie ich überhaupt auf Ungarn als Tibors Heimat gekommen bin. Bestimmt liegt es an der Dokumentation über die Große Tiefebene, die Paul und ich vor einiger Zeit im Fernsehen gesehen haben, und auch daran, dass Paul schon so oft dort war.

       O Mann, wie sehr wünsch ich mir, dass ich die Puszta auch mal gesehen hätte! Nicht nur im Fernsehen, sondern ganz in echt…

      Ich kann mich genau daran erinnern, wie ich auf den Bildschirm gestarrt hab und ganz plötzlich Sehnsucht nach all dem verspürte; nach der unendlichen Weite und nach dem grenzenlosen Himmel darüber.

      Während ich hier jetzt auf meinem Bett liege, sehe ich wieder die grasenden Graurinderherden vor mir und die Ziehbrunnen, die aus der Weite herausragen. Heute Abend vor dem Einschlafen werde ich die ersten sechs ungarischen Rhapsodien von Liszt hören, soviel steht fest.

      “Ja“, hatte Paul mir nach der Sendung bestätigt, “das ist wirklich absolut schön da. Weißt du, Sandor Petöfi, das war ein ungarischer Volksdichter, also, der hat geschrieben, dass die Puszta dem oberflächlichen Betrachter als karg und trist erscheinen mag - es ist, als trage sie einen unsichtbaren Schleier, den sie nicht für Jeden lüftet. Doch für denjenigen, für den sie es tut, offenbart sie sich als die Schönste von allen.”

      Dafür liebe ich Paul. Er ist nicht nur hübsch, sondern er ist auch belesen und klug und er kennt so schöne Sachen und Zitate.

      Die Puszta jedenfalls lüftete ihren Schleier für mich und nun lebt Tibor dort.

      Mir fällt jetzt sogar noch was ein: Ich sehe wieder diesen See vor mir,

      aus dessen dicht mit Schilf bewachsenen Saum fünf wunderschöne weiße Seidenreiher in die Luft emporstiegen…

      Ich spüre einen Schauer, so schön war das, und jetzt weiß ich, dass es wahrhaftig kein Zufall ist, dass ich Tibor gerade dort angesiedelt hab.

      Ein Problem könnte allerdings das mit sich bringen:

      Ich hab absolut keinen Schimmer über die Lebensverhältnisse in Ungarn.

      Ich weiß lediglich, dass es früher mal zu den sozialistischen Staaten des so genannten Ostblocks gehörte, hier aber so ne Art Sonderstellung eingenommen hatte. Das heißt wohl soviel wie dass Ungarn - wie das ehemalige Jugoslawien - für einen Staat des Warschauer Paktes ziemlich westlich orientiert war, über ein reichhaltiges Warenangebot und einigermaßen passable Lebensbedingungen verfügte sowie vom Westen touristisch erschlossen war. Dies galt insbesondere für den Balaton, die Puszta und die Hauptstadt Budapest, glaub ich.

      1989 öffnete Ungarn seine Grenze zu Österreich, sodass viele Bürger der DDR in den Westen fliehen konnten.

      Damit leitete Ungarn den Zusammenbruch des Sozialismus in Europa ein. War wohl eh gar kein richtiger…

      Heute steht Ungarn öfter mal wegen Orban in der Kritik, mehr weiß ich aber nicht.

      Ich seufze.

      O Mann, ich hab von Politik wirklich absolut keine Ahnung - und von Außenpolitik schon gar nicht.

      Seit ich krank bin, sehe ich nicht mal mehr Nachrichten.

      Vielleicht ist das alles aber gar nicht so schlimm, weil ich mich wohlmöglich ohnehin vor allem auf Tibor und seine Musik konzentrieren soll. Schließlich will ich ja kein Sachbuch oder nen Tatsachenbericht über die Politik und die Lebensverhältnisse im heutigen und historischen Ungarn verfassen.

      Ich sehe nachdenklich vor mich hin und urplötzlich hab ich wieder so eine von meinen Ideen:

      Vielleicht spielt die Geschichte ja gar nicht heute, sondern, - sondern schon viel früher - so um 1989 oder in den frühen Neunzigern des letzten Jahrhunderts.

      Des letzten Jahrhunderts

      Das klingt, als wäre das sonst wie lange her, aber in Wirklichkeit sind es noch nicht mal dreißig Jahre.

      Trotzdem schüttle ich jetzt den Kopf über mich selbst.

      Zwanzig, dreißig oder vierzig Jahre - wie um alles in der Welt komm ich bloß auf so was? Was ist so überzeugend oder gar cool daran, Tibor in ne Zeit versetzen, die immerhin fast ne ganze Generation zurückliegt?

      Ich denke angestrengt nach, doch außer dass ich das irgendwie gut find, fällt mir kein Grund ein.

      Sei’s drum, ich belasse es jetzt einfach dabei und falls ich den Gedanken irgendwann doch nicht mehr so toll finden sollte, kann ich Tibor ja wieder in die heutige Zeit zurückholen.

      Und so lange ist das doch wie gesagt auch nicht her -

      jedenfalls reden wir nicht über die Zeit des Barock oder gar über das Mittelalter.

      Heutzutage ist Tibor längst ein bekannter Musiker, und das nicht nur in Ungarn, sondern auch weit darüber hinaus.

      Genaues weiß ich noch nicht, jedenfalls aber macht er Metal.

      1989 wusste Tibor noch nicht, wie berühmt er werden sollte,

      wenngleich ihm das, selbstbewusst und gesegnet wie er ist, keinesfalls unmöglich oder abseitig erschienen wäre.

      Er verfügte und verfügt über eine große musikalische Begabung,

      ist ehrgeizig, zielstrebig und wie beseelt von der Musik, die er bereits damals ausnahmslos selbst schrieb.

      Tibor spielt (unter anderem) Gitarre. Einen Bassisten und einen Schlagzeuger hatte er auch schon und damals fehlte ihm zu seinem Glück nur noch eins: die ultimative Stimme.

      Wie die klingen soll? Keine Ahnung mal wieder, gut würd ich sagen, übermäßig gut. Aber das ist wohl etwas zu vage und außerdem versteht ja auch jeder was anderes darunter.

      Ich kann nur sagen, dass es viel war, was Tibor diesbezüglich verlangte. Er zumindest wusste, wie diese Stimme klingen sollte und er wurde allmählich ungeduldig, weil er sie nicht finden konnte…

      Die Tür zu meinem Zimmer öffnet sich und Steven kommt herein.

      Steven ist einer der Krankenpfleger auf der Onkologischen.