Felix Heidenberger

Hermes oder Die Macht der grauen Zellen


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trafen sich in der Esoterikabteilung. Überraschend großer Andrang herrschte bei den Wortabstinenzlern, wo statt Sprache das Bild als virtuelle Nahrung verspeist werden konnte.

      Am Stand des C. H. Buchmann Verlages strömte die Menge vorbei. Nur hin und wieder streifte ein Blick die Reihe der Neuerscheinungen. Der Name Guido Hermes auf einem der Titel fiel manchem auf. Sein Werk über die Frauenfrage im alten Rom war letztes Jahr fast ein Bestseller gewesen. Doch das Gedränge schob die Menschen weiter. Schließlich blieb ein älterer Herr stehen und ließ sich das neue Buch von Guido Hermes zeigen.

      Der Titel Mischkrug sagte ihm nichts. „Ein Roman?“, stellte er überrascht fest. „Wusste gar nicht, dass Hermes auch Romane schreibt.“

      „Sein erster!“, erklärte die junge Dame vom Verlag, die den Stand betreute.

      Der Herr blätterte ein wenig, kehrte schließlich zur Widmung am Anfang zurück und las:

       Es ist gleich ungesund, unvermischten Wein oder pures Wasser zu trinken. Wein mit Wasser vermischt hingegen schmeckt vorzüglich. Ähnlich hängt es auch vom Aufbau der Erzählung ab, ob sie den Geist des Lesers erfreut. (2 Makk 15, 39)

      „Worum geht’s in dem Buch?“, fragte der Herr unsicher. „Ums Trinken?“

      „Oh nein“, flötete die junge Dame. „Es ist ein philosophisches Werk. Spielt im alten Athen.“

      Er reichte das Buch zurück. „Aha!“, sagte er und entfernte sich.

      Eine Dame, aufmerksam geworden, trat näher und bat, sich das Buch ebenfalls ansehen zu dürfen. Auch sie blätterte darin, las kopfschüttelnd die Widmung und den Text auf der Umschlagrückseite.

       Der Kratér, der tönerne Mischkrug, in dem nach altgriechischem Brauch der Wein mit Wasser vermischt wurde – der Bekömmlichkeit willen und der Trunkenheit vorzubeugen –, ist dem Altphilologen Guido Hermes auch Maßstab für gerechte Ausgewogenheit im Umgang der Menschen miteinander wie auch im Verhältnis der Völker und Staaten zueinander. In der romanhaften Bearbeitung von Platons Dialogepos Politeia (Der Staat) entwickelt sich das Kräftespiel der Gegensätzlichkeiten zu einem spannenden und unterhaltsamen Wettstreit der Meinungen. Ein philosophisch tiefgründiges Werk von zeitloser Gültigkeit.

      Die Dame las es noch einmal. Scheu lächelnd legte sie das Buch beiseite. „Ist nicht das, was ich suche“, sagte sie. „Schade.“

      Lebhafter ging es am anderen Ende der Halle zu, wo Krimiverlage einen Gemeinschaftsstand hatten. Eine Menschentraube hatte sich vor der Nische gebildet, in der Kameras und Scheinwerfer aufgebaut waren. Ein bekannter Autor sollte interviewt werden. Das Opfer sah allerdings nicht so aus, als könne es die grausigen Geschichten geschrieben haben, die seinen Namen berühmt gemacht hatten. In seinem schlichten Konfektionsanzug mit gestreifter Krawatte glich er eher einem kleinen Beamten. Vom Scheinwerferlicht geblendet blinzelte er ins Publikum. Nervös rückte er die umrandete Brille zurecht, die ihm ständig auf die Nase rutschte.

      „Kommissar Vanderbilt – ist das Ihr wirklicher Name?“, eröffnete der Fernsehmann das Gespräch.

      „Ein Pseudonym“, antwortete der Autor unwirsch.

      „Ihren richtigen Namen wollen Sie uns nicht sagen?“

      „Nein. Der spielt keine Rolle.“

      „Aber Sie sind – oder waren einmal – Polizeikommissar?“

      „Nein. Der Titel gehört zum Pseudonym.“

      „Gut. Dann bleiben wir bei Vanderbilt.“ Der Kulturredakteur schmunzelte verbindlich. „Herr Vanderbilt, können Sie uns erzählen, wie Sie darauf kamen, Kriminalromane zu schreiben?“

      Der Pseudokommissar schob die Brille hoch. Zufrieden, endlich zur Sache kommen zu können, fing er an: „Nach dem Tod meiner Eltern vor einigen Jahren fand ich auf dem Speicher einen Karton mit solchen Heften. Sie wissen schon: diese billigen Hefte, die es früher mal gab. Es waren die Abenteuer von Tom Shark und seinem Freund Pit Strong. Offenbar hatte sie mein Vater in seiner Jugend gelesen und dann vor mir versteckt. Es waren Kurzkrimis, geschrieben von Pit Strong, dem Assistenten von Tom Shark, einem Privatdetektiv. War natürlich auch ein Pseudonym. Vorbild für die beiden dürften Sherlock Holmes und sein Partner Dr. Watson gewesen sein. Das hat mich darauf gebracht, auch so etwas zu schreiben.“

      „Das heißt, Sie haben nachgemacht, was ein anderer schon vor Ihnen nachgemacht hatte?“

      „Nein. Ich habe nichts nachgemacht. Ich brauchte keinen Partner. Ich schreibe alles selbst.“

      „Ja. Kommissar Vanderbilt erlebt alles selbst. Sie schreiben ja in der Ich-Form. Wie schaffen Sie das?“

      „Man braucht doch nur in die Zeitung zu schauen. Lug und Betrug, Mord und Totschlag sind an der Tagesordnung. Ist wie eine Speisekarte. Ich wähle mir einen Fall aus, der Rest ist dann Fantasie.“

      „Ihre Fantasie ist in der Tat beachtlich. Aber diesen unheimlichen Jack Mori, Präsident der Unterwelt, der in all Ihren Romanen vorkommt, haben Sie nicht erfunden. Der kommt schon bei Sherlock Holmes vor. Da heißt er allerdings Professor Moriarty. Ist es nicht so?“

      „Richtig. Doch Moriarty ist verschwunden. Ich hab ihn wiederentdeckt. Jetzt nennt er sich nur noch Jack Mori. Er ist unsterblich.“

      „Ohne dieses Verbrechergenie scheinen Sie nicht auszukommen. Mori bleibt aber immer im Hintergrund – wie die Spinne im Netz, die die Fäden der Handlung knüpft. Keiner hat Mori je zu Gesicht bekommen. Sie beschreiben nicht, wie er aussieht. Warum?“

      „Er ist das personifizierte Böse.“ Vanderbilt setzte sich in Positur, als müsse er die Feststellung unterstreichen.

      Der Redakteur beugte sich vor und betrachtete sein Gegenüber, als sehe er ihn zum ersten Mal. „Sind nicht vielleicht Sie selbst dieser Jack Mori?“

      „Was fällt Ihnen ein!“ Vanderbilt gab sich entrüstet. „Verwechseln Sie nicht den Autor mit den Figuren seines Romans!“

      „Nun – Sie selbst haben sich ja zu einer Romanfigur gemacht, Kommissar Vanderbilt“, konterte der Fernsehmann. „Im Roman betonen Sie immer wieder – als Kommissar Vanderbilt –, Sie könnten einen Fall nur lösen, wenn Sie sich ganz in die Person des Täters versetzten. Es geht so weit, dass Kommissar Vanderbilt in einem Fall sogar schon kurz davor ist, den gleichen Mord zu begehen, den er aufklären will.“

      „Ganz recht.“

      „Das ist Ihre Masche, wenn ich so sagen darf. Das Rezept Ihres Erfolges. Ihr eigenes Rezept?“

      „Ich weiß, worauf Sie anspielen. Es war auch die Methode von Father Brown, einer Kunstfigur von Chesterton. Aber diesem Pater Braun – die Figur spukt ja noch immer herum – ging es um die Seele des Täters. Er wollte den Verbrecher unbedingt katholisch machen. Deshalb musste er sich seiner Seele bemächtigen. Kommissar Vanderbilt will keine Seelen retten. Er will das Böse vernichten.“

      „Dabei verzichtet er auf die forensischen Hilfsmittel, wie sie bei Kriminalromanen heute üblich sind: Computernetzwerk, DNA-Analysen, Lügendetektor und all den technischen Schnickschnack, wie er sonst in Krimis vorkommt. Warum?“

      „Wie gesagt – oder habe ich es noch nicht gesagt? –, den Kampf gegen das Böse, gegen das Verbrechen kann man nicht mit Waffen und auch nicht mit raffiniertesten technischen Mitteln gewinnen, sondern allein, indem man die Wurzel des Bösen im Menschen bloßlegt.“

      „Das geht aber bei Ihnen offensichtlich nicht, ohne dass Sie sich in Ihren Romanen ausführlich mit der Beschreibung der schlimmsten, gemeinsten und abscheulichsten Untaten beschäftigen.“

      „Man muss das Böse beim Namen nennen. Finden Sie nicht?“

      „Nun ja. Jedenfalls schätzen das Ihre Leser.“

      Das Publikum spendete Beifall. Der Redakteur nahm die Unterbrechung wahr, das Interview zu beenden. „Herr Vanderbilt, ich danke Ihnen für das kurze, aufschlussreiche Gespräch.“