Felix Heidenberger

Hermes oder Die Macht der grauen Zellen


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junge Leipzigerinnen, die gestutzten Haare grell gefärbt, lila die eine, giftgrün die andere, hatten auch applaudiert, zögerten aber unentschlossen. „Wie findst’n den?“, wandte sich die Lilagefärbte an ihre grüne Begleiterin. „Ich find’n gut. Seine Romane hab’ch alle gelesen. Den letzten verfilmen se sicher wieder.“

      „Man sieht’s ihm gar nich an“, sagte die Grüne. „Hatte mir den Kommissar Vanderbilt andersch vorgestellt. So wie im Film – als richtchen Kerl.“

      „So wie hier is er aber in echt“, meinte die andere. „Der Kommissar is ja nur ne Erfindung.“

      „Wie der Jack Mori, der Präsident der Unterwelt. Im Film is der immer nur ’n Schatten.“

      „Vielleicht gibt’s den gar nich.“

      „Doch, sicher“, meinte die Grüne. „Der kommt doch in jeder Geschichte vor.“

      „Ja, aber nur als Einbildung.“

      „Das personifizierte Böse. So hat er gesagt.“

      „Ebende“, gab Lila zu. „So was gibt’s ja in Wahrheit gar nich.“

      Jemand stand dicht hinter den beiden Frauen und machte sich bemerkbar. „Entschuldigen Sie, dass ich mitgehört habe. Sie lesen wohl viel Kriminalromane?“

      Die Punkys wandten sich um, leicht erschrocken über das Aussehen des Fremden. Die grauen Haare hingen ihm in Strähnen bis über die Schultern, der buschige Schnurrbart verdeckte den Mund. Ein grün gestreifter Kapuzenmantel ließ ihn wie einen Mönch oder Gesundheitsapostel erscheinen. Die Augen blickten starr, als wolle er die Frauen hypnotisieren.

      „Ja. Warum?“, antworteten beide.

      „Das sollten Sie nicht“, sagte er eindringlich. „Sie vergiften sich mit dem Bösen.“

      Beide lachten. „Keene Angst“, sagte Lila, die etwas Ältere. „Bis jetze hat’s mer noch nich geschadet.“

      „Mir ooch nich“, pflichtete Grün bei.

      „Oh – Sie merken es erst, wenn es zu spät ist“, sagte der Apostel. „Sie müssen gute Bücher lesen: über das Schöne in der Welt – und über die Liebe!“ Er schnalzte mit der Zunge.

      „Hauen Se ab! Sie belästigen uns“, herrschte ihn Lila aufgebracht an. Sie sah, dass der Kapuzenmann ein Bündel Zettel in der Hand hielt – Werbung für Porno oder Erotikzeug, wie sie vermutete.

      Der Mann reichte ihr einen der Zettel. „Sie denken Schlechtes über mich“, sagte er betrübt. „Ich sehe es Ihnen an. Ein Zeichen, wie sehr Sie schon vergiftet sind. Hier – lesen Sie das!“ Er drängte ihr den Zettel auf. „Es ist nichts Schlechtes.“ Damit verschwand er in der Menge.

      Gemeinsam warfen die Frauen einen Blick auf den Zettel. Es war ein buntes Flugblatt. Auf hellgrünem Grund leuchteten mit Blättern umkränzte Blumen, im Gezweig zwitscherten Vögel. So umrandet stand dort mit zierlicher Handschrift:

       Wir bewundern die Schönheit der Natur, die Schönheit einer Rose, auch wenn sie Dornen hat; die Schönheit eines Tigers, auch wenn er ein Raubtier ist; die Schönheit von Bergen und Seen: Die ganze göttliche Schöpfung ist schön. Sie ist schön, weil sie gut ist – im Gleichgewicht immer, harmonisch, zweckmäßig.

       Auch der Mensch, Krone der Schöpfung, ist schön in seinem Körper, solang er gesund ist, denn er ist Teil der Natur. Wird er krank, wandelt sich das Schöne zum Schlechten, das Gute zum Bösen. Deshalb wacht der Mensch über seinen Körper, damit er gesund bleibt. Auch über seinen Geist muss er wachen, denn der Geist – sein Verstehen, Denken und Leiten – herrscht über sein Handeln. Lässt er Schlechtes einfließen in seinen Geist, wird schnell auch sein Denken schlecht und böse sein Handeln. Deshalb soll sein Denken immer nur gut sein und verschlossen gegen das Schlechte und Böse. Dann geht es auch ihm gut. Dabei helfen will Ihnen

       Ramatullah Kashmir

       Naturarzt und Heilkundiger

       Halle 4, Esoterik-Stand

      „Ne Werbung“, stellte Lila fest. „Der schreibt wahrscheinlich Bücher über so’n Quatsch.“ Sie wollte den Zettel wegwerfen, die Freundin nahm ihn ihr ab.

      „Lass mal! Ich schau mir das mal an in Halle 4.“

      3

      Als der ICE aus München in Leipzig eintraf, begann es bereits zu dunkeln. Professor Hermes nahm sein Handgepäck, um auszusteigen. Sein Reisebegleiter, der so merkwürdig in Schwarz gekleidete Herr Krumbiegel, war vorzeitig aufgestanden, damit er als Erster an der Tür war. Er schien es eilig zu haben, war schon außer Sicht, als Hermes den Bahnsteig betrat. Der Mann hatte während der Fahrt bald gemerkt, dass Hermes wenig Wert auf seine Gesellschaft legte. Beide hatten abwechselnd den Speisewagen aufgesucht, um sich aus dem Weg zu gehen, und sich während der Zeit des Einander-Gegenübersitzens mit Reiselektüre beschäftigt.

      Ein letzter Versuch des Kriminalschriftstellers, mit dem wortkargen Professor ins Gespräch zu kommen, war bereits kurz hinter Ingolstadt gescheitert, als Krumbiegel ihn wenig geistreich gefragt hatte, welche Automarke er bevorzuge – BMW oder Audi? Hermes hatte den Mann groß angeschaut, nur gemurmelt: „Haben Sie etwas gesagt?“ Da hatte Krumbiegel aufgegeben.

      Im vergangenen Jahr war Professor Hermes im Hotel Leipziger Hof abgestiegen. Er hatte auf gut Glück gebucht, in der Annahme, es müsse etwas Ähnliches sein wie der Bayerische Hof in München. Als ihn dann das Taxi vor dem Eingang absetzte, hatte er geglaubt, der Fahrer habe sich in der Adresse geirrt. An der grauen Fassade des vierstöckigen Mietshauses prangte weder ein Hotelschild, noch stand ein livrierter Portier bereit, ihn zu begrüßen.

      Wie sich herausstellte, hatte hier ein Hausbesitzer aus der Hotelnot in der wieder aufstrebenden Messestadt eine Tugend gemacht und den Altbau in eine Herberge der besonderen Art verwandelt. Aus den Wohnräumen waren nummerierte Einzel- und Doppelzimmer geworden, es gab nur Frühstück, kein Restaurant – als besonderen Clou aber eine monatlich wechselnde Bildergalerie im Treppenhaus und in allen Zimmern. „Hier schlafen Sie mit einem Original“, lautete der originelle Werbeslogan für das Hotel. Der Besitzer, offensichtlich Kunstliebhaber, gab sich als bescheidener Mäzen. Die beinahe familiäre Atmosphäre des Hauses hatte dem Professor schließlich so gut gefallen, dass er wieder hier gebucht hatte – diesmal allerdings ein Doppelzimmer.

      Der Mann in gestreifter Dienerweste am Rezeptionstisch erkannte Hermes sofort wieder. „Willkommen, Herr Professor“, strahlte er. „Schön, dass Sie wieder zu uns kommen. Diesmal mit Frau Gemahlin?“ Er äugte nach der Tür, die Frau erwartend.

      „Ach, meine Frau konnte leider nicht mitkommen“, sagte Hermes betrübt. „Ist plötzlich krank geworden.“

      Der freundliche Empfangschef hatte bereits den Schlüssel für das Doppelzimmer vom Brett genommen. Er zögerte. „Möchten Sie umbuchen? Wir haben gerade ein Einzelzimmer frei. Zufällig.“

      „Nein, nein. Nicht nötig“, sagte Hermes schnell. „Ich bleibe schon dabei. Das Doppel ist ja doch geräumiger.“

      Der Mann nahm ihm die Reisetasche ab und geleitete ihn zum Lift. „Reiner Zufall, dass noch was frei ist“, meinte er. „Der Gast musste plötzlich abreisen. Ein Todesfall, glaube ich. Wir sind ja fast immer ausgebucht, zur Messezeit sowieso.“

      Sie fuhren gemeinsam nach oben, erster Stock. Hermes kannte sich aus. Neben dem Lift ging es ins Treppenhaus, eine Stufenspirale nach unten und oben. Farbige Bilder zierten die Wand. Die Anordnung der Zimmer war wie in einem Wohnhaus. Ein kurzer Gang führte zu Tür Nummer 15, dem Doppelzimmer, davor die Türen Nummer 11 und Nummer 12 waren Einzelzimmer. Dazwischen hingen bunte Grafiken mit abstrakten Motiven. „Eine junge Künstlerin, Afghanin!“, erklärte der Hoteldiener. „Sehr interessant. Hat schon Preise gewonnen.“

      Er öffnete Nummer 15 und ließ den Gast eintreten.