Felix Heidenberger

Hermes oder Die Macht der grauen Zellen


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ein Signal, dass jetzt etwas Unangenehmes kam, das auszusprechen ihr schwerfiel. „Das neue Buch geht an Ihrem Publikum vorbei. Das sind keine Romanleser …“

      Hermes wollte sie unterbrechen. Ihm war selbst klar geworden, dass er kein Romanschriftsteller war.

      Doch Lilott Buchmann duldete keine Unterbrechung. „Wenn es wenigstens ein guter Roman geworden wäre“, fuhr sie gnadenlos fort, „mit einer stringenten Handlung, mit erotischen Details, dann bräuchten wir uns keine Sorgen zu machen, dann würde er seinen Weg gehen. So aber nicht. Es wird da ja immer nur geredet.“ Sie seufzte, schlug sich auf die straff geschnürte Brust. „Es ist meine Schuld. Ich hatte Sie ja dazu ermutigt. Es war mein Fehler. Nehme alle Schuld auf mich. Ich hätte wissen müssen … Ach, lassen wir das jetzt!“ Sie wischte das heuchlerische Eingeständnis mit einer Geste beiseite. „Wir müssen jetzt nach vorn schauen. Das Beste daraus machen.“

      Lilott Buchmann setzte wieder ihr eingeübtes Lächeln auf. „Kein Grund, traurig zu sein, lieber Guido! Es gibt Hoffnung. Wie ich Ihnen schon am Telefon sagte, diese Redakteurin vom MDR, Dr. Herma Schäfer, hat sich den Mischkrug vom Verlag kommen lassen. Offensichtlich ist sie sehr angetan davon. Sie schätzt Sie, Guido. Voriges Jahr hat sie die glänzende Besprechung Ihres Rom-Buches gebracht. Jetzt will sie unbedingt wieder ein Interview mit Ihnen. Ich hab’s ihr zugesagt. Sie wird gegen vier heute Nachmittag hier am Stand sein. Wappnen Sie sich, lieber Hermes! Sie kennen die Dame ja bereits. Seien Sie nett zu ihr! Wenn sie eine Sendung mit Ihnen macht, wird der Mischkrug nicht zu Bruch gehen.“

      Als der Name Dr. Herma Schäfer gefallen war, hatte es den Professor heiß durchfahren. Schäfer hieß Herma also, und promoviert hatte sie! In neuem Licht erschien sie ihm plötzlich. Distanzierter, nicht so vertraut wie in seinen Träumen.

      „Ich sehe es Ihnen an“, sagte Lilott. „Die Aussicht auf das Interview hat Sie aufgemuntert.“ Sie erhob sich. „Jetzt schauen Sie sich noch ein wenig auf der Messe um. Wenn Sie wollen, können wir mittags zusammen einen Snack im Restaurant nehmen. Ich hab einen Tisch reserviert.“ Sie geleitete Hermes wieder nach vorn, wo einige Neugierige vor der Bücherwand mit den Neuerscheinungen des Verlages standen. Von dem älteren Herrn nahmen sie keine Notiz.

      Hermes überlegte, ob er noch zum Friseur gehen sollte, sich die Haare schneiden lassen. Die Erwartungsfreude, die ihn vorübergehend verlassen hatte, war zurückgekehrt. Unentschlossen schweifte er noch mal durch die Halle, wo sich die Hörbuchverlage etabliert hatten. Leute hockten da herum mit riesigen Kopfhörern über den Ohren, den Blick verloren ins Nichts gerichtet. Er ließ sich zeigen, was es da zu hören gab.

      „Alles, was Sie wollen“, erklärte die Hüterin der Kopfhörer. „Die neuesten Bestseller, Krimis, Liebes- und Abenteuerromane, Erotisches vielleicht …?“ Sie schaute ihn kritisch an. „Wenn Sie wollen, auch Gedichte.“

      Er verzichtete. Für ihn waren Bücher zum Lesen da, nicht zum Hören. Jedes Buch daheim in seiner Bibliothek war für ihn sichtbarer geistiger Besitz.

      Als Historiker und Altphilologen war ihm aber auch bewusst, dass sich in der Blütezeit Athens und im alten Rom das Geistesleben weniger im gedruckten als viel mehr im gesprochenen Wort offenbarte. Die Beherrschung der Redekunst war wichtiger als die Handfertigkeit der Skribenten. So hatte er auch seinen Roman angelegt: als lebendigen Austausch von Gedanken und Meinungen, in Rede und Gegenrede, Argument und Gegenargument, nach dem Vorbild von Platons Dialogen. Die Überzeugungskraft des gesprochenen Wortes – ob als Lüge oder Wahrheit –, wenn nur der Redner die Kunst beherrschte, Sinn und Bedeutung in die gewünschte Richtung zu drehen. So kann sowohl Liebe geweckt wie Hass geschürt werden. Das hatte er darstellen wollen. Aber angesichts der überwältigenden Bücherflut hier und Lilotts unverhohlenem Urteil gab es keinen Zweifel mehr für ihn, dass ihm dies nicht gelungen war. Einziger Lichtblick war jetzt nur noch das bevorstehende Wiedersehen mit Herma.

      Im Weitergehen geriet Hermes in das Reich von Amazon, der weltweit größten Internetbuchhandlung, wie da zu lesen stand. Hier fand er tatsächlich alles feilgeboten, was je geschrieben wurde, gleich in welcher Sprache. Von dem virtuellen Angebot hatte er selbst schon Gebrauch gemacht.

      An einem besonderen Stand hielt ihm eine der herumschwirrenden Hilfskräfte das neueste Kindle entgegen. „Haben Sie schon eines?“, fragte sie herausfordernd. Mit geschultem Blick hatte sie in Hermes einen Intellektuellen der älteren Generation erkannt.

      „Ich brauche so was nicht“, sagte er, das schwarze Täfelchen zurückweisend.

      „Sie haben sicher eine eigene große Bibliothek zu Hause. Stimmt’s? Die können Sie bestimmt nicht auf Reisen mitnehmen.“

      „Brauche ich auch nicht“, gab er zurück und wollte weitergehen.

      „Nun – was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen. Sie kennen das Zitat?“

      Hermes lachte. „Wer kennt es nicht!“

      „Könnten Sie es korrekt im Wortlaut wiedergeben, in ganzer Länge?“ Sie tippte auf das schmale Tablet in ihrer Hand und schaute ihn dabei herausfordernd an.

      „So ungefähr, vielleicht“, sagte er. „Aber wozu?“

      „Nur als Beispiel.“ Ein weiteres kurzes Tasten aufs Display, dann erschien schon das Originaltitelbild: Johann Wolfgang von Goethe – Gesammelte Werke.

      Der Finger wischte hin und her, als würde sie in dem Gesamtwerk blättern. Schon war sie bei Faust I. Ein paar Wischer noch. „Da, schauen Sie!“ Sie reichte ihm das Kindle, auf dem zu lesen war:

       Schüler:

       Das sollt Ihr mir nicht zweimal sagen!

       Ich denke mir, wie viel es nützt;

       Denn was man schwarz auf weiß besitzt,

       Kann man getrost nach Hause tragen.

      „Na schön“, sagte Hermes. „Aber nach Hause tragen kann ich das Buch trotzdem nicht.“

      „Selbstverständlich können Sie das“, versicherte die junge Dame. „Mit dem Kindle in Ihrer Westentasche haben Sie die gesamte Weltliteratur immer griffbereit. Das meiste sogar kostenlos. Sie brauchen es nur abzurufen.“

      Hermes betrachtete den Zauberspiegel, ungläubig. Um eine Probe aufs Exempel zu machen – und um die Dame in Verlegenheit zu bringen –, forderte er sie auf: „Zeigen Sie mir Platons Dialog Phaidros. Ich möchte eine Stelle nachlesen.“

      „Kein Problem“, sagte sie, tippte wieder ein paarmal aufs Display, schon stand da:

       Platon – Phaidros

       Übersetzung von Friedrich D. E. Schleiermacher

       Einleitung: Gewöhnlich führt dieses Gespräch noch die zweite Überschrift: „Oder vom Schönen“; ist auch wohl sonst bisweilen „Von der Liebe“ und „Von der Seele“ genannt worden …

      Verblüfft reichte Hermes das Tablet-Täfelchen zurück. Es war also Wirklichkeit. Die Weisheiten von zweitausend Jahren gibt’s jetzt frei Haus – umsonst sogar, wie die junge Dame triumphiert! Wohl nicht nur kostenfrei, sagte er sich. Umsonst – vergebens auch für die Welt von heute, die längst neue Weisheiten erfunden hat und sich an Romanen satt liest oder am Abfall des täglichen Gedankenmülls in den Zeitungen, nicht zu reden von der geistigen Schmalkost des allabendlichen Mattscheibenplunders.

      Mehr erbittert als erfreut über die neue Entwicklung auf dem Buchmarkt schlenderte Hermes weiter und kam bei seinem Rundgang am Vortragssaal vorbei, wo gerade die Türen geschlossen wurden. Er warf einen Blick hinein und sah den unausstehlichen Krumbiegel auf dem Podium. Wie ein schwarzer Rabe hockte er auf einem niedrigen Schemel, die Beine über Kreuz, im Schoß sein Buch. Scheinwerferlicht spiegelte auf seiner Glatze. Erwartungsvolles Raunen im Publikum brach ab, als der Autor mit theatralisch schleppender Stimme zu lesen begann:

      „Das Haus gegenüber! … Mit dem Haus stimmte