Felix Heidenberger

Hermes oder Die Macht der grauen Zellen


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Neuste beflügelt, mit einem Extraexemplar des Mischkrug unterm Arm, fuhr Professor Hermes zurück zum Leipziger Hof, sich geistig, seelisch und körperlich auf den Fernsehauftritt mit Dr. Herma Schäfer vorzubereiten. Sie war es ja immer noch, die Herma aus dem vorigen Jahr. Sie hatte sich nur äußerlich verwandelt, redete er sich ein, weil sie zu einem anderen Termin beordert war – in den Zoo! Wie vielseitig doch dieser Beruf einer Fernsehjournalistin ist! Ob es ihr etwas ausmachte, einmal einen Affen und dann einen Buchautor zu interviewen? Auf Äußerlichkeiten schien sie wenig Wert zu legen. Oder unterdrückte sie vielleicht bewusst ihre weibliche Ausstrahlung, die ihn bei ihrer ersten Begegnung so stark beeindruckt hatte? Hatte diese Wandelbarkeit etwas mit ihrem Herma-Wesen zu tun? Mit der Vielseitigkeit des Hermes, worüber wir damals im Chinarestaurant gesprochen hatten? Ist sie vielleicht gar ein Hermaphrodit – halb männlich, halb weiblich? Der Gedanke faszinierte ihn. Ich werde das prüfen müssen, nahm er sich vor.

      Das Taxi setzte Professor Hermes um viertel nach sechs an der Pforte der Media City ab. Eine Volontärin erwartete ihn bereits und brachte ihn zum Studiogebäude. Dies also ist die Fabrik, in der die Meinungen gemacht werden und die Welt nach Wunsch der Einschaltquoten zurechtgezaubert wird, stellte er angesichts der vielen Gebäude und der Betriebsamkeit fest, die zur vorgerückten Stunde auf dem Gelände herrschte. Trotz wiederholter Angebote im Laufe seiner akademischen Karriere hatte er es immer abgelehnt, mit dem Medium Fernsehen näher in Berührung zu kommen. Hätte nicht Cornelia darauf bestanden, wäre nie ein TV-Empfänger in sein Haus gekommen. Um mit der Zeit und dem Tagesgeschehen auf dem Laufenden zu bleiben, genügte ihm die Zeitung, die jeden Morgen auf dem Frühstückstisch lag. Radio hörte er nur, wenn ein Konzert klassischer Musik auf dem Programm stand. Das Fernsehen war ihm unheimlich. Die ständige Schnittfolge von Bildern verwirrte ihn. Das war nicht die Wirklichkeit, auch wenn dies in den aktuellen Berichten vorgegeben wurde. Er lebte in einer anderen Welt − einer geistigen Welt, die keine Gegenwart kannte. Die alten Griechen und Römer waren ihm vertrauter als die Menschen, von denen er täglich in der Zeitung lesen musste. Den Vorwurf, er sei weltfremd, ließ er jedoch nicht gelten. Die Gegenwart bedeutete für ihn nichts Neues, sie wiederholte ja nur das Gültige aller Zeiten. Das hatte er auch in seinem Roman ausdrücken wollen. Es war ihm nicht geglückt, er hatte es längst eingesehen, schon bevor es ihm die Verlegerin schonend beizubringen versucht hatte. Umso mehr hatte ihn Hermas positives Urteil überrascht.

      Die Volontärin brachte ihn zur Maske, einem Raum wie beim Friseur. Er musste sich in einen Stuhl setzen und konnte im Spiegel sehen, wie sich die Maskenbildnerin an ihm zu schaffen machte. „Muss das sein?“, fragte er ungeduldig, als sie ihm mit der Puderquaste übers Gesicht fuhr.

      „Wir wollen Sie doch schön machen, Professor“, sagte sie verbindlich lächelnd.

      Ist das nötig?, fragte er sich. Das Bild, das ihm aus dem Spiegel entgegensah, kannte er aus der täglichen Begegnung bei der Morgentoilette. Schön hatte er sich da nie gefunden. Man will mich hier maskieren. Für die Kamera, fürs Publikum herrichten. Wie einen Schauspieler. Ich muss hier eine Rolle spielen, die Rolle eines Gelehrten, der ein Buch geschrieben hat, das alle lesen sollen. So wünscht sich das die Verlegerin. Und Herma will dabei helfen – mir zuliebe? Er konnte es noch immer nicht begreifen. Spielte auch sie nur Theater?

      Noch während die Kosmetikerin an ihm herumzupfte, sah er im Spiegel Herma hereinkommen, bereits herausgeputzt als Frau Dr. Schäfer, die Moderatorin. Sie trug wieder Hosen, doch diesmal keine Jeans, sondern hellbraun glänzende, eng anliegende lederne Leggins, dazu ein weißes Oberteil, gestickt oder gestrickt mit einem runden Ausschnitt, was sehr weiblich wirkte. Der dunkelblonde Lockenkopf, bewusst wirr frisiert, gab ihr etwas Forsches, Zwangloses. Das Rot der vollen Lippen war matt überpudert. Aber diese dominierende Ausstrahlung, die ihn schon im vergangenen Jahr gefesselt hatte, war wieder da. In der Hand hielt sie den Mischkrug. „Sie müssen mir noch etwas hineinschreiben, Professor Hermes“, sagte sie. „Vielleicht nach der Sendung. Kommen Sie, ich nehme Sie gleich mit hinüber ins Studio. Wir haben noch ein paar Minuten Zeit.“

      Sie führte ihn einen Gang entlang zu einem dunklen Raum, aus dem durch eine breite Glasscheibe das Studio nebenan zu sehen war. Die Dekoration im Hintergrund ließ das aktuelle Thema der Sendung erkennen: eine zu Bergen gestapelte Bücherlandschaft. Hermes sah den Kranz von Scheinwerfern, die den Raum erstrahlten, die Kameras, die gerade eingerichtet wurden, und den Betrieb der Leute, die mit den letzten Vorbereitungen zur Sendung beschäftigt waren.

      „Guido … aufgeregt?“ Herma bot ihm einen Sessel an.

      Im Halbdunkel des Raumes suchte er ihr Gesicht. „Wie darf ich Sie hier anreden – Herma, Frau Dr. Schäfer?“

      „Ganz wie Sie wollen, mein Lieber. Ich werde natürlich immer Herr Professor Hermes sagen. Wir machen das ganz locker. Es sind ja nur ein paar Minuten. Ich bekomme von der Regie ein Zeichen, wenn unsere Zeit um ist.“

      „Unsere Zeit? Beginnt die nicht erst?“, fragte er leise. „Sehen wir uns nicht anschließend noch?“

      „Ich hab nach dem Interview noch eine Moderation. Ich kann nicht gleich weg.“ Sie schien zu überlegen. „Aber Sie dürfen mich wieder zum Essen einladen, Guido. Wieder bei dem Chinesen.“

      „Einverstanden.“ Er atmete erleichtert auf. „Ich werde Sie dort erwarten.“

      „Es kann spät werden, aber ich komme bestimmt.“ Sie schaute durch die Scheibe ins Studio. „Ich glaube, es ist so weit“, sagte sie. „Gehen wir hinüber!“

      Die Aussicht, mit Herma noch den Abend verbringen zu können − mit der wirklichen Herma, nicht der Frau Dr. Schäfer –, beflügelte ihn so, dass er den Fernsehauftritt nur noch als unbedeutendes Zwischenspiel ansah. „Ja, gehen wir“, sagte er. „Spielen wir ein wenig Theater!“

      Die nüchterne Atmosphäre des Studios, der ungewohnte Stuhl, in den man ihn platzierte, die Prozedur des Einleuchtens und Hermas plötzliches Verschwinden nahmen ihm dann doch ein wenig den Mut.

      Endlich erschien sie wieder und setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber. „Nicht auf die Kameras schauen!“, ermahnte sie ihn. „Schauen Sie nur mich an!“

      Nichts lieber als das, dachte er. Herma sah bezaubernd aus. Wie eine Fee aus dem Wunderland.

      „Ich werde erst ein paar Einleitungsworte sprechen und Sie vorstellen, ehe ich mit den Fragen beginne“, sagte sie.

      „Was werden Sie fragen?“

      „Das wird sich ergeben. Ganz zwanglos. Wie in einem normalen Gespräch. Beginnen werde ich natürlich mit dem Roman. Der Titel des Mischkrug wird dazu eingeblendet werden.“

      Minuten vergingen. Eine Ewigkeit, wie es ihm schien. Herma unterhielt sich mit einem Kameramann, blätterte in dem Manuskript, das ihr jemand reichte, strich etwas durch und reichte es zurück. Ihr Gegenüber schien sie vergessen zu haben. Hermes beobachtete sie unverwandt. Was fasziniert mich so an dieser Frau?, fragte er sich. Sie ist wie aus einer anderen Welt.

      Beinahe erschrak er, als Herma zu sprechen anfing. Waren sie jetzt auf Sendung?

      „Professor Hermes, Sie sind Historiker und Altphilologe, einem großen Publikum aber vor allem bekannt als Autor lebensnah geschriebener Biografien berühmter Frauengestalten aus der Antike. Ich nenne nur die Lebensgeschichte Aspasias, der Grande Dame des Geisteslebens im Athen zur Zeit des Perikles im 5. Jahrhundert vor Christus – ein Buch, das zum Bestseller wurde. Dann die Biografien der Frauen aus der griechischen Tragödiendichtung: Helena, Iphigenie, Elektra, Antigone. Keine Nachdichtungen der Mythen und der Dramen, sondern akribisch recherchierte Lebensbilder aus einer Zeit, in der diese Frauen tatsächlich gelebt haben – oder haben könnten. Auch Ihr neustes Buch, Professor Hermes, versetzt den Leser in die Welt der Antike, genauer gesagt in die Zeit des Sokrates. Doch es ist diesmal kein Sachbuch, keine Biografie, sondern ein Roman. Warum?“

      Hermes lehnte sich entspannt zurück. Dass Herma das Gespräch gleich mit einem Hinweis auf seine bisherigen Erfolge als Buchautor begann, gab ihm Sicherheit. In gelassenem Ton antwortete er: „Es war der Versuch einer Flucht. Als Historiker, als Wissenschaftler bin ich gebunden, sachlich zu sein, nur Fakten sprechen zu lassen.