Felix Heidenberger

Hermes oder Die Macht der grauen Zellen


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sagte Herma. „Wie darf man das verstehen?“

      „In mehrfacher Hinsicht.“ Hermes fühlte sich auf festem Boden. „Einen solchen tönernen Krug gab es wohl in jedem Haushalt damals in Griechenland. Aus ihm wurde das Getränk ausgeschenkt − meist Wasser oder mit Wasser vermischter Wein. Man trank den Wein selten pur. Das Mischungsverhältnis entschied, ob man nur den Durst löschen oder auch die anregende Wirkung des Alkohols genießen wollte.“

      „Ist Ihr Roman so ein Mischkrug? Ein Gemisch aus Fantasie und Wahrheit?“

      „So könnte man sagen“, antwortete er bereitwillig. „Auch ein Gemisch aus realer Handlung und geistiger Auseinandersetzung – formal gesehen. Inhaltlich geht es um die rechte Ausgewogenheit von Gegensätzen, etwa das Spannungsverhältnis zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen − dem Geistigen und dem Sinnlichen.“

      „Gibt es eine reale Handlung?“ Herma wurde sachlicher, nicht mehr so im lockeren Plauderton.

      „Ich muss vorausschicken“, sagte er, noch immer in den sicheren Gefilden seiner antiken Welt, „Vorbild für den Roman war ein Symposion – eine Diskussionsrunde, würden wir heute sagen −, wie es Platon in seinen berühmten Dialogen beschrieben hat. Wörtlich übersetzt: ein Trinkgelage. Die Handlung spielt zwar in der Blütezeit Athens – der Kulturhauptstadt des Mittelmeerraums damals –, die handelnden Personen sind jedoch nur Darsteller für eine zeitlose Wirklichkeit. Was gesprochen und getan wird, könnte genauso gut heute getan und gesprochen sein.“

      „Und was wird gesprochen und getan?“, forschte sie nach.

      „Es heißt ja, jedes Ding hat seine zwei Seiten … bedingt sich gegenseitig“, antwortete Hermes geduldig. „Tag und Nacht, hell und dunkel, heiß und kalt, Gut und Böse … und so weiter. Und eben auch das Sie und Er: das Weibliche und das Männliche.“

      „Ach ja.“ Herma lächelte mehrdeutig. „Adam und Eva, das ewige Thema. Also ein Liebesroman?“

      „Nein!“ Der Professor wies die Unterstellung empört zurück. „Es geht um die Geschichte der Liebe, nicht um eine Liebesgeschichte. Es ist kein Liebesroman. Das Feminine und das Maskuline – diese Begriffe stehen für mehr, nicht nur für das Geschlechtliche.“

      „Interessant. Wer sind die Personen? Gibt es einen Held? Einen Protagonisten?“

      Die herausfordernde Art, wie Herma − jetzt ganz die Journalistin Dr. Schäfer − zu fragen begann, irritierte ihn. Er wusste, sie hatte den Roman gelesen und kannte die Passagen, in denen er das Thema ausgiebig und anschaulich darzustellen versucht hatte. Er setzte sich etwas aufrechter, bereit, sich durch ihre Fragen nicht in die Enge treiben zu lassen.

      „Der Held, wenn man so will, ist Eros – der Liebesgott“, sagte er würdevoll.

      „Also doch: Erotik! Oder würden Sie sagen, da gäbe es einen Unterschied zwischen Liebe und Eros?“

      Auf was wollte Herma hinaus? Ging es ihr wirklich nur um das Buch – oder wurde sie jetzt persönlich? Hermes flüchtete sich wieder in sein vertrautes Arkadien. „Sicher gibt es einen Unterschied“, erwiderte er. „Schon in der Interpretation der Worte, der Begriffe. In der griechischen Mythologie galt Eros als göttliches Wesen, einmal sogar noch über den Göttern stehend, weil er auch sie, die Götter, mit seinen Pfeilen verwunden konnte. Eros galt aber auch als geschlechtsloses Zwischenwesen zwischen Göttern und Menschen. Meist sehen wir ihn ja als nackten Knaben mit Pfeil und Bogen dargestellt, was eine geschlechtslose Erotik symbolisiert …“

      „Oft missverständlich!“

      „Leider, ja. Im Deutschen wird Erotik gern mit Sexualität gleichgesetzt.“ Er geriet plötzlich in Fahrt. „Wenn hier von Liebe die Rede ist, ist Eros oft weit weg. Der Begriff Liebe machen − aus dem englischen to make love – hat mit Eros wenig zu tun. Und oft reden wir von lieben, wenn wir eigentlich nur gernhaben meinen.“

      „Der Eros ist also mehr“, stellte sie sachlich fest. „Die wahre Liebe − wenn ich Sie recht verstehe, Professor Hermes. Zeigt sich das im Roman? Wer sind die handelnden Personen?“

      Hermes entspannte sich wieder. „Eros erscheint nicht als handelnde Person, über ihn wird nur geredet. Teilnehmer am Symposion ist ein Freundeskreis von Männern aus der Athener Gesellschaft. Agathon, ein berühmter Schauspieler – ein Fernsehstar, würden wir heute sagen –, ist Gastgeber. Unter den Gästen – man muss sie sich halb sitzend, halb liegend um einen Tisch herum gelagert vorstellen − ist der Arzt Eryximachos. Als Heilkundiger hat er einiges aus eigener Erfahrung zum Thema Eros zu sagen. Der Komödienschreiber Aristophanes ist ebenfalls dabei. Für ihn gibt es keine Kunst ohne den Eros. Der Politiker und Playboy Alkibiades wiederum will den Eros auch für das Staatswesen in Anspruch genommen wissen. Alles nur Namen, wie gesagt, die austauschbar sind. Im Mittelpunkt steht der Philosoph Sokrates, ein Außenseiter der Gesellschaft, aber als unterhaltsames Original immer gern gesehen. Zwei Frauen vertreten das weibliche Element: einmal Diotima, die schöne Geliebte des Sokrates, und Xanthippe, seine hässliche Ehefrau.“

      „Eine interessante Mischung. Und die Handlung? Wird immer nur geredet, oder geschieht auch wirklich etwas?“

      Herma sprach den Punkt an, den auch die Verlegerin kritisiert hatte. Es gab zu wenig Handlung in dem Roman. Dankbar für die Frage, nahm er die Gelegenheit wahr, den Vorwurf zu mildern. „Es sind Handlungen und Geschehnisse, die ineinandergreifen. Und Erlebnisse, die erzählt werden.“

      „Ein Beispiel?“

      „Es geht um die Frage, was ist besser: geliebt zu werden oder zu lieben? Einer, der junge Lysias, der allgemein beliebt ist, behauptet, alle Menschen trachteten doch danach, geliebt zu werden – sich beliebt zu machen. Das bringe Vorteile. Es gebe nichts Schöneres, als von allen geliebt zu werden. Um das zu erzielen, müsse sich der Mensch eben entsprechend verhalten – also immer gut sein. Böse Menschen würden nicht geliebt.

      Man gibt ihm recht. Doch der ältere Phaidros, ein glücklicher Familienvater, hat Gegenargumente. Geben ist schöner als Nehmen, sagt er. Die Liebe zwischen zwei Menschen sei Hingabe. Der Liebende will sich dem – oder der – Geliebten schenken. So gehe es jedenfalls ihm und sicher auch seiner Frau. Das erfahre er jeden Tag. Es gäbe aber auch Fälle, wo der geliebte Mensch gar nicht geliebt werden wolle, wo ihm der Liebhaber lästig ist wie ein unerwünschtes Geschenk oder das, was er Liebe nenne, nur Begierde ist.

      Auch hierfür erhält Phaidros Beifall. Daraufhin wenden sich alle an Sokrates, er solle entscheiden, wessen Argumente die besseren seien.“

      Herma hatte aufmerksam zugehört. „Das war für den alten Weisen, der immer erklärte, er wisse nur, dass er nichts wisse, sicher nicht einfach.“

      „Oh doch“, sagte Hermes. „Er gab beiden recht, mit dem Hinweis, die Liebe sei ein Gottesgeschenk. Es hänge nur davon ab, auf wen Eros mit seinen Pfeilen ziele.“

      „Gibt es dafür noch andere Beispiele?“

      „Ja. Auch für die Vielseitigkeit des Eros. Er kann sich auf sehr unterschiedliche Weise bemerkbar machen: in der Liebe zur Natur, der Liebe zur Arbeit, der Liebe zur Kunst. Jeder erzählt aus eigenem Erleben, und Sokrates’ Weisheit bewahrheitet sich. Agathon, der Hausherr, bittet die Flötenspielerin herein, die schon lange vor der Tür gewartet hat. Für ihn ist Musik der Inbegriff des Eros – ist Musik die Sprache des Eros. Alle lauschen dem Flötenspiel und sind sich einig: Es klingt wunderschön. Das herbe Männliche, das Taktgebende, und das melodiöse Weibliche klingen harmonisch im rechten Maß vereint. Ein Zeichen, dass Eros die Spielerin beflügelt hat.“

      „Wie schön!“ Herma schien sichtlich bewegt. „Ein anderes Beispiel?“

      „Der Komödiendichter Aristophanes erfindet eine Geschichte, in der er den Eros auf seine Weise erklärt – mit Humor. Es ist die inzwischen berühmte Geschichte, in der die Menschen ursprünglich Kugelgestalt hatten, eine weibliche und eine männliche Hälfte. Das hat sie so mächtig werden lassen, dass Göttervater Zeus den Hephaistos, den Gott der Schmiedekunst, beauftragte, die Kugeln zu halbieren. Der listige kleine Eros hat aber – um