Felix Heidenberger

Hermes oder Die Macht der grauen Zellen


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originelle Parodie!“ Die Kamera zeigte Herma in Großaufnahme, den schönen Mund leicht geöffnet, was sehr sinnlich aussah. Auch Hermes hatte es bemerkt und als Gruß an ihn gedeutet. Sie fuhr jedoch fort: „Was sagt denn der weise Sokrates dazu?“

      „Zunächst gar nichts.“ Hermes wandte den Blick von ihr ab, um sich zu konzentrieren. „Er hat sich nur angehört, was jeder unter dem wahren Eros versteht. In der Zwischenzeit taucht in der Gesprächsrunde seine Frau Xanthippe auf. Sie will ihren Mann nach Hause holen. Beschimpft ihn, betrunken zu sein, was er widerlegt, indem er sie aus seinem Becher trinken lässt, der mehr Wasser als Wein enthält. Am meisten ärgert sich Xanthippe über die schöne Diotima, die neben Sokrates lagert. Sie weiß, dass die beiden ein Liebesverhältnis haben. Sokrates weigert sich, seiner Frau zu folgen, sie kehrt jedoch mehrmals wieder, und das Ganze wiederholt sich. Alkibiades stellt Sokrates zur Rede, warum er sich von seiner Frau so tyrannisieren lasse. Sokrates antwortet darauf: Ich brauche das. Xanthippe ist mein Wächter. Sie bewahrt mich davor, der Versuchung durch Diotimas Schönheit zu erliegen. Dabei umarmt er die junge Frau, die tatsächlich eine göttliche Schönheit ist. Sie ist dem hässlichen Sokrates aber nicht nur an Schönheit überlegen, sondern in Klugheit mindestens ebenbürtig. In dieser Ausgewogenheit ihres Wesens erkennt Sokrates die Verkörperung des Eros. Ihr zu verfallen, würde seiner Weisheit widersprechen. Deshalb folgt er schließlich Xanthippe, die ihn den Armen Diotimas entreißt.“

      „Dann ist also am Ende Xanthippe die Siegerin?“, fragte Herma, sichtlich enttäuscht von der Wendung.

      „Nein, die Vernunft!“ Hermes, wieder ganz der gelehrte Professor, hob beschwörend den Arm.

      „Das darf dann wohl der Leser entscheiden“, sagte Herma kurz. Sie hatte das verabredete Zeichen vom Aufnahmeleiter hinter der Kamera bekommen.

      „Ich danke Ihnen, Professor Hermes, für die interessanten Einblicke in Ihren Roman. Der Mischkrug – ein auf besondere Art sicher auch spannender Roman für Leser, die Spannung nicht nur im Schwarz-Weiß der Kriminalromane suchen.“

      Die Scheinwerfer erloschen. Hermes fand sich plötzlich im Finstern.

      8

      Seit fast einer Stunde wartete er nun schon im Chinarestaurant. Er sah auf die Uhr: gleich neun. Er hatte wieder den gleichen Tisch. Ob Herma noch erscheinen würde? Ihm kamen Zweifel. Bei dem Fernsehinterview war es nicht nur um das Buch gegangen. Die Fragen waren so mehrdeutig gewesen. Hatte sie ihn provozieren wollen? Er nahm sich vor, endlich Klarheit zu schaffen, falls sie noch erscheinen sollte. Seine Hand zitterte leicht, als er die Teetasse zum Mund führte. Die Ungewissheit, wie es weitergehen würde, nahm ihm jede Sicherheit. Er fühlte sich wehrlos gegenüber dieser Frau. Sie hatte ihn wieder in ihren Bann gezogen. Seit dem geflüsterten „Ich bewundere Sie!“ und den tiefgründigen Blicken aus ihren dunklen Augen war sie ihm nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Erst recht seit dem Gespräch im vergangenen Jahr, hier am gleichen Tisch, als sie auf die Gleichheit ihrer beider Namen hingewiesen und sie als Zeichen einer Verwandtschaft beschworen hatte, dabei augenzwinkernd die vielen Liebschaften des göttlichen Hermes erwähnend. Sie waren sich auf seltsame Weise nahegekommen, wenn auch nur im Gedanklichen. Das Verlangen nach größerer, nach intimer Nähe hatte ihn nicht mehr losgelassen. Er versuchte, sich Rechenschaft zu geben, dass nicht er es gewesen sei, sondern sie, die den Anfang gemacht hatte. Sie, diese Frau Dr. Schäfer, ist es doch, die hinter mir her ist, sagte er sich. Was will sie denn von mir? Ich könnte ihr Vater sein. Was für ein Spiel treibt sie? War es wirklich nur das Buch über die Frauen Roms, das sie voriges Jahr so gefesselt hatte, dass sie mich näher kennenlernen wollte? Den Autor der Frauenbiografien aus der Antike?

      Versonnen rührte er in seinem grünen Tee – da stand sie plötzlich vor ihm, warf ihren Mantel über eine Stuhllehne und war präsent wie ein Geist aus der Flasche. Hermes kam gar nicht dazu, sich zur Begrüßung zu erheben, schon saß sie ihm gegenüber und schenkte ihm ihr Lächeln.

      „Entschuldige die Verspätung, Guido“, sagte sie etwas außer Atem. „War noch kurz zu Hause, habe mir die zwei Bücher geholt, damit du mir eine Widmung hineinschreibst.“ Sie legte zwei schmale Bändchen neben sich auf den Tisch, offenbar Bücher von ihm. „Vorher bin ich noch in der Redaktion aufgehalten worden. Stell dir vor: Die Wissenschaftsredaktion will eine Sendung mit diesem Dr. Singh machen. Die finden sein Buch so toll. Ich soll die Verbindung mit dem Verlag herstellen. Hab gleich die Buchmann angerufen, war aber nicht mehr zu erreichen. Muss das gleich morgen machen … Jetzt hab ich aber ehrlich Hunger.“ Sie griff nach der Speisekarte. „Hast du inzwischen schon gegessen?“

      Hermes war so hingerissen von ihrem Anblick, ihrer Vitalität, ihrem Charme – und vor allem, dass sie ihn mit Du anredete –, dass er kaum Worte fand.

      „N-nein. Hab auf … Sie gewartet.“

      „Wäre aber nicht nötig gewesen … Hast du eben Sie gesagt? Waren wir nicht per Du, Guido? Hier, beim Chinesen?“

      Hermes fasste Mut. „Ja – in Gedanken, sicher. Herma!“ Er versuchte, ihr Gesicht zu sehen, das sich über die Menükarte beugte. „Schau mich an, Herma! Bitte!“

      Sie blickte kurz auf. „Ja?“

      „Herma – ich liebe dich!“ Seine Stimme zitterte.

      „Na, na!“ Sie lachte. „Nicht so stürmisch, Herr Professor!“

      „Es ist ernst gemeint!“ Er griff nach ihrer Hand, in der sie die Speisekarte hielt.

      „Lass uns erst was bestellen“, sagte sie ungeduldig. „Ich hab wirklich Hunger. Bin den ganzen Tag nicht zum Essen gekommen.“ Sie winkte der Bedienung, die bereits im Hintergrund wartete.

      Sie bestellten gemeinsam eine Reistafel, Hermes wählte den gleichen Rotwein wie beim letzten Mal, dazu einen Krug Wasser.

      „Du mischst wieder?“, fragte sie anzüglich. „Wie wär’s, heute mal pur?“

      „Ich bin schon lange nicht mehr nüchtern“, gab er lächelnd zurück. Er wollte noch mehr sagen. Dass es ihre Gegenwart sei, die ihn trunken mache, dass er seit einem Jahr auf diese Stunde gewartet und gehofft habe, in der er ihr alles sagen könne, was er für sie empfinde und was sie ihm bedeute. Doch Herma, die wohl so etwas ahnte, ließ ihn nicht zu Wort kommen.

      „Dieser Dr. Singh ist wirklich phänomenal“, sagte sie, als sei dies das Thema, das sie beschäftige. „Hast du ihn kennengelernt? Ihr seid ja im gleichen Verlag. Sein Buch musst du lesen. Der Mann hat ein immenses Wissen. Ich glaube, die Hirnforschung ist wirklich die interessanteste Wissenschaft. Da kommen Medizin, Biologie und Physik zusammen – und auch Psychologie und Philosophie. Vielleicht sogar Religion. Er sagt, das Gehirn macht erst den Menschen aus. Nicht das Herz – und auch nicht die Seele. Wie findest du das?“

      „Entsetzlich!“ Geschichtsprofessor Hermes machte kein Hehl aus seiner Aversion gegen den asiatisch aussehenden Konkurrenten, der ihn bereits beim Buchverlag zu verdrängen suchte und nun offensichtlich auch bei Herma.

      „Es sind erschreckende Vorstellungen, ja“, gab Herma zu. „Diese Millionen von grauen Zellen, von Molekülen, Neuronen und wie all die Nervenverbindungen heißen, die in unserem Kopf herumschwirren, sie steuern nicht nur unsere Körperfunktionen, sondern auch unsere sogenannte Vernunft. Das jedenfalls will dieser Forscher beweisen. Und nicht nur unser Denken und Handeln wird gesteuert – unabhängig von unserem Wollen –, sondern auch das, was wir Gefühle nennen: Glaube, Liebe und Hoffnung!“

      „Hör auf, Herma! Bitte!“, unterbrach er sie. „Den ganzen Unsinn hat er mir auch schon zu erklären versucht.“

      „Persönlich mag ich den Mann auch nicht“, versicherte sie zu seiner Beruhigung. „Er ist mir unheimlich. Aber sicher ein interessanter Wissenschaftler. Es wird bestimmt eine tolle Sendung mit ihm werden. Ich hoffe, die Wissenschaftsredaktion lässt mich da mitmachen.“

      „In welcher Redaktion arbeitest du denn?“