Felix Heidenberger

Hermes oder Die Macht der grauen Zellen


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mir von dir. Wie bist du zu dem Journalistenberuf gekommen? Promoviert hast du ja auch. Worüber? Ich möchte alles wissen von dir, Herma!“

      „Wirklich?“

      Während die Reistafel serviert wurde, begann sie zu erzählen. Langsam, stichwortartig zwischen einzelnen Häppchen, die sie sich mit den Stäbchen in den Mund schob. „Ich heiße eigentlich anders. Schäfer ist der Name meines Mannes. Ich hab ihn nach der Scheidung beibehalten. Meinen Familiennamen wollte ich vergessen. War gerade mal zwanzig, damals, bei der Wende. Da hatte ich ihn kennengelernt, den Jürgen Schäfer. Ein Wessi mit Porsche. Die große Euphorie − damals für uns DDRler. Es war nicht Liebe. Erst recht nicht … Vernunft. Ich hatte den Verstand verloren vor lauter Freude. Der Verstand kam zurück, als ich schwanger war. Dann musste geheiratet werden. Als das Kind kam, eine Tochter – ich konnte nichts mit ihr anfangen, mein Mann erst recht nicht –, gab ich’s meiner Mutter und haute ab nach Amerika. Studium Journalistik. Was anderes fiel mir nicht ein. Nach zwei Jahren kam ich zurück, promovierte hier in Leipzig und ließ mich scheiden. Dann fing ich beim MDR an. Zuerst als freie Mitarbeiterin. Jetzt hab ich das Kulturelle im Aktuellen – wie schon gesagt. Das ist alles.“ Sie schaute Hermes mit tiefblickenden, ernsten Augen an. „Kennst du mich jetzt?“

      Ernüchtert schüttelte Professor Hermes den Kopf. „Ich danke dir. Es hörte sich an wie ein Geständnis … Herma – lass mich in dein Herz schauen! Was wurde aus deinem Kind?“

      Herma schien mehr bewegt, als sie zeigen wollte. Sie griff nach einem Taschentuch und tupfte sich die Augen. „Bettina lebt bei mir. Sie ist jetzt zwölf. Ihr gehört mein Leben. Ich hätte sie nie hergeben dürfen. Ich hab vieles gutzumachen an ihr …“ Erneut kämpfte sie mit Tränen.

      Hermes reichte seine Hand über den Tisch − eine hilflose Geste, Mitgefühl zu zeigen. Schweigend stocherten beide auf ihren Tellern, unfähig zu essen.

      „Ich bin seit zweiunddreißig Jahren verheiratet“, begann er. „Cornelia, meine Frau, ist einige Jahre jünger. Wir haben einen Sohn. Er ist inzwischen erwachsen, hat einen Beruf. Ich hab mich wenig um ihn gekümmert – zu wenig. Er ist die neue Generation. So wie du, Herma. Es ist schwer, sich zu verstehen.“

      Sie hob den Kopf. „Wirklich? Was fällt dir schwer, Guido?“ Jetzt war sie es, die die Hand über den Tisch reichte.

      „Eine gemeinsame Sprache zu finden. Cornelia spricht eine andere Sprache. Mir wurde das zu spät bewusst. Mein Sohn noch mehr. Er lebt in einer anderen Welt. Seine Sprache, sein Denken ist eine andere Welt. Nicht nur dieses andere Jahrhundert … Ich weiß, es liegt an mir. Meine Welt ist eine andere: die Welt des Humanismus – der Glaube an das Schöne und Gute, das immer auch die Wahrheit ist. Ich habe versucht, das auch meinen Studenten nahezubringen …“ Erbitterung schwang in seiner Stimme. „Mit wenig Erfolg. Für diese Generation ist nur das Praktische, das Gebrauchbare, schön und gut. Die Realität des Alltags, das ist ihnen die Wahrheit – all diese Verlogenheit des Alltags …“ Er sah sie an. „Entschuldige! Ich fange mal wieder zu jammern an. Dabei will ich nur sagen, wie dankbar ich bin, mit dir so reden zu können. Weil ich weiß, dass du mich verstehst.“

      „Ja, ich glaube, ich verstehe dich, Guido. Ich will dir auch sagen, warum und seit wann.“ Sie hielt eines der Büchlein hoch, die sie mitgebracht hatte: die Biografie Iphigenie, die er vor Jahren veröffentlicht hatte. „Seit ich das gelesen hatte, hab ich dich geliebt, Guido – auf meine Art geliebt. Erst recht, nachdem ich voriges Jahr Die Frauen Roms gelesen hab und jetzt den Mischkrug. Ich hab mich in dieser Iphigenie wiedererkannt. Du beschreibst sie als ein junges Mädchen, das vom Vater Agamemnon vergewaltigt wurde. Sie flieht in den Schutz eines Tempels – eines Klosters. In dem Abt Thoas findet sie einen würdigen Vaterersatz. Bis eines Tages Bruder Orest auftaucht und sie heimführt.“

      Herma schwenkte das Büchlein. „Als ich das gelesen hatte, wurde mir erst klar, was für eine dumme Gans ich gewesen war, als ich mich in den Jürgen Schäfer verliebt hatte − in ihm meinen Erlöser zu erkennen geglaubt hatte, der mich heimführen würde. Die Schuld meines Vaters erschien mir plötzlich in einem anderen Licht. Agamemnon, Iphigenies Vater, war dem ererbten Fluch seines Vaters Tantalus verfallen, der seinen Sohn den Göttern als Speise geopfert hatte. Ich begriff mich als Iphigenie, als Opfer einer Folge von Untaten, von bösen Gewalten, die vor mir – und über mich – herrschten.“ Herma holte tief Luft. „Lass dir erklären: Mein Großvater war ein hoher Nazifunktionär. Sein Name bedeutete Angst und Schrecken. Die Parteigrößen damals waren seine Götter. Er hatte einen Sohn, meinen Vater − wie Tantalus −, den hat er auch den Göttern geopfert, diesen braunen Parteigötzen, indem er ihn vergiftete mit deren Ideologie des Bösen, mit dem Hass auf die Juden. Als nach dem Krieg die Russen kamen, haben sie zuerst meinen Großvater aufgehängt, dann meinen Vater zuerst nach Sibirien verschickt, um ihn dann zum Kommunisten zu machen. Sie konnten ihn gebrauchen. Viel ändern mussten sie ihn nicht. Er war noch immer voller Hass – auf alles jetzt, auf alle, die nicht so sein wollten wie er. Ich, das Unschuldskind mit zwölf Jahren, war eines seiner Opfer.“

      Herma reichte ihm das Büchlein. „Schreib mir was rein, Guido“, bat sie. „Für Iphigenie! Und unterschreibe mit Thoas!“

      Letzteres begriff er nicht gleich. Erschüttert von Hermas Lebensgeschichte nahm er ihr den schmalen Band ab. Als er die Biografie Iphigenies schrieb, hatte er von Herma noch nichts gewusst. Die Dramen des Euripides und Goethes hatten neben anderen Dichtungen und Daten als Vorlagen gedient.

      „Lebt dein Vater noch?“, fragte er.

      „Er lebt, ja. Aber ohne Verstand. In einem Heim für Geisteskranke. Er büßt für das, was er getan hat, ohne zu wissen, was er tat. Und für die Verbrechen seines Vaters. Vielleicht kannst du jetzt besser verstehen, warum mich die Hirnforschung so interessiert. Wie es geschehen kann, dass Menschen zu Unmenschen werden, weil ihr Gehirn unter den Einfluss des Bösen geriet.“

      Hermes verstand es. Umso mehr liebte er sie. Während er überlegte, was er ihr Passendes ins Buch schreiben könne, kam ihm das geschulte Gedächtnis des Altphilologen zu Hilfe. Er schlug das Titelblatt auf und schrieb:

       Thoas:

       Zur Sklaverei gewöhnt der Mensch sich gut

       und lernet leicht gehorchen, wenn man ihn

       der Freiheit ganz beraubt.

       (J. W. v. Goethe: Iphigenie auf Tauris)

       Guido

      Herma las es nachdenklich. Sie hatte etwas anderes, mehr Persönliches erwartet. „Die Freiheit des Geistes. Ja, das ist es, was den Menschen ausmacht. Ich danke dir, Guido.“ Sie legte das Büchlein beiseite. „Es ist wohl so, dass selbst die Geistesfreiheit – das freie Denken – durch den Einfluss des Bösen vergewaltigt werden kann. Ich stelle es mir vor wie eine Infektion des Gehirns. Der Mensch kann nicht mehr so denken, wie er eigentlich will. Es ist eine Krankheit, schlimmer als Aids, Pest oder Cholera. Wir in den Medien – alle Journalisten, Publizisten und Autoren – sollten die Ärzte sein, die dagegen ankämpfen. Hab ich recht?“

      „Du sagst es, Herma. Genau das versuchen wir ja. Ich mit meinen Büchern und du in deinen Sendungen, ich bin sicher.“ Hermes fühlte sich so hingerissen, nicht mehr nur vom Liebreiz ihrer Weiblichkeit, sondern von allem, was sie sagte – und wie sie es sagte –, dass er spontan ausrief: „Wir sollten uns zusammentun, Herma!“

      „Wir sind es doch längst, Guido“, sagte sie ruhig. „Schreib du nur weiter so – vielleicht keine Romane, aber schreibe! Gib deine Gedanken weiter an die Menschen, die Gedanken an das Schöne, Wahre und Gute. So, wie du’s im Mischkrug den Sokrates als Schlusswort zu Phaidros sagen lässt: Wenn du die Wahrheit erkannt hast, dann schreibe sie den Menschen in die Seele, denn sie ist das Unsterbliche, das den Menschen leitet. Hab ich recht zitiert?“

      Hermes hatte das Zusammentun anders gemeint, nicht nur das Schreiben betreffend. „Ja. Du denkst wie ich, Herma.“ Er breitete die Hände über dem Tisch aus, als wolle er ihr die Reisschüssel reichen. Würdevoll sagte er: „Ich wiederhole noch