Felix Heidenberger

Hermes oder Die Macht der grauen Zellen


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nicht, Professor!“ Dr. Singh beugte sich vor und nahm den Salzstreuer vom Tisch in die Hand. „Eines Tages, da bin ich ganz sicher, wird man dieses Salz in Zucker verwandeln. So wie Jesus Wasser in Wein verwandeln konnte. Und man wird den Tod in Leben verwandeln!“ Er klopfte mit dem Salzgefäß auf die Tischplatte. „Das Glas ist keine tote Masse. Alle Materie besteht aus Molekülen, alle Moleküle setzen sich aus Atomen zusammen, in jedem Atom schlummert Energie – in Bewegung kreisende Elementarteilchen. Materie, Energie und Bewegung sind eins. Sie sind das A und O des Lebens. Leben ist nichts anderes als Eigenbewegung von Materie. Es gibt keinen Tod. Der ganze Kosmos ist Energie und Bewegung. Es ist nur eine Frage der Zeit …“

      Hermes brach in Lachen aus. „Jaja, machen Sie ruhig so weiter, Herr Dr. Singh. Wenn Sie wirklich das glauben, was Sie sagen, können Sie mir nur leidtun. Die Lektüre Ihres Buches – wie war gleich der Titel?“

      „Die Materie lebt!“

      „Ja, also – die Lektüre kann ich mir wohl sparen.“

      6

      Das Gespräch mit Dr. Singh hatte Guido Hermes mehr aufgewühlt, als er sich eingestehen wollte. Das manipulierte Gehirn – der manipulierte Mensch! Die Vorstellung ließ ihn nicht los. Die Beeinflussung des Gehirns durch die Medien. Das Trommelfeuer an Schwachsinn und Lust an allen Spielarten menschlichen Fehlverhaltens, das täglich im Fernsehen auf ein wehrloses Publikum losgelassen wird, kann nicht ohne Wirkung bleiben, sagte er sich. Den Rest besorgt diese Bücherflut hier, die die Gehirne nicht nur mit wertvollem Wissen speist, sondern ganz offensichtlich auch mit negativen Impulsen.

      Auf der Suche nach einem ruhigen Ort der Besinnung musste sich Hermes eingestehen: Das Gerede von diesem Dr. Singh hatte auch sein Denken beeinflusst. Endlich fand er einen Platz im Pressezimmer, ließ sich in einen der bequemen Ledersessel fallen und sann darüber nach, dass schon die Inquisition der römischen Kirche im Mittelalter einen Index der verbotenen Bücher eingeführt hatte, um ihre Schäflein vor Einflüsterungen des Teufels zu bewahren. Wie mächtig diese Einflüsterungen sein können, hat die Kirche erfahren müssen. Ihm war auch bewusst, dass autoritäre Staaten der Neuzeit diese Macht zu ihrem Vorteil zu nutzen verstanden. Hermes hatte die Hitlerzeit noch als Kind erlebt. Damals wurden nicht nur verbotene Bücher verbrannt, wie er sich entsann, sondern die teuflischen Einflüsterungen einer verbrecherischen Politik wurden in Literatur jeglicher Art verbreitet. Wie wirkungsvoll, hatte die Geschichte erwiesen.

      Noch vor der vereinbarten Zeit ging Hermes nach oben zum Messestand des Buchmann Verlages, um endlich die Frau wiederzusehen, die ihm seit einem Jahr nicht mehr aus dem Kopf ging. In Gedanken an sie war er in seinem Sessel fast ein wenig eingenickt und ins Träumen geraten.

      Das Wiedersehen war ein Schock. Er hätte Herma beinahe nicht mehr erkannt. Sie war bereits da und unterhielt sich mit Lilott Buchmann. War sie es wirklich? Herma war ungeschminkt, die blutvollen Lippen ohne den aufreizenden Glanz, den sie in seiner Erinnerung hatten. Die Lockenhaare waren versteckt unter einer grauen Strickmütze, die Figur umhüllte ein unförmiger Parka, die Beine verschwanden in schäbigen Jeans: Wie eine dieser Allerweltsfrauen sah sie aus, die ihre Weiblichkeit leugnen wollen. Wo war Hermas so bezaubernder Charme geblieben?

      „Bin nur schnell hergekommen, um Sie zu sehen, Professor Hermes“, begrüßte sie ihn hastig und reichte ihm förmlich die Hand. „Ich muss gleich weiter zu einem anderen Termin. Im Zoo!“ Sie lachte. „Hab leider für hier kein Kamerateam mehr bekommen.“

      Die Verlegerin drängte beide hinter die Dekoration des Standes, wo sie sich setzen konnten. Noch immer leicht außer Atem fuhr Herma fort: „Hab aber einen besseren Vorschlag: Sie kommen heute Abend zu mir ins Studio, zur Livesendung über die Buchmesse. Was halten Sie davon?“

      Hermes sah sie noch immer ungläubig an. Diese Frau hatte nichts mit dem Bild gemein, von dem er noch eben geträumt hatte. „Ich weiß nicht“, war alles, was er zu sagen vermochte.

      Frau Buchmann schaltete sich ein. Sie war hinter Hermas Stuhl stehen geblieben, als müsse sie ihr einflüstern. „Ein Interview hier am Messestand, das Frau Dr. Schäfer dann in ihrer Sendung bringen würde, fände ich natürlich schöner. Wegen der Werbung, Sie verstehen. Aber Ihr persönliches Erscheinen in der Livesendung, lieber Guido, ist vielleicht doch noch wirkungsvoller.“ Sie nickte Hermes aufmunternd zu. „Nehmen Sie den Mischkrug mit!“ Sie reichte ihm eines der Presseexemplare.

      Noch immer geschockt von der Entzauberung seiner Herma-Vision wanderte sein Blick zwischen beiden Frauen hin und her. „Was soll ich da machen?“, fragte er hilflos.

      „Überlassen Sie das alles mir“, sagte die Frau, die Dr. Schäfer hieß, was ihm wieder bewusst wurde. „Wir plaudern ein wenig über Ihr Buch. Der Roman hat mich fasziniert. Er wirft so viele Fragen auf. Ich freue mich schon jetzt darauf, was Sie dazu sagen werden.“

      „Ich weiß nicht …“, wiederholte Hermes, noch immer unsicher. Diese Frau Dr. Schäfer machte ihm Angst. War es möglich, dass sie sich verstellte, sich nur verkleidet hatte? Um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, dass zwischen ihnen beiden eine geheime Beziehung bestand? So war es doch! Er suchte in Hermas Augen nach Bestätigung.

      Sie beugte sich vor und legte ihre Hand auf die seine. „Seien Sie unbesorgt, lieber Professor Hermes.“

      Die Berührung durchfuhr ihn. Wie damals, vor einem Jahr im Chinarestaurant, als sie die Hand über den Tisch gereicht und damit das Bündnis des gegenseitigen Verstehens besiegelt hatte. Es war also immer noch da. Sie ließ es ihn spüren.

      Er atmete auf. „Gut – Frau Schäfer, ich vertraue Ihnen“, sagte er mit fester Stimme.

      „Warum so förmlich, Guido? Für Sie bin ich immer noch Herma.“

      Sie sagte es so selbstverständlich, dass die Verlegerin aufhorchte. War da etwas zwischen den beiden, von dem sie nichts wusste? Mit Sorge hatte sie des Professors anfängliches Zögern verfolgt. „Das hört sich ja gut an“, sagte sie erleichtert. „Da brauche ich mir keine Gedanken zu machen, dass die Sendung kein Erfolg wird.“

      Herma stand auf. „Ich bin in Eile, tut mir leid. Aber, Frau Buchmann, Sie haben recht: Der Professor und ich, wir verstehen uns bestens. Das hat sich ja schon voriges Jahr gezeigt – nicht wahr, Guido?“

      Er erhob sich ebenfalls, beflügelt von Hermas neuer Tonart. „Ich begleite Sie noch ein Stück hinaus“, sagte er. „Sie müssen mir noch genau sagen, wann ich wo sein soll.“

      Er fasste nach ihrem Arm, als wolle er sie geleiten, in Wahrheit aber nur, um sie zu berühren, ihr nahe zu sein.

      Erst als sie das Gedränge in der Halle hinter sich hatten, ergriff sie wieder das Wort: „Nehmen Sie sich ein Taxi. Sie brauchen nur zu sagen: Zur Media City in der Kantstraße. Er soll Sie bei der Pforte absetzen. Es wird Sie jemand erwarten und zu mir ins Studio bringen. Richten Sie es so ein, dass Sie spätestens um halb sieben da sind. Die Sendung beginnt um sieben.“

      Sie hatten den Ausgang erreicht. Hermes blieb stehen. „Müssen wir nicht vorher noch einiges besprechen?“, fragte er.

      „Wird nicht nötig sein.“ Sie lächelte gelassen. „Vergessen Sie die Kamera und das ganze Drumherum. Schauen Sie nur mich an, Guido. Ja? Es ist, als wären nur wir zwei allein – und wir reden ein bisschen.“

      „Wie viel Zeit haben wir da?“

      „Nur ein paar Minuten. Es kommen ja noch andere Beiträge. Aber die Zeit wird genügen, um den Roman kurz vorzustellen. Das verspreche ich Ihnen.“

      Hermes nahm sie plötzlich in die Arme. „Sehen wir uns wenigstens anschließend noch?“

      „Laden Sie mich zum Essen ein? Wieder bei dem Chinesen?“

      „Ich werde dort auf Sie warten – Herma.“ Er küsste sie auf die Wange.

      Sie schaute ihn überrascht an, wandte sich schnell um und lief zum Ausgang, wo ihr Dienstwagen vom MDR wartete. „Also, bis später. Seien