Felix Heidenberger

Hermes oder Die Macht der grauen Zellen


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ein Kind in Asien oder Afrika. Das familiäre Umfeld ist anders, auch die Sprache. Es folgt das unterschiedliche Reagieren auf äußere Einflüsse – das Wetter, Geräusche, Tierlaute –, alles prägt sich dem Gehirn ein und steuert Verhaltensnormen.“

      Professor Hermes ließ sich seine Pasta bolognese schmecken. Was dieser doppelte Doktor sagte, war ihm durchaus geläufig. „Um auf die Kriminalromane zurückzukommen“, sagte er deshalb in überlegenem Ton, „wie würde sich denn Ihrer Meinung nach die Dauerlektüre solcher Sachen auf das Gehirn auswirken?“

      „Wiederholte Eindrücke können zu einem Dauererlebnis werden“, dozierte Dr. Singh. „Reales Geschehen und Angelesenes vermischen sich. Verbrecherische Vorgänge – je drastischer geschildert, umso nachhaltiger prägen sie sich ein – werden wie tatsächliches Erleben in der Erinnerung gespeichert. Primär gegebenes Bewusstsein von Recht und Unrecht, von Gut und Böse, von Mein und Dein, diese moralischen Prinzipien – wir gehen davon aus, dass sie automatisch erworben werden – können sich im Unterbewusstsein verändern. Man hat immer wieder gelesen: Verbrechen ist möglich, Diebstahl funktioniert, Raub gelingt, Mord ist schnell getan …“ Dr. Singh wedelte mit der Hand, als seien solche Taten nur Luftgespinste. „Man darf sich nur nicht erwischen lassen!“ Er lächelte zynisch. „Das kann einen Reiz zur Nachahmung auslösen. Zunächst nur in Gedanken. Vielleicht unbewusst im Traum. Vielleicht dann auch durch eine Tat – eine Untat. Allein der Reiz bestimmter Gehirnzellen mit Gedanken, die den moralischen Prinzipien widersprechen, kann zerstörerisch wirken – wie Gift. Das liberale Schusswaffengesetz in den USA ist ein Beweis für die bereits in den Gehirnen verankerte Illusion, der Besitz eines Gewehres sei Voraussetzung für die persönliche Freiheit. Es muss nicht immer eine Pistole sein. Es kann auch ein Messer sein, ein Baseballschläger – oder auch Gift, was zur Mordwaffe wird. Auslöser ist die oft unbewusste Erinnerung an eine entsprechende Tat – ob in Wirklichkeit erfahren oder angelesen. Das macht keinen Unterschied. Unbewusste geistige Prozesse laufen da ab.“

      Das Klingeln von Frau Buchmanns Mobiltelefon unterbrach Dr. Singhs weitschweifige Ausführungen. Ungeduldig nahm sie den Anruf entgegen. Wie es schien, war ihre Anwesenheit am Messestand des Verlages dringend erforderlich. Sie entschuldigte sich. „Ich muss die Herren allein lassen. Tut mir leid. Es ist so interessant, Dr. Singh zuzuhören. Guido, Sie müssen unbedingt sein Buch lesen – Die Materie lebt. Ich lass Ihnen ein Exemplar zurücklegen.“ Sie stand auf. „Nicht vergessen: Wir sehen uns um vier am Stand! Die Fernsehleute sind immer pünktlich. Dr. Singh kennt die Redakteurin ja auch schon. Sie hat ihn bereits gestern interviewt.“

      Hermes horchte auf. Sein Konkurrent im Verlag war ihm also auch bei Herma schon vorausgekommen. Mit einem Gefühl von Eifersucht, nicht mehr nur als Autor jetzt, wandte er sich erneut an Dr. Singh: „Wenn ich Sie recht verstehe, dann sind es Ihrer Meinung nach infizierte Gehirnzellen – durch Erfahrung mit entsprechender Literatur infiziert –, die zu kriminellen Nachahmungen verleiten?“

      „Ganz recht. Es ist nicht nur meine Meinung. Es gibt Statistiken aus Kriminalprozessen, die das belegen. Die Neuronenverbindungen zwischen den einzelnen Gehirnzellen steuern die Aktionen – oft auch ohne Bewusstseinskontrolle. Der Mensch handelt, ohne es bewusst zu wollen. Wenn ein Kind vor Ihr Auto läuft, treten Sie spontan auf die Bremse. Das ist ein Reflex. Ihr Wollen ist da gar nicht gefragt. Oder: Sie gehen über die Straße, schauen erst nach links, dann nach rechts. Das ist unbewusst, weil Sie es gewohnt sind, weil Sie es schon tausend Mal so gemacht haben – weil Ihr Unterbewusstsein weiß, dass die Gefahr von links kommt.“

      „Mein Wissen, dass bei Rechtsverkehr die Gefahr zuerst von links kommt, ist aber Voraussetzung für das unbewusste Handeln. Ist es nicht so?“

      „Richtig. Sie haben das Wissen durch Erfahrung erworben. Die Gehirnzellen haben die Erfahrung gespeichert. Diese sind es – verkürzt gesagt –, die auf die Bremse treten, nicht Ihr bewusstes Wollen.“

      Hermes gab sich noch nicht geschlagen. „Das kann aber nicht heißen, dass solche unbewussten Impulse stärker sind als mein bewusstes Wollen.“

      Dr. Singh breitete die Hände aus wie bei einer Beschwörung. „So spricht der Philosoph! Die Hirnforschung kann noch immer nicht alle Fragen beantworten. Die geistigen Prozesse, die mit den Neuronen – den Trägern der Botschaften – zwischen den Gehirnzellen ablaufen, sind so komplex, dass sicher noch Jahre vergehen werden, bis das Geheimnis des Gehirns restlos gelüftet ist. Es wäre das Geheimnis des Lebens schlechthin.“

      Hermes nickte nachdenklich. „Das Gehirn ist sicher das wichtigste Organ im menschlichen Körper.

      „Nicht nur im menschlichen Körper“, korrigierte Dr. Singh. „Jedes Lebewesen – jede Fliege, jeder Wurm – hat so ein Steuerungsorgan. Die Hirnforschung bedient sich dieser Tatsache, um experimentell Erkenntnisse zu gewinnen, die allgemeingültig für jedes Lebewesen sind. Das menschliche Gehirn ist lediglich das am weitesten entwickelte.“

      Hermes seufzte. „Und das Herz, das Zentrum der Gefühle, wie wir so gern glauben, ist nichts anderes als eine Pumpe!“

      „Sogar austauschbar, künstlich hergestellt. Was beim Gehirn nicht möglich ist. Noch nicht. Aber vielleicht kommt auch das noch. Auf dem Gebiet der Molekularbiologie ist die Wissenschaft bereits weit vorgedrungen.“

      „Eine grausige Vorstellung!“ Hermes schüttelte sich. „In puncto Gehirnwäsche hat man ja schon genügend Erfahrung gesammelt. Und Sie machen da mit, Dr. Singh?“

      Der junge Wissenschaftler zeigte wieder sein unbestimmtes Lächeln. „Ich bin schon viel weiter, verehrter Professor. Die Neugier treibt mich. Ursprünglich wollte ich einfach nur Arzt werden. Anderen Menschen helfen. Kranke heilen! Welch schönes Ideal! Aber schon während des Studiums hat mich dieser graue Zellklumpen, Gehirn genannt, mehr fasziniert als alle anderen Organe. Vor allem, weil er so nichtssagend aussieht und so bedeutungsvoll sein soll. Und vor allem, weil es noch so viele offene Fragen gab, was seine Funktion betraf. Deshalb hatte ich mich auf die Gehirnforschung spezialisiert, bin eingedrungen in die unbegrenzte Vielfalt der Neuronen und ihrer Eigenschaften … Bis ich auf den Kern gestoßen bin. Buchstäblich: den Kern der Zellsubstanz – den molekularen Aufbau der Zellen und die Möglichkeit, diesen zu verändern. So bin ich über die Molekularbiologie schließlich bei der Physik gelandet – der Mutter aller Naturwissenschaften, wie ich heute weiß.“ Dr. Singhs schwarze Augen leuchteten auf. „Die Nanotechnologie hat uns bewiesen, dass wir den atomaren Aufbau im Molekül verändern können … und damit auch die Eigenschaften bestimmter Substanzen.“

      „Heißt das nicht, der Natur ins Handwerk pfuschen?“, fragte Hermes skeptisch.

      „Wir machen nur nach, was die Natur uns vormacht. Die Welt ist längst voll von sich selbst replizierenden molekularen Lebensformen. Nehmen Sie nur die Viren und Bakterien. Sie mutieren, wenn sie mit Medikamenten beschossen werden, die ihre Eigenart bedrohen. Man hat ihnen sozusagen den Schlüssel für die Haustür genommen. Dann produzieren sie aus sich selbst heraus einen Schlüssel für die Hintertür.“

      „Und Sie glauben, Sie könnten auf diese Weise auch Hirnzellen verändern?“

      „Es ist möglich.“ Der euphorische Glanz in Dr. Singhs Augen nahm um einige Grade zu. „Sogar der Eingriff in das Genom, in die Erbsubstanz, ist möglich. Gentechnische Veränderungen von Molekülen der Gehirnzellen hat man in Tierversuchen erprobt. Warum sollte es nicht möglich sein, auf diese Weise auch individuelle Eigenschaften und Eigenarten eines Menschen zu verändern?“

      „Der Mensch nach Wunsch – aus der Retorte programmiert? Ist das Ihr Ziel, wonach Sie streben?“ Hermes starrte sein Gegenüber entsetzt an.

      „Biologie, Chemie und Physik arbeiten gemeinsam daran. Ich meine, zum Wohle der Menschheit. Der Mensch der Zukunft könnte wieder der sein, der er eigentlich sein sollte: ohne Krankheit, ohne Bosheit – ohne all die schlechten Eigenschaften, die er seit biblischen Zeiten weitervererbt hat, die zur Selbstzerfleischung in Kriegen und Pogromen geführt haben und zu unsinnigen und überflüssigen Kämpfen um Selbstbestätigung.“

      Hermes schüttelte den Kopf. „Das wird wohl nie geschehen“, sagte er. „Und selbst wenn: Es wäre das Ende der Menschheit – der