Felix Heidenberger

Hermes oder Die Macht der grauen Zellen


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schwarzhaarige Männer … Manchmal war auch eine Frau dabei … Bestimmt auch sie eine Kriminelle, sagte sich Klaus-Jürgen. Sie kamen meist erst nachmittags, verschwanden am Abend … oder blieben auch länger. Die Fenster blieben immer geschlossen, die Rollläden heruntergelassen. Einmal war jemand da gewesen … hat ein Fenster hochgezogen – rechts oben im ersten Stock, genau gegenüber seinem Kinderzimmer. Als es dunkel wurde, fiel der Rollladen runter. Ein Spalt blieb offen … Lichtschein flimmerte. War’s eine Kerze? Eine Taschenlampe? Dann war’s wieder finster …“

      Krumbiegel warf einen Blick ins Publikum, sich zu vergewissern, dass alle gespannt zuhörten.

      „Es kam der entscheidende Tag“, fuhr er bedeutungsvoll fort. „Klaus-Jürgen lag wieder auf der Lauer. Es war Nachmittag. Das Fenster genau gegenüber stand weit offen. Er sah: Männer bauten eine Kamera auf … Scheinwerferlicht schwenkte hin und her … Nach einiger Zeit erschien eine Frau. Sie lief am Fenster vorbei. Klaus-Jürgen erschrak. Sie war nackt. Hatte er richtig gesehen? Da war sie wieder – völlig nackt, nur in Strümpfen! Die Männer fielen über sie her. Was machten sie mit ihr? … Klaus-Jürgen starrte ungläubig hinüber … Sie bringen sie um!, flüsterte er. Es sah so aus. Ihm gingen die Augen über … Er wollte schreien. Da fiel der Rollladen plötzlich runter. Noch immer starrte er dahin, wo das Licht durch die Ritzen flimmerte. Schatten wanderten umher … Seine Fantasie ließ ihm keine Ruhe … Später, im Bett, verfolgte ihn das Gesehene noch im Traum …

      Wie schon oft stand das Haus wieder Tage lang leer. Niemand ging ein oder aus. Klaus-Jürgen ließ die Neugier keine Ruhe. Er hatte beobachtet, wie mal ein Mann durch das angelehnte Kellerfenster gekrochen war. Er fasste sich ein Herz, schlich hinüber.“

      Krumbiegel blickte auf und wandte sich an die Zuhörerschaft. „Ich muss hier einfügen“, sagte er in sachlichem Ton, „von diesem heimlichen Ausflug des Zwölfjährigen in das Nachbarhaus hat niemand etwas erfahren. Nur ich weiß davon.“

      Als sei dies eine wichtige Anmerkung gewesen, hielt er sein Buch hoch, blätterte um und fuhr fort:

      „Zu Klaus-Jürgens Überraschung fand er das Haus völlig leer. Er durchstreifte alle Zimmer. Es gab keine Möbel, weder Tische noch Stühle. Ein paar leere Kisten standen herum … In der Küche entdeckte er zwei Gläser in der Spüle. In einem war noch ein gelber Rest. Er roch daran. Orangensaft, dachte er und nippte an dem Rest. Es schmeckte süßlich … ein wenig auch nach Alkohol. Die Flasche daneben war noch halb voll. Er spürte den Alkohol auf der Zunge. Das machte ihm Mut. Noch einen Schluck aus der Flasche … Alkohol war ihm ja verboten. Aber es schmeckte gut … Vielleicht gab es noch mehr Verbotenes hier? Er stieg nach oben. Im ersten Stock fand er einen Raum mit Teppichen ausgelegt … Es war das Zimmer mit dem Fenster gegenüber seinem Kinderzimmer. Eine niedere Liege stand in der Mitte. Klaus-Jürgen wusste gleich: Da war der Mord geschehen – oder was immer es gewesen war, was die Männer mit der Frau gemacht hatten … Klaus-Jürgen setzte sich auf die Liege und schloss die Augen … Die Bilder kehrten wieder, die ihn nicht mehr losgelassen hatten seit dem Tag … Die nackte Frau! Deutlich sah er alles noch mal … Plötzlich schrak er auf. Er hörte Schritte … War doch noch jemand im Haus? … Er bekam es mit der Angst. Auf Zehenspitzen schlich er wieder hinunter in den Keller. Wie er durchs Gitterfenster kriechen wollte, bemerkte er die schwarze Jacke am Wandhaken. Die war vorher nicht dort gewesen. Aus der Seitentasche lugte ein blaues Schulheft. Weil es aussah wie seine eigenen Schulhefte, nahm er es an sich, schlüpfte hinaus und eilte heim.“

      Der Autor hielt das Buch hoch und wandte sich an seine Zuhörergemeinde. „Wenn Sie jetzt wissen wollen, was es mit diesem Heft auf sich hat, müssen Sie das Buch lesen. Ich kann Ihnen nur verraten: Das Heft ist der Schlüssel zum Roman. Die Handlung geht aber zunächst so weiter.“

      Er setzte sich wieder in Positur, schlug die Beine übereinander und fuhr fort:

      „Wenige Tage nach dem heimlichen Besuch im Nachbarhaus erkrankte Klaus-Jürgen an einem seltsamen Fieber. Es wurde so heftig, dass man um sein Leben fürchtete. Der Junge verlor das Bewusstsein und starb tatsächlich am folgenden Tag … Die genaue Todesursache konnte nicht festgestellt werden … Um das Treiben im leer stehenden Haus kümmerte sich niemand mehr … Bis eines Nachts Sirenen heulten und die Nachbarschaft aufschreckten. Polizeiautos mit Blaulicht stoppten vor dem Haus, auch ein Krankenwagen kam. Bewaffnete stürmten hinein. Wenig später trugen zwei Männer eine Leiche heraus …“

      „Hören Sie auf! Hören Sie endlich auf!“, schrie ein Mann, der sich durch die Reihen der Zuhörer im Saal drängte.

      Krumbiegel brach seine Vorlesung ab. Der Störenfried war der gleiche Kapuzenmann, der schon gestern versucht hatte, bei Lesungen von Krimiautoren auf sich aufmerksam zu machen.

      „Sie vergiften die Gehirne der Menschen mit Ihren Geschichten!“, rief er. „Verbrechen, Unmenschlichkeiten, Abnormitäten – das ist Ihr Geschäft. Davon leben Sie … Sie sind ein Abgesandter des Teufels!“

      Zwei Ordnungsmänner, die am Eingang bereitstanden, ergriffen den Mann. Er ließ sich widerstandslos abführen.

      Krumbiegel war aufgestanden. Mit einem Blick auf die Verlagsdame, die hinter ihm gesessen hatte, und auf das Publikum fragte er: „Ich weiß nicht, soll ich weiterlesen?“

      „Ja! Weiter, weiter!“, antwortete es im Chor.

      Die Vertreterin des Verlags war verunsichert. „Ich glaube, es ist besser, wir brechen ab“, sagte sie. „Herr Krumbiegel ist aber bereit, Autogrammwünsche zu erfüllen.“

      5

      Der Zwischenfall wurde gleich Gesprächsthema im Messerestaurant. Auch am reservierten Tisch des Buchmann Verlages. Die Verlegerin hatte einen neuen Autor mitgebracht, von dessen Erstlingswerk sie sich offensichtlich mehr versprach als von Hermes’ Roman. Sie machte die beiden Gelehrten miteinander bekannt. „Dr. Eliya Singh hat in Amerika studiert“, sagte sie. „Spricht fließend Englisch, aber auch sein Deutsch ist einwandfrei. Er ist ein Phänomen – nicht nur sprachlich. Er hat einen doppelten Doktor!“ Sie strahlte den jüngeren Gast – offensichtlich indisch-asiatischer Herkunft, wie Hermes vermutete – wie eine günstige Neuerwerbung an. „Das Lektorat hatte kaum Mühe bei der Bearbeitung. Die vielen Fachausdrücke sind ja immer ein Problem bei wissenschaftlichen Sachbüchern.“

      Dr. Singh lächelte – es sah zumindest so aus – und strich seinen schwarzen Backenbart. Ohne auf die Elogen der Verlegerin einzugehen, griff er den Zwischenfall im Vortragssaal auf. „Vergiften – hat der Mann das so gesagt? Da ist tatsächlich etwas dran.“ Er schob seinen Salatteller beiseite. „Man kann das Gehirn vergiften. Durch schädliche Speisung, durch Wiederholungen vor allem. Das ist wie leibliche Speise. Essen Sie einmal fettes Fleisch, ist nicht schlimm. Essen Sie immer fettes Fleisch, werden Sie krank.“

      Professor Hermes horchte auf. Er hatte im Vortragssaal ganz hinten gestanden und die Darbietung Krumbiegels verfolgt. Gelangweilt und angewidert hatte er den Saal gerade verlassen wollen, als der Zwischenrufer aufgetaucht war. „Wollen Sie sagen, der Dauerkonsum von Kriminalromanen vergiftet das Gehirn?“

      „Ich will nicht verallgemeinern“, erwiderte Dr. Singh. „Kenne den Mann nicht, weiß nicht, was er für Sachen schreibt.“

      Lilott Buchmann wandte sich erklärend an Hermes. „Dr. Singh ist Arzt, Mikrobiologe. Gehirnforschung ist sein Spezialgebiet … Er hat auch in Physik promoviert!“

      Hermes nahm die Qualifikationen seines Gegenübers gelassen zur Kenntnis. Es war offensichtlich, dass die Verlegerin ihn favorisierte. Er tat jedoch so, als habe er die Zwischenbemerkung überhört und setzte das Gespräch fort: „Der Mann schreibt Krimis. Bildet sich was darauf ein, hat offensichtlich eine feste Lesergemeinde, die seine Mordgeschichten schätzt. Wirkt sich das tatsächlich aufs Gehirn aus, wenn man dauernd solches Zeug liest?“

      „Das ist unterschiedlich“, räumte Dr. Singh ein. „Jedes Gehirn ist anders. Die Grundsubstanz der Zellen ist von Natur aus gegeben. Aber die Moleküle können sich verändern. Es hängt von den Eindrücken ab. Wir sagen so – Eindrücke.“ Er schaute