Agnes Schuster

Im Schatten der Corona


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blickten ihr fieberglänzende Augen entgegen. Sie erschrak heftig, aber wehrte sich vehement, jetzt Fieber zu messen. Nur nicht!, dachte sie, ich will die Wahrheit nicht wissen. Diese soll sich an Hand des Thermometers nicht konkretisieren. Auf keinem Fall! Nein! Nein! Lieber will ich darüber im Ungewissen bleiben. Am Eingang der Luftröhre spürte sie einen Krampf, der zum Husten reizte, den sie streng unterdrückte, denn trockener Husten stellte doch auch ein Symptom für Corona dar. Sie schluckte Speichel oder trank vorsorglich einen Schluck Flüssigkeit und schon hatte sich der Hustenreiz erledigt. Sie glaubte, man könne diese Symptome einfach verdrängen oder missachten. Aber als sie sich einmal morgens abrupt vom Bett aufrichtete und am Bett saß, stockte ihr Atem total. Augenblicklich bekam sie überhaupt keine Luft mehr und glaubte zu ersticken. Halb ohnmächtig und wie tot schon zog sie sich hin zum Tisch, wo ihr Smartphone lag. Mit totenblassen zittrigen Händen wählte sie 112, nämlich den Rettungsdienst. Sie dachte, sie müsse jetzt sterben. Schrecklich aufgeregt und verwirrt, gab sie ungenügend Auskunft am Telefon. Selbst ihre Straße und Hausnummer kamen ihr nicht mehr gleich in den Sinn. Wie blamabel! Man fragte wiederholt danach, bis ihr endlich beides einfiel. Gewiss hielt man sie am anderen Ende der Leitung für schwachsinnig. Alzheimer läßt grüßen, dachte man vermutlich. Aber als sie hörten, dass sie keine Luft mehr bekäme, waren sie gewarnt und schneller als gedacht bei ihr. Sie besaß keine Zeit mehr sich vorzubereiten, das Nötigste in eine Tasche zu packen, falls sie ein oder zwei Tage oder gar länger im Krankenhaus bleiben müsse, so wie sie vermutete.

      Blitzschnell war der Rettungswagen an Ort und Stelle gewesen. Beim Eintreten in ihr Haus, reichte man ihr sofort eine Gesichtsmaske dar, denn sie glaubten sofort, sie habe bereits COVID-19. Dann fragte einer der beiden jungen Sanitäter sie laufend aus. Aber zuerst maß er sogleich ihren Sauerstoffgehalt im Blut, indem er ihr an einer Fingerspitze eine klammerartige Vorrichtung ansteckte. „100%!“, schrie er fast grob. „Was wollen Sie! Sie haben doch genug Luft! Sie haben ja 100% Sauerstoff im Blut! Wieso klagen Sie über Atemnot?“

      „Aber ich habe für einen Moment wirklich überhaupt keine Luft mehr bekommen“, verteidigte sich Frau Kappel. „Was hätte ich sonst tun sollen als den Rettungsdienst anzurufen? Mir war doch zum Sterben zumute!“

      Dann fragte er sie über Symptome aus, die man bei einer Corona-Infektion üblicherweise haben kann. „Haben Sie Fieber, Husten, Schluckbeschwerden, Schmerzen in der Lunge oder sonst was? Ist Ihnen übel? Haben Sie Kopfschmerzen oder Geruchs- und Geschmacksstörungen?“

      „Nur dauerhafte Atemnot“, sagte Frau Kappel.

      Wie alt sind Sie eigentlich?“

      „Fast 53 Jahre“, sagte sie.

      „Was haben wir heute für einen Tag?“

      „Samstag“, sagte sie.

      „Welches Monat?“

      „April“, sagte sie.

      „Und welches Jahr?“

      „2020“, antwortete sie.

      „Was wollen Sie jetzt tun?“, fragte er schließlich, „wollen Sie mitkommen oder doch lieber daheim bleiben.“

      Elli überlegte und zögerte mit der Antwort, denn sie wollte jetzt inmitten der Corona-Krise wirklich nicht in ein Krankenhaus mit den vielen Infektionen und Todesfällen, nein, ins Zentrum dieser schrecklichen Pandemie wollte sie eigentlich nicht. Aber sie musste sich schnell entscheiden. Die Sanitäter warteten ungeduldig auf Antwort. Die Zeit drängte.

      „Doch“, sagte sie endlich, „es muss wohl sein, ich komme mit.“

      „Kommen Sie mit“, sagte einer der Sanitäter, „sonst müssen wir gleich nochmals kommen, wenn sie sich plötzlich anders entscheiden, wenn Sie einen erneuten Anfall von Atemnot bekommen.“

      Sie nahm nur ihre Handtasche mit, weiter jedoch nichts und sperrte die Eingangstüre des Hauses zu. Ihr Mann schlief noch. Es war früh am Morgen. Ihr Nachbar Limburg beobachtete sie von drüben, merkte sie. Im Rettungswagen wurde sie weiterhin vom Rettungssanitäter ausgefragt, so, wie vorher schon; er wiederholte sich nämlich: „Haben Sie Husten oder Schluckbeschwerden? Tut Ihnen Ihre Lunge weh? Haben Sie Fieber? Wissen Sie welchen Tag wir heute haben? Welches Monat und Jahr haben wir?“ Und weil sie fragend auf ihn blickte, sagte er: „Ja, ich frage Sie dies alles, um eine Übersicht über Sie und Ihren psychischen und physischen Zustand zu bekommen.“

      Sie beantwortete alle Fragen nochmals und nochmals.

      So landete Elli Kappel jetzt am 25. April 2020 mitten in der Corona-Krise im Zentrum der Pandemie, in einem großstädtischen Krankenhaus, wo man Patienten mit dem schlimmen Virus zu behandeln pflegte, wohin sie aus Angst nie hin wollte. Nun aber geschah das Unausweichliche. Sie war da und hatte Angst, sich hier erst recht zu infizieren, falls sie noch nicht angesteckt war.

      Sie wurde von den Sanitätern, zwei hübschen jungen Männern, in die Notaufnahme gebracht, die gleich neben der Intensivstation lag, wo die schlimmen COVID-19 Fälle lagen, angeschlossen und beatmet mit den wichtigen und besonders in Südeuropa so knappen Sauerstoff-Beatmungsmaschinen.

      Hier hinterließen die zwei Sanitäter in der Nothilfe noch allerhand Schriftliches über Frau Kappel bei der Übergabe. Sie lag nun auf einer Untersuchungspritsche und wartete auf eine systemrelevante Krankenschwester. Schließlich trat sie ein, angetan mit einem Schutzkittel, blauen Handschuhen, einer Gesichtsmaske, deren Plastikteil auch die Augen bedeckte. Die Schwester, genervt über den Neuzugang am Wochenende, gab sich beinahe abweisend, mürrisch, schroff und außerordentlich unfreundlich. Zuerst wurde ihr ein Viggo in der Armbeuge in die große Armvene gestoßen und Blut abgenommen, wobei eine Menge Röhrchen mit Blut gefüllt wurden. Anschließend schloss man sie an eine Kochsalz-Infusion an und außerdem mit einer Fingerkuppe auf Dauer an den Sauerstoffprüfer, der fortwährend, ungefähr vier Stunden lang, an denen sie im Untersuchungszimmer lag, 97% Sauerstoff anzeigte und nicht mehr 100%. Auch der Corona-Test wurde vorgenommen. Elli schien, die griesgrämige Pflegefachkraft machte diesen zu schlampig, zu flüchtig, zu schnell und nicht sorgfältig genug, eben lustlos. Wahrscheinlich befand sie sich im Dauerstress jetzt am Wochenende, wo wenig Personal vorhanden war, vermutete sie. Die Schwester betonte dies nämlich auch explizit: „Heute ist viel los!“ Offenbar sterben ihnen gerade etliche Corona-Patienten oder es geht denen sehr schlecht, dachte sie.

      Ja, man machte allerhand Blutuntersuchungen, den Corona Test sowieso, maß ihr die Vitalzeichen wie Puls, Blutdruck und im Ohr die Temperatur. Nach dieser Arbeit zog die Krankenschwester den Schutzkittel aus, auch die blauen Plastikhandschuhe, warf beides in den Abfallbehälter, klappte den Deckel zu, und verließ abrupt, ohne ihr noch weitere Auskunft zu geben, das Untersuchungszimmer.

      Elli fühlte sich alleingelassen und zunehmend eingesperrt, während die Infusion langsam in ihre Vene tropfte. Keine Glocke hing in ihrer Nähe, um im Notfall klingeln zu können. Plötzlich musste sie Wasser lassen, ach, was sollte sie nun machen? Sie lag auf der Pritsche und von allen Seiten angebunden, nämlich am Sauerstoffmessgerät und der Infusion. Also schrie sie so laut sie nur konnte: „Hallo, hallo!“

      Niemand hörte sie, keiner kam, sie wartete und wiederholte nochmals: „Hallo! Hallo!“ Wieder blieben ihre Rufe ungehört.

      Sie dachte: Ich werde noch auf die Pritsche pinkeln, ganz bestimmt. Um dies zu verhindern, schrie sie nach einer Pause nochmals, es half jedoch nichts. Endlich öffnete sich die Türe und die Pflegefachkraft half ihr jetzt, sich auf den Klostuhl zu setzen. Sie war todfroh darüber. „Ich rief schon öfters nach Ihnen!“, klagte Frau Kappel, „ich musste dringend zur Toilette!“

      „Es ist heute sehr viel los!“, mit diesen Worten entschuldigte sie sich nochmals.

      „Ach, die Infusion ist ja auch schon durch“, sagte sie und machte sie ihr weg, aber leider nicht die Viggo, die Venennadel, die ihr bei jeder Bewegung in der Armbeuge schmerzte.

      „Der Arzt kommt noch vorbei!“, sagte sie schließlich, „und dies kann noch dauern, denn heute ist sehr viel los!“, wiederholte sie. Dann zog sie Schutzkittel und Handschuhe aus, entsorgte sie im Abfallbehälter und verließ rasch das Untersuchungszimmer. Zurückgelassen auf der Pritsche, lag sie