Agnes Schuster

Im Schatten der Corona


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      1. Kapitel

      Als Elli Kappel morgens aus dem Schlaf fuhr, wusste sie plötzlich, was die Stunde geschlagen hat. Ich muss meinen bösen Mann verlassen, ehe es zu spät ist, dachte sie. Ach, hätte ich bloß schon eine Leidensgenossin gefunden, die vom gleichen Schicksal betroffen, sich auch vom widerwärtigen Mann trennen will! Dann könnten wir gemeinsam gegen unsere Unbill kämpfen, was besser ist als im Alleingang.

      Ihr Ehemann, Jupp Kappel, ein 60-jähriger, großer, beleibter Mann mit Spitzbart und angegrautem Haar, arbeitete als Aushilfsdozent an der Universität. Am Ende des Wintersemesters 2020, als die Semesterferien gerade begannen, ging er sofort auf Reisen, ohne seine Frau zu informieren, außer dass sie ihm auf Befehl seinen großen Koffer packen musste. Er teilte ihr seit Jahren nichts von Bedeutung mehr mit. War er fort, lebte sie wieder auf. Dann kehrte im Hause Kappel wenigstens eine Zeitlang wieder Ruhe und Frieden ein, wo sie sich vom Ehestress erholen und konzentrierter als sonst in ihrer beruflichen Arbeit als Übersetzerin fortfahren konnte. Ihre Liebe zu ihrem Mann hatte sich erledigt. Hass war an deren Stelle getreten. Aber warum hatte sie das Haus Kappel noch immer nicht verlassen? Dies verstand sie selber nicht.

      Wenn sich ihr Mann zuhause aufhielt, gab er sich mit großer Leidenschaft dem Leviten-Lesen hin, so eifrig wie an der Universität seinen Vorlesungen, wiederholte dabei seine immer gleichlautenden unhaltbaren beleidigenden Sprüche und Vorwürfe, die seine Frau jedesmal in Verzweiflung stürzten. Sie konnte seine ungerechtfertigten Anklagen nicht mehr hören. Aber sie musste sich trotz Widerwillen und unter Strafandrohung seine verbalen Angriffe bis zum Ende anhören. „Du machst mein Bett nicht mehr“, fing er an, „räumst mein Schlafzimmer nicht auf! Ordnung kennst du nicht, alles ist schmutzig hier, besonders die Küche, schau dich dort einmal um!, zwei Körbe Schmutzwäsche warten in der Waschküche aufs Waschen, Bügeln kennst du überhaupt nicht, meine Hemden sind nach wie vor knitterig, die Hosen tragen keine Bügelfalten, meine Schuhe werden nie geputzt, an der Universität falle ich wegen unordentlicher Kleidung schon auf. Welche Blamage das für mich ist, verstehst du nicht! Mit einem Wort, ich bin völlig unzufrieden mit dir, denn du erfüllst deine Pflicht als Hausfrau nicht, obgleich ich dich seit langem mahne, was nicht fruchtet. Für was habe ich dich bloß geheiratet, das möchte ich schon wissen. Ich bin geradezu auf dich hereingefallen, ist es nicht so? Auf der ganzen Linie versagst du; kein gutes Wort, kein Lob verdienst du. Umsonst ist es, an dich hin zu reden, dich auf dies und jenes aufmerksam zu machen. Es geht ins eine Ohr hinein und zum andern hinaus. Keine Wirkung zeigen meine Worte; es ist wie gegen den Wind gesprochen. Ach, es ist ein Kreuz mit dir, Weib! Was fange ich bloß mit dir an? Immer sitzt du in deiner Schreibstube, übersetzt Bücher schlecht und recht, die wenig Geld einbringen oder dir völlig misslingen, dein Verlag ist unzufrieden, wie du selber sagst. Du taugst eben zu gar nichts! Gut, dass wir keine Kinder haben, die hättest du nicht großziehen können. Keine gute Mutter wärst du gewesen, so wie du auch keine gute Ehefrau bist. Mit einem Wort gesagt, ich kann mit dir nicht mehr leben!“, so sagte und behauptete er jedesmal beim Leviten-Lesen mehrmals im Monat. Sie musste stillsitzen und sich bis zum Ende seine unlautere Kritik anhören, durfte nicht aufspringen und davonlaufen, was sie brennend gerne getan hätte. Hätte sie ihn jedoch willkürlich unterbrochen, oh, dann wäre sie auf der Stelle bestraft worden; er hätte sie verprügelt ohne Ende, mit Füßen getreten, an den Haaren gezogen, am Boden entlang geschleift und mit Gebrüll in die Waschküche oder ins Bügelzimmer gejagt, wie er schon öfters tat. Mit psychischer Gewalt greift er mich an, dachte sie beim Zuhören. Meine Psyche will er zerstören. Er gibt mir keinen Raum zur Richtigstellung und Gegenrede. Besser ist es allerdings zu schweigen, denn gegen diesen verschlagenen, durch und durch verlogenen Mann ist nicht anzukommen. Gegen seine Willkür bin ich ohnmächtig. Ach, könnte ich mir doch die Ohren zustopfen, dass ich nichts mehr höre! Er will mich erniedrigen und verletzen und psychisch zerstören. Ein Vieh ist er und kein Mensch. Ja, so dachte sie immer, wenn Jupp zuhause weilte und ihr die Leviten las.

      Jupp war ein ganz und gar versoffener Mann, der gerne Bier und Wein trank, aber manchmal auch scharfe Sachen wie Whisky mit Soda wie Churchill, so wie er sagte, oder Wodka wie die Russen. Aber wenn er fort und verreist war, lebte Elli jedesmal auf; dann war jeder Tag für sie ein sonniger Tag, auch wenn es regnete.

      Sie wusste also seit heute früh, was zu tun sei, um ihn, Jupp, endlich loszuwerden. Sie musste ihn verlassen, ohne wenn und aber, weil er sie krank machte. Schuld, ihr so zuzusetzen, war vielleicht seine Trunksucht oder was auch immer. Sie wusste es nicht genau. Nun hatte sie sich endlich entschieden, Widerstand zu leisten. Sie musste es sofort angehen und in seiner Abwesenheit in die Wege leiten. Nach dem Frühstück zog sie sich in ihre Schreibstube zurück und suchte im Internet nach Frauen mit gleichen Eheproblemen, davon gab es viele, suchte geschlagene, missbrauchte Frauen, die Rat suchten, denn sie brauchte Verstärkung. Sie brauchte eine tatkräftige willensstarke Gleichgesinnte, eine Mitstreiterin und Leidensgenossin. Zusammenhalten müssen geschundene Frauen, dies ist das A und O, sagte sie sich. Lange hielt sie sich im Internet auf, recherchierte hier, suchte dort, las dies und jenes, bis sie endlich auf die Fährte einer gleichaltrigen Frau stieß, die ähnliche Ehekonflikte zu haben schien und die in der gleichen Großstadt wohnte wie sie selber. Ideal, dachte sie. Sie hieß Doris Wick. Mit dieser Frau verbündete sie sich jetzt Ende Februar 2020 und merkte bald nach einigen Telefongesprächen, dass sie sich gegenseitig gut verstanden. Nach und nach, Tag für Tag, blätterten sie ihr gegenwärtiges und vergangenes Leben durch, ohne sich zu treffen. Dabei stellten sie innerhalb kurzer Zeit fest, dass sie beide unbedingt ihren Ehepartner aufgeben und ein selbständiges Leben führen müssen. „Du bist die meine, Doris!“, rief Elli schließlich aufatmend ins Telefon aus übergroßer Freude, sie gefunden und für ihren Kampf gewonnen zu haben.

      Scheinbar, wie sich im Laufe der Zeit herausstellen sollte, kamen mitunter schlimme Dinge in beider Ehebiografien vor. Sie stimmten darin überein, dass sich unabdingbar und unbedingt etwas ändern müsse, denn die häusliche Gewalt, die sie vom Ehepartner erleben mussten, war unerträglich geworden. Gemeinsam sind wir stark, sagten sie sich wiederholt, also packen wir das Unausweichliche gemeinsam an und lassen wir uns scheiden.

      Das Wälzen von Problemen am Telefon schmiedete sie allmählich mehr und mehr zusammen. Sie beratschlagten sich und kamen zur Einsicht, das, was sie vorhatten, müsse schnell passieren, man dürfe nicht lange zuwarten, nicht säumen, dies wäre ein Rückfall in alte Verhaltensmuster. Ein schneller Schlussstrich müsse gezogen, ein scharfer Schnitt gemacht werden. Man dürfe nichts mehr hinauszögern, weil eine Verschleppung ans Eingemachte rühre. Ein menschliches Wrack würden sie sonst werden und die Lust am Leben verlieren. Vielfache Sorgen nagten an ihnen, nahmen ihnen den Appetit; sie magerten ab. In ihrer beruflichen Arbeit als Autorin und Malerin kam Doris Wick nur noch langsam voran, ebenso Elli Kappel als Übersetzerin von englischsprachigen Büchern ins Deutsche. Laufend wurden beide durch das Zusammenleben mit ihrem jeweiligen Ehemann gedanklich abgelenkt und an ihr trauriges Schicksal erinnert, das vehement seit Jahrzehnten auf ihrer Seele lastete. Am besten gleich zwei zusammenhängende Wohnungen wollten sie sich suchen. Dies wäre ratsam, wünschenswert und ideal, dachten sie beide gleichermaßen, um nicht so alleine zu sein. Zur Selbsthilfe müsse man greifen und hinzu käme dann gegenseitige Aufmunterung, Fürsorge und Solidarität in ihrer engen Verbundenheit als Freundinnen. Stets befassten sie sich jetzt mit ihrem aktuellen Thema und bereiteten sich schon auf die Flucht vom Partner vor. Es wurde nach vielen leidvollen Jahren auch wirklich Zeit, sich endlich auf den Weg zu machen, sich mit der Trennung zu befassen, darin stimmten sie fest überein. Doris sagte: „Immer lieber bin ich alleine. Ich rede eigentlich schon seit Jahren kaum noch ein Wort mit meinem Mann, ziehe mich seit Jahren schon mehr und mehr von ihm zurück, wenn es möglich ist und er mich lässt, und halte mich im Atelier oder Schreibzimmer auf, aber auch hier überfällt er mich, rumpelt ohne anzuklopfen argwöhnisch in meine Räume und schreit vorwurfsvoll, als täte ich etwas Verbotenes: „Was schreibst du da immer?“ Adam will mir ein schlechtes Gewissen machen. Er will mir nämlich damit sagen: Schreibe ja nichts von meinem widerlichen brutalen Verhältnis zu dir, sonst kannst du was erleben! Ich bringe dich sonst noch um!, wenn du dies veröffentlichst! Oder er greift mich im Atelier an, was nicht minder abscheulich ist. „Du bist keine Malerin! Bist es nie gewesen!“, brüllt er, während er von Bild zu Bild schlurft und die Gemälde missfällig und mit herabhängenden Mundwinkeln betrachtet. „Leg den Pinsel aus der Hand! Die Kunstakademie hat dir nichts beibringen können, weil es dir an Talent fehlt! Du sonnst dich wohl in deinem Künstlertum! Wie lächerlich!