Leon Lichtenberg

Hey Joe


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Ringleins mehr als sieben Seiten gesulzt und natürlich eine Eins erhalten. Er selbst hatte für sein Gestammel ein Ungenügend bekommen, und das war nach eigener Einschätzung sogar ok. In der Prima hatten sie dann in Deutsch den Hotzenplotz gekriegt, offiziell Studien-Assessor Mönkeberg. Der hatte in seinem ersten Jahr an der Schule die nach Ansicht des Kollegiums nicht ganz einfache Unterprima in Deutsch, Gemeinschaftskunde und dazu auch noch als Klassenlehrer aufs Auge gedrückt bekommen. Er kam mit dem Rad zu Schule, immer mit ziemlich hohem Tempo. Seine buschigen schwarzen Augenbrauen und die durch den Fahrtwind zerzauste Frisur war das eine, die zusammengekniffenen Augen und die faltige Stirn das andere Element seines Äußeren, das zu seinem Namen geführt hatte.

      Hotzenplotz suchte noch nach einer passenden Strategie im Überlebenskampf mit den halbwüchsigen und ziemlich unangepassten Schülern seiner Klasse. Er hatte sich ein zweigeteiltes Vorgehen zurechtgelegt. Sein Unterricht sollte modern sein. Darunter verstand er Kafka. Vermutlich hatte er seine Examensarbeit auch über diesen geschrieben und betrieb jetzt eine Zweitverwertung seiner Kenntnisse. Jedenfalls war der größte Anteil im Unterricht der letzten zwei Kurzschuljahre dem Werk Kafkas gewidmet. Gegenüber den alten Säcken im Kollegium war das sicherlich mutig, war Kafka für die doch noch entartete Kunst. Für Jo aber war gegenüber Eichendorff und Chamisso kein wesentlicher Vorteil erkennbar. Die Denkweise Kafkas lag jedenfalls nicht auf seiner Wellenlänge.

      Der zweite Teil der Hotzenplotzstrategie war der Versuch der Fraternisierung mit seinen Schülern. Dazu hatte er eine Arbeitsgemeinschaft außerhalb der Schule angeregt, die sich mit moderner amerikanischer Literatur beschäftigen sollte. Diese fand im Zyklus von zwei Wochen dienstags im Hinterzimmer des Deutschen Hauses statt. Jo war solchen Anbiederungsversuchen von Lehrerseite her skeptisch gegenüber, ging aber dennoch regelmäßig hin. Er glaubte, dass es nützlich sein könne, Hotzenplotz etwas besser einzuschätzen. Außerdem könnte er ja vielleicht auch Sympathiepunkte außerhalb der Schule für das eigene Überleben sammeln. Ziemlich schnell hatte sich gezeigt, dass für alle Beteiligten die amerikanische Literatur nur ein Vorwand war für etwas Anderes. Für Hotzenplotz schien es die Möglichkeit zu sein, sich mal für einen Abend von seiner Frau und seinem Säugling abzusetzen und gemütlich Einen zu heben. Da ein größerer Teil der Schülerinnen und Schüler der UIs auch gerne und ausgiebig trank, war das schon mal eine gute gemeinsame Basis für solche Abende. Außerdem war in der Woche abends sowieso wenig los, und Hotzenplotz hatte für die Schüler durchaus einen gewissen Unterhaltungswert. Er referierte in der ersten halben Stunde die Werke von Ginsberg, Mailer oder Burroughs. Das machte die Anwesenden schon neugierig. Mancher ging am nächsten Tag tatsächlich in Königs Buchhandlung und schaute nach, ob es dazu nicht vielleicht ein Reclam-Heft gab. Nach diesem intellektuellen Vorspiel kam man dann einvernehmlich zum eigentlich Grund der Zusammenkunft, einem kollektiven Besäufnis. So nach dem vierten oder fünften Bier wurde Hotzenplotz in der Regel immer gesprächiger. Hauptthema war dabei sein Studium in Freiburg und seine damit verbundenen Erlebnisse. Die machten den einen oder anderen Schüler schon etwas neidisch. Freiburg schien als zukünftiger Studienort eine gute Wahl zu sein.

      „Das Gemeine in Freiburg ist der Glottertäler“, begann Hotzenplotz dann regelmäßig zu dozieren, wobei sich seine Gesichtsfarbe mittlerweile der des Spätburgunders näherte, über den er sich ereiferte. „Da fährst du zum Schauinsland hoch und sitzt mit ein paar Kommilitonen in einer gemütlichen Hütte und trinkst ein Viertel Glottertäler. Der geht samtweich runter und ist so schnell alle, dass du einen zweiten und dritten zu dir nimmst.“ Es wurde dann nie ausgesprochen, wie viel Hotzenplotz davon tatsächlich vertrug, aber die Quintessenz war immer die gleiche: „Und wenn du dann gut gelaunt aufstehen willst, dann haut es dir ganz fürchterlich die Beine unter dem Körper weg.“ Wie er dann tatsächlich zurück nach Freiburg gekommen war, und wie oft während seines Studiums ein solcher Exzess stattgefunden hatte, blieb offen. Da er praktisch bei jeder Zusammenkunft aber wieder dieselbe Geschichte aufwärmte, musste sein studentischer Erlebnishorizont doch eher begrenzt gewesen sein. Niemand hatte auch offensichtlich ein Interesse daran, darüber Näheres zu erfahren. Wenn der Junglehrer an diesem Punkt der Schilderung seiner damaligen Bewegungsunfähigkeit angelangt war, schaute er auf die Uhr, zahlte und verabschiedet sich nach Hause. Der Rest des Zirkels ging danach für weitere zwei Stunden zum verschärften Trinken über.

      So war es auch gestern Abend wieder gewesen. Uwe hatte von seiner älteren Schwester erzählt, die in Freiburg Jura studierte. Die kam nur noch in den Semesterferien nach Hause. Das lag an der Entfernung von fast sechshundert Kilometern, aber auch wohl an der hohen Lebensqualität der Stadt. „Im Sommer scheint dort immer die Sonne, man kann innerhalb von einer Stunde in Frankreich oder in der Schweiz sein, und im Winter kann man im Schwarzwald Ski fahren“, gab Uwe die Erkenntnisse seiner Schwester weiter. Jürgen hatte gehört, man solle im Sommersemester in Kiel studieren und den Segelschein machen und im Wintersemester in Freiburg Skilaufen, das wäre die ideale Standortkombination für ein ereignisreiches Studium. Innerhalb der nächsten zwei Stunden hatten sie dann noch so sechs bis acht Pils getrunken und genauso viele Zigaretten geraucht, bis der Wirt Feierabend machen wollte. Jo war dann mit seinem Wagen nach Hause gefahren.

      Heute Morgen war dann der Restalkohol dafür verantwortlich, dass er noch keine Lust auf Schule verspürte. Als seine Mutter ihn weckte, hatte er gesagt, dass die erste Stunde ausfalle. Nun stand er vor der Frage, ob er noch für den Rest der Deutschstunde in die Klasse gehen sollte. Oberstudienrat Wöhler kam gerade mit einer Klasse von Sextanern zurück vom Sportplatz. Obwohl es Ende Oktober war und schon empfindlich kühl, trug Wöhler wie üblich einer kurze, schwarze Turnhose und ein schmales weißes Hemd, das sich von seinem braun gebrannten sehnigen Körper abhob. Mit seinen geschätzten sechzig Jahren hatte er noch einen durchtrainierten Körper, mit dem er selbst den Primanern im Sportunterricht ihre Grenzen aufzeigen konnte. Die Kleinen marschierten in Zweierreihe hinter ihm her mit roten Köpfen und völlig fertig. Für Wöhler hatte Sport vor allem etwas mit Disziplin und Leistungsdruck zu tun. Ältere Schüler hatten mal verbreitet, dass er ein Nazi und SS-Scherge gewesen sei. Als Indiz wurde eine seltsame runde Narbe an der Innenseite seines linken Oberarmes angeführt. Dort wäre mal sein Blutgruppenzeichen eintätowiert gewesen, ein typisches Kennzeichen für SS-Angehörige.

      Jo wollte Wöhler nicht begegnen und beschloss deshalb, doch noch in seine Klasse zu gehen. Er klopfte an und öffnete ohne abzuwarten die Tür. „Entschuldigung, Herr Mönkeberg, aber mein Auto sprang heute Morgen nicht an“, gab er in etwas belegter Stimme von sich und setzte sich sogleich auf seinen Platz. Das war ein eigentlich plausibler Grund für seine Verspätung. Sein zehn Jahre alter Fiat 600 machte schon rein äußerlich den Eindruck, dass seine besten Jahre hinter ihm liegen würden. Außerdem war die Anlasser Problematik von Fiat allgemein bekannt. „Hans-Joachim, wer saufen kann, der kann auch arbeiten – das sollten Sie sich zum Prinzip machen“, polterte Hotzenplotz mit feindlichem Unterton los. Jo hasste es, wenn er mit seinem doppelten Vornamen angesprochen wurde. Aber er wollte sich auf keine weitere Diskussion einlassen und holte stattdessen sein Deutsch-Heft aus der Tasche. Das war keine kluge Handlung. Hotzenplotz hatte am Vortag Kafkas Erzählung „Kleider“ auf einem Umdruck vervielfältigt herausgegeben. Das Blatt rutschte jetzt aus dem Heft. Jo roch noch den leichten Hauch von Spiritus, und ihm wurde schwindelig. „Hans-Joachim, Sie haben sich doch gestern sicherlich noch intensiv mit der Erzählung beschäftigt und können uns erklären, was Kafka in den Kleidern wohl zum Ausdruck bringen wollte“, bohrte Hotzenplotz. Jo war nicht viel eingefallen zu diesem Text, der nur eine halbe Seite auf dem Blatt ausmachte. „Der war wohl depressiv als er das geschrieben hat“, quälte er sich heraus, ahnend, dass er damit nicht den richtigen Ansatz gefunden hatte. „Der war wohl depressiv“, echote Hotzenplotz. „Bei Ihnen bekomme ich auch langsam Depressionen“, fuhr er fort, wobei sich sein Gesicht schon wieder leicht verfärbte. „Wenn Kafka das hörte, würde er sich noch im Grab umdrehen. Diese Aussage ist die Verhöhnung seiner Kunst. Das geht bald über meine Kräfte, was hier geboten wird.“ Einige Mädchen fingen an zu kichern. Jo dachte blitzschnell über die Hotzenplotzschen Ergüsse nach. „Entweder kann Kafka meine Aussagen hören, dann ist er aber nicht tot, könnte sich aber auch noch umdrehen. Oder aber er ist, wovon auch auszugehen war, tatsächlich bereits gestorben, dann würde auch die Aussage eines kleinstädtischen Gymnasiasten, wie banal sie auch immer sein mag, nicht zu einer Wiederauferstehung führen. Jedenfalls steht fest, dass er gelebt hat und wohl tatsächlich unter Depressionen gelitten