Leon Lichtenberg

Hey Joe


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und Vorarbeiter. Vor einem halben Jahr hatten die beiden geheiratet. Marlies war dann mit ihrem frisch Angetrauten in eine eigene Wohnung gezogen. Jetzt hatten sie auch noch einen eigenen NSU Prinz.

      Jo hatte zu Marlies immer ein etwas distanziertes Verhältnis gehabt. Sie war älter, und sie war ein Mädchen. Mit ihren Freundinnen hatte sie sich früher immer über den kleinen Bruder lustig gemacht. Und er durfte auch nie bei den Mädchen mitspielen. Das hatte er nicht vergessen. Mit Harald konnte er jetzt auch überhaupt nichts anfangen. Der lebte wohl in einer anderen Welt, hatte von Politik keine Ahnung, fand aber Kiesinger gut. Und dann hackte er noch immer auf den italienischen Gastarbeitern rum, die in seiner Firma arbeiteten. Itakas und Spaghettifresser nannte er sie abfällig; und Marlies hörte ihm dabei noch geduldig zu.

      Nach dem erwarten Verweis auf Marlies stand Jo wutentbrannt auf. Selbst wenn er noch Hunger gehabt hätte, wäre ihm das Essen an diesem Tisch spätestens jetzt vergangen. Mit gepresster Stimme sagte er nur noch: „Ich ziehe sowieso bald aus; dann habt ihr eure Ruhe!“ „Und hör mir auf mit Marlies. Ich bin nun mal nicht Marlies. Kapiert das doch endlich.“ Dann warf er die Küchentür von außen zu und ging in sein Zimmer.

      Er hasste diese Auseinandersetzungen um das Geld, vor allem weil sie völlig ungerecht waren. Die einzige finanzielle Zuwendung seiner Eltern war ein monatliches Taschengeld von zwanzig Mark. Und das für einen Achtzehnjährigen. Auf die hätte er eigentlich auch noch verzichten können. Er arbeitete in jeden Ferien, manchmal in einer Möbelfabrik an einer Maschine, in den längeren Ferien als Briefträger bei der Post. Auf diese Weise kam er ganz gut über die Runden. Vor einem halben Jahr hatte er den Führerschein gemacht. Die hundertachtzig Mark dafür hatte er natürlich selbst bezahlt. Trotzdem hatte seine Mutter einen Aufstand gemacht, als er vom Vater die Unterschrift für die Fahrschule einforderte. Das gleiche Theater dann wieder, als er die Zustimmung zur Anmeldung des alten Fiats brauchte. Die dreihundert Mark hatte er natürlich auch selbst aufgebracht. Und die Versicherung für das Auto hatte der Opa übernommen. Das Geld konnte also wirklich nicht der Grund für die aggressive Haltung seiner Mutter ihm gegenüber sein. Ihr passte einfach sein Lebensstil nicht. Schule war eben keine richtige Arbeit. Mit seinem Übertritt zum Gymnasium hatte er andererseits auch Neuland betreten. Im dörflichen Leben von Langhorst gab es keine praktischen Erfahrungen mit Gymnasiasten. Nach dem Krieg war er der zweite, der nach einer Hochschulreife strebte; der erste war der Sohn eines Gutbesitzers gewesen, der aber selten in der Dorfgemeinschaft angetroffen wurde. Und er würde sich wohl auch bald vom Acker machen.

      Trotz der Wirkung der Biere vom Nachmittag gelang es ihm erstaunlich gut, mit der gerade aufgestauten Wut seine Hausaufgaben zu machen. Die Aufgaben zum Integral waren kein Problem, das Kurzreferat über die Bergvölker in Marokko ebenfalls nicht, und die Lateinübersetzung schrieb er mit einigen absichtlich eingebauten Fehlern aus dem Pons ab. Über der aktuellen ´pardon´ war er dann am Schreibtisch eingeschlafen.

      II

      Am 18.10.1966 kam der Musterungsbescheid nach Hause. Jo hatte schon drauf gewartet, weil die meisten anderen Jungs im Dorf und in seiner Klasse die Prozedur schon hinter sich hatten. Insgeheim hatte er allerdings darauf gehofft, vielleicht vergessen worden zu sein. Aber das hatte sich ja jetzt auch erledigt. Zwei Wochen später hatte er seinen Termin beim Kreiswehrersatzamt. Da sollten dann die Weichen für die nähere Zukunft gestellt werden.

      Jo hatte eigentlich noch keine konkreten Vorstellungen über seine Zukunft. Nur über zwei Dinge war er sich ziemlich sicher. Er wollte weg von zu Hause, und er wollte nicht zur Bundeswehr. Die Jungs aus dem Dorf, die etwas älter waren, kamen hin und wieder in Uniform nach Hause. Die hatten einen Wissens- und Erfahrungsvorsprung, den sie weidlich ausnutzten. Der Bund war eben eine völlig andere Welt, die offensichtlich für einige auch was Faszinierendes hatte. Für Jo blieb aus den Schwärmereien etwas anderes hängen, nämlich Drill, Fremdbestimmung, Disziplin und Schinderei. Außerdem hatte er was gegen Uniformen. Deswegen war er schon als einer von wenigen aus seinem Jahrgang nicht Mitglied im Schützenverein von Langhorst geworden.

      Der Opa hatte den ersten und den zweiten Weltkrieg überlebt. Der meinte, man brauche nicht jetzt schon wieder eine deutsche Wehrmacht, da käme sowieso nichts Gutes bei heraus. Sein Vater sprach nie über den Krieg. Er war erst 1946 aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrt. Mutter hatte mal gemeint, er hätte ziemlich schreckliche Sachen erlebt, die er tief in seinem Innersten vergraben hatte. Deswegen sei er auch immer so still.

      Am Gymnasium war die allgemeine Stimmung grundsätzlich gegen die Bundeswehr gerichtet. In den letzten Abi-Jahrgängen hatte es jeweils ein oder zwei Jungs gegeben, die sich freiwillig für eine Offizierslaufbahn entschieden hatten. Bei denen lag der Grund aber wohl hauptsächlich darin, dass sie für ein Studium nicht den nötigen Grips hatten. Soldat als Beruf war scheinbar nur was für die Doofen.

      Bei den älteren Lehrern gab es einmal die ewig Gestrigen. Wöhler war das Prachtexemplar von denen. Der hatte noch nicht so richtig realisiert, dass Nazi-Deutschland vorbei war. Er lebte jenseits aller Realitäten ziemlich ungeniert seinen Traum von der deutschen Herrenrasse weiter. Aber es gab noch zwei, drei andere, die ihre braune Gesinnung nicht verleugnen konnten. Da fielen im Unterricht schon mal Begriffe wie „Raum im Osten“, „ asiatische Untermenschen“ oder “unwertes Leben“. Studienrat Päffken hatte angeblich im Krieg ein paar Tage schwer verletzt unter einem Panzer gelegen, bevor er geborgen wurde. Die psychischen Spätfolgen waren immer noch deutlich erkennbar. Sie blieben auch für sein Verhalten als Lehrer nicht ohne Einfluss. Wenn die Schüler keine Lust auf seinen Geographieunterricht hatten, und das hatten sie selten, dann baten sie ihn, doch von seinen Kriegserlebnissen zu erzählen. Damit war der Rest der Stunde gelaufen. Eine Klasse hatte ihn einmal sogar so weit gebracht, dass er in seiner Bundeswehruniform zur Schule kam. Er war nämlich Oberst-Leutnant der Reserve. Hatte sich dann aber wohl von Oberstudiendirektor Dr. Weiser einen Rüffel eingefangen. Der war ein Humanist der alten Schule.

      In der Oberprima stand im Geschichtsunterricht „Deutschland von 1933 bis zur Gegenwart“ auf dem Lehrplan. Aber in den vergangenen Jahren war kein Lehrer soweit gekommen. Die Zeit dafür war angeblich einfach zu knapp. In Wirklichkeit hatten die alten Säcke aber immer noch Probleme, die jüngere Geschichte und womöglich auch ihre persönliche Stellung darin dem neuen Staatsverständnis entsprechend zu vermitteln. Ob Unsicherheit, Trotz oder nostalgische Gedanken an das tausendjährige Reich dabei eine Rolle spielten, entzog sich den Schülern natürlich. Und mit den Kurzschuljahren war damit zu rechnen, dass sich an der bisherigen Übung des Totschweigens nichts ändern würde.

      Jo hatte also mit der Bundeswehr nichts am Hut. Deswegen kam der Musterung für ihn besondere Bedeutung zu. Er musste es irgendwie hinbekommen, als untauglich ausgemustert zu werden. Hausarzt Dr. Hoppe hielt auch nichts vom Bund. Deshalb hatte der ihm ein Attest über ein nervöses Magenleiden mit Tendenz zu Magengeschwüren ausgestellt. Er hatte tatsächlich Magenprobleme, insbesondere dann, wenn er zu viel Schnaps getrunken hatte. Im Letzten Heller gab es ein paar ganz Schlaue, die absolut wirksame Methoden kannten, um als untauglich ausgemustert zu werden. So wurde das Gerücht verbreitet, man müsse vor der Musterung zwanzig Tassen Kaffee trinken und einhundert Zigaretten rauchen, dann bekäme man einen Kreislaufkollaps. Wer kleine Kügelchen aus Stanniolpapier schluckte, täuschte damit auf dem Röntgenschirm angeblich Magengeschwüre vor. Allerdings kamen die meisten von diesen ganz Schlauen auch als Tauglich wieder zurück.

      Kriegsdienstverweigerung war zwar ein Thema, schien aber nur etwas für die ganz Harten zu sein. Da wurde man vor eine Kommission zur Gewissensprüfung eingeladen. Die stellten dann komische Fragen, auf die es beim besten Willen keine plausible Antwort geben konnte. „Was würden Sie tun, wenn eine russische Soldatenhorde in ihr Haus eindringt und ihre Mutter vergewaltigt?“ Da konnte man rumreden wie man wollte, man war letztlich immer der Dumme und wurde eingezogen. Angeblich hatten nicht einmal die Zeugen Jehovas eine Chance, aber man hörte, die gingen lieber ins Gefängnis als zum Bund.

      Der Musterungstag war ein Tag schulfrei, aber an dem Tag wäre Jo liebend gerne zur Schule gegangen. Er war auf 7.30 Uhr vorgeladen. Da er vierzig Kilometer von zu Hause fahren musste, war er für seine Verhältnisse schon mitten in der Nacht aufgestanden. Auf der Fahrt beschäftigte er sich hauptsächlich mit der Horrorvorstellung,