Leon Lichtenberg

Hey Joe


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was das Zeug hielt. Gegen zwölf Uhr quollen die Aschenbecher über und man konnte im Tabakqualm die anderen nur schemenhaft erkennen. Das mit der eingeschränkten Wahrnehmung lag vielleicht auch am vielen Schnaps.

      Da fast immer zufällig die Zahl an Jungs und Mädchen übereinstimmte, zogen sich mit zunehmendem Alkoholpegel die daraus gebildeten Paare in irgendwelche Ecken zurück. Monikas Zimmer war schon belegt, deshalb ging sie mit Didi ins elterliche Ehebett. Jo konnte sich mal wieder für kein Mädchen entscheiden, was zur Folge hatte, dass nur noch er und Ingrid übrig blieben – wie fast immer.

      Er fand Ingrid äußerlich eigentlich ganz nett. Im Gegensatz zu den meisten anderen Mädchen hatte sie eine Kurzhaarfrisur in Kupferrot, dazu eine kleine Stupsnase und einen hübschen Erdbeermund. Sie hatte auch einiges in der Bluse. Ihre Lehre als Friseuse hatte sie gerade abgeschlossen. Problematisch wurde es für Jo, wenn Ingrid den Mund aufmachte. Sie hatte eine etwas schleppende Singsang-Stimme, deren Klang er nicht gut ertragen konnte. Erschwerend kam noch hinzu, dass das Gesagte auch inhaltlich zu der Stimmlage passte. Da es jetzt schon in seinem Kopf surrte und die geistige Kontrolle schon etwas eingeschränkt war, packte er die Vorbehalte gegenüber Ingrid beiseite. Er nahm sie wortlos in den Arm und küsste sie lange. Küssen konnte sie wirklich gut. Sie zwängten sich dann in eine Sofaecke und knutschten unendlich lange herum. Jo tat schon die Zunge weh davon. Mit der rechten Hand umfasste er ihre Schulter und mit der linken begann er, ihre Brüste zu umrunden. Dann ging es mit der Linken eine Etage tiefer unter ihren Rock auf den Bauch und zwischen die Beine. Sie trug eine Strumpfhose und darunter ein festes Miederhöschen, soviel konnte er ertasten. Damit war sie ziemlich fest eingepackt. Aber dieser manuelle Angriff war wohl für Ingrid ein Überschreiten der Tabu-Zone. Sie zog seine Hand wieder nach oben und legten sie wortlos auf ihre Brüste.

      Jo brauchte eine Pause für seine Zunge und unterbrach seine Aktivitäten. Sie tranken ein gemeinsames Glas Cola-Rum und rauchten eine Zigarette, schwiegen sich aber ansonsten an. Dann begann das Knutsch- und Fummelspiel von neuem.

      Sonntagmorgen wachte Jo mit dumpfen Schädel und ziemlich belegter Zunge auf. Es war schon fast Mittag. Er hatte keine rechte Vorstellung mehr, wie und wann er nach Hause gekommen war. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm, dass sein Wagen unten auf dem Hof stand, ziemlich ordentlich eingeparkt sogar. Das war zumindest beruhigend.

      Er musste seine Gedanken erst mal ein wenig sortieren, soweit das möglich war. Ein paar Stunden fehlten ihm da allerdings. Dann fiel ihm ein, dass er um eins auf dem Fußballplatz stehen musste. Er zog sich an und nahm die schon gepackte Tasche mit den Sportsachen mit in die Küche. Seine Mutter war mit der Zubereitung des Mittagessens fast fertig. Auf sein „Morgen!“ gab es keine Antwort. Damit war klar, dass die vierte Eskalationsstufe erreicht war. Wenn der Haussegen extrem schief hing, dann wurde geschwiegen. Seine Mutter hielt das locker bis zu zwei Wochen aus; und mit den gleichen Genen ausgestattet konnte er das genauso. Er schmierte sich also ohne weitere Worte zwei Scheiben Graubrot, die eine mit Rübenkraut und die andere mit der Mettwurst aus hauseigener Schlachtung. Die nahm er dann zusammen mit einer Flasche Sprudelwasser auf sein Zimmer. Beim Essen überlegte er immer noch, wie das wohl mit Ingrid gestern Abend geendet hatte. Aber da war ein schwarzes Loch in seinem Gedächtnis. Wenn er den Kopf zu schnell drehte, schmerzte es noch sehr.

      Der Trainer hatte ihn in die Reservemannschaft versetzt, weil er in den letzten Spielen in der ersten Mannschaft vor dem Tor ziemlich glücklos gewesen war. Die Reserve spielte immer vor der Ersten. Darin waren vor allem die etwas älteren, verheirateten Spieler, die zum Kaffeetrinken am Nachmittag wieder zu Hause sein wollten oder mussten. Die waren gut eingespielt, und er bekam den Ball nur selten. Da der Alkohol noch nicht ganz verschwunden war, gelang ihm aber auch nicht viel, zumindest in der ersten Halbzeit. In der Pause war Didi dann vorbei gekommen, der in der Ersten den Mittelstürmer spielte. Dabei stellte sich dann heraus, dass sie beide gemeinsam so gegen vier nach Hause gefahren waren. Didi meinte, alles wäre ziemlich korrekt abgelaufen, soweit er sich noch erinnern könnte. Ingrid habe bei Monika übernachtet. In der zweiten Halbzeit ging es Jo dann schon deutlich besser. Er hatte sogar kurz vor Schluss das entscheidende Tor zum Drei-zu-Zwei-Sieg geschossen. Naja, der Ball war ihm vor die Füße gefallen, und er musste ihn nur noch über die Torlinie schieben.

      Nach dem Duschen wurden die grünen Tura-Trikots in eine große Tasche gepackt. Reihum wurden sie dann immer von einem Spieler mit nach Hause genommen und zum nächsten Spiel gewaschen und gebügelt wieder zurückgebracht. Jetzt sollte Jo die Tasche mitnehmen. Er meinte aber, dass es im Augenblick zu Hause nicht so gut passen würde. Jemand anders hatte sich dafür gefunden. Dann hatten sie bei Heinrich noch schnell ein paar Stiefel kreisen lassen. Das lief immer so ab, dass der vorletzte Trinker den ganzen Stiefel bezahlen musste. Manchmal nahm der erste ein paar Schluck und der zweite trank dann die restlichen knapp anderthalb Liter aus, nur um ihn zu ärgern. Da konnte sich dann schnell eine lustige Sauferei ergeben. Aber heute war niemand an einem Exzess interessiert. Die Mitspieler waren entweder nach Hause gefahren oder wieder auf den Fußballplatz gegangen, um die Erste noch zu sehen. Jo fuhr mit seiner alten Kiste in die Stadt.

      V

      Er hatte heute seine Stadtkleidung an, seine Levis-501 und einen schwarzen Rollkragenpullover. Sein Ziel war der städtische Schützenhof. Dort hatten zwei Jungs aus seiner Parallelklasse in einem Nebenraum eine Sonntagnachmittags-Diskothek eingerichtet. Dabei handelte es sich um eine neue Form der Freizeitgestaltung für junge Leute, die vom Rest der Stadt mit einem gewissen Argwohn wahrgenommen wurde. Selbst im Westfälischen Anzeiger hatte ein Reporter namens Heinrich Harrer ein paar Wochen zuvor gewarnt: „Im Schützenhof wird sonntags der Niedergang der deutschen Kultur geprobt. Das Abspielen von Schallplatten mit obszöner Negermusik in extremer Lautstärke soll der deutschen Jugend das Gehirn vernebeln. Wilde Verrenkungen der Körper, die auch nicht im Entferntesten als Tanzen bezeichnet werden können, verstoßen dabei gegen Sitte und Anstand. Es kann dem Stadtrat nur empfohlen werden, hier möglichst schnell einen Riegel vorzuschieben, um den Verfall der Sitten zu stoppen, bevor es zu spät ist.“ Dieser Artikel hatte aber nur dazu geführt, dass die Attraktivität der Veranstaltung gestiegen war. Sonntags um vier war der kleine Saal rappelvoll hauptsächlich mit Pennälern, und der Wirt vom Schützenhof machte ein gutes Geschäft.

      Jo betrat den ziemlich verrauchten Raum. Er war schon gut gefüllt. Die meisten Leute kannten sich vom Gymnasium. Einige Tanzpaare twisteten zu Chubby Checkers” Let´s twist again”. Es wurde nur englischsprachige Musik gespielt, Aktuelles von den Beatles, den Rolling Stones oder den Beach Boys. Jo mochte eher den härteren Sound der Stones, „Get off of my cloud“ oder „Under my thumb“. Er bestellte sich eine Cola und ging zu einer Gruppe von Jungs aus seiner Klasse. Das Tanzen war nicht gerade seine Leidenschaft. Er hatte das Gefühl, dass es bescheuert aussah, wenn er sich nach der Musik bewegte. Die Tanzschule mit vierzehn direkt nach der Konfirmation hatte es nicht geschafft, aus ihm einen Tänzer zu machen. Auch die Übungen zu Hause vorm Spiegel hatten daran nicht viel ändern können. Auf der Tanzfläche der dörflichen Zelt- und Saalfeste war er dann immer schüchterner geworden. Damit sah er seine Chancen bei den attraktiven Mädchen ziemlich eingeschränkt, was ihn wiederum ärgerte. Auch jetzt wieder, wo er in einer Ecke den Pferdeschwanz von Manuela entdeckte. Wie gerne hätte er sie angesprochen, aber er traute sich nicht.

      Stattdessen quatschte er mit Jürgen und Jule. Es gab aktuell zwei Hauptthemen, die alle beschäftigten: Das Abitur und das Danach. Das mit der Schule lief gerade für Jo erstaunlich gut. Er hatte sich fest vorgenommen, für die letzten paar Monate noch mal richtig Gas zu geben und einen guten Notendurchschnitt zu erreichen. Man konnte ja nie wissen, wofür es vielleicht einmal gut sein sollte. Aber er war sich sicher, dass es schon klappen würde mit dem Abi.

      Aber was sollte danach kommen? Für die meisten Mädchen war die Sache klar. Die kamen fast alle aus bürgerlichen Elternhäusern. Melissa sah sich als Künstlerin, sie bewarb sich bei der Folkwangschule in Essen. Yvonne wollte Medizinerin werden wie ihr Vater. Jule wollte auf gar keinen Fall Juristin werden wie ihr Vater, sie dachte an ein Psychologiestudium. Marlies hatte sich als Stewardess bei der Lufthansa beworben. Und Jutta vom Bauernhof wollte Lehrerin werden, für Deutsch und Englisch.

      Bei den Jungs sah alles ganz anders aus. Da stand der Bund zunächst als große schwarze Mauer