Leon Lichtenberg

Hey Joe


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von Tura war er nun endgültig verbannt worden, und auch in der Reserve war man nicht gerade scharf auf ihn. Wenn genügend andere Spieler vorhanden waren, wurde er selbst dort zum Reservespieler degradiert. Das lag sicherlich nicht alleine an seinen fußballerischen Fähigkeiten. Einige Male war er nach der Schule in Lüdecke geblieben und hatte in der Leichtathletikabteilung des dortigen SC beim Lauftraining mitgemacht. Einmal hatte er sogar Stabhochsprung geübt. Die Leichtathleten waren völlig andere Typen als die Fußballer in Langhorst. Sie hatten ihn freundlich aufgenommen und gemeint, er sei immer herzlich willkommen.

      Er rauchte jetzt Gitanes ohne Filter. Die kratzten zwar ganz schön im Hals, aber die Folge war, dass er davon auch deutlich weniger rauchte. Das kam seinen begrenzten Finanzen wieder entgegen. Abends fuhr er häufig noch mal in die Stadt und traf sich dort mit ein paar Klassenkameraden im „Old Monk“. Das war eine verräucherte Kneipe, die von Schülern und in den Semesterferien auch von den heimkehrenden Studenten besucht wurde. Dort gab es ausschließlich amerikanische und französische Musik. Francoise Hardy fand er toll und France Gall. Vonne war auch manchmal dort, die sah der Hardy durchaus etwas ähnlich.

      Am Wochenende ging er nicht mehr zu den Fummelpartys bei Monika. Von Didi hatte er gehört, dass die immer noch in alter Form stattfanden. Ingrid hatte auch schon nach ihm gefragt. Aber das berührte ihn nicht im Geringsten. Er ging jetzt lieber samstags in Lüdecke in den Jazzclub. Dort spielten sie Musik von Miles Davis, John Coltrane, John Lee Hooker und Herbie Hancock. Positiver Nebeneffekt des Jazzclubs war, dass dort eigentlich nie getanzt wurde. Da konnte man die anderen durch seine geschliffene Argumentation überzeugen. Das was Jo dabei so an Ansichten vertrat, stimmte schon weitgehend mit dem Weltbild überein, das er in ´Konkret´ und ´pardon´ vorfand, ab und zu auch mit ein paar kritischen Artikeln aus dem Spiegel gewürzt. Auf diese Weise schuf er sich in der Klassengemeinschaft, die zu einem großen Teil auch in denselben Schülerlokalen auftauchte, langsam den Status eines wachen und kritischen Geistes. Vonne sah er dort eher selten. Die bevorzugte eher ein großbürgerliches Umfeld. Und Manuela durfte am Wochenende nicht alleine abends ausgehen. Sie musste vielmehr ihre Mutter häufig zu irgendwelchen Kulturveranstaltungen in anderen Städten begleiten. Ihr Vater hatte auf dieses „Gedöns“, wie er es nannte, keine Lust, blieb lieber alleine zu Hause und widmete sich der Pflege seines Autos mit dem Stern auf der Kühlerhaube.

      Diese neue Ausrichtung gab Jo ein gutes Gefühl. Er hatte sich die Veränderungen ganz bewusst ausgesucht. Es tat sich was; er wusste nur noch nicht genau, wo er landen würde. Aber die Richtung stimmte. Es zeichnet sich ein Aufbruch in neue Welten ab.

      VIII

      In der Schule lief es auf einmal erstaunlich gut. Dank Vonnes Nachhilfe schrieb Jo in Latein seit Jahren das erste Mal wieder in einer der letzten Klassenarbeiten eine Vier, genauer gesagt sogar eine Vier plus. In Deutsch beschäftigten sie sich bei Hotzenplotz mit dialektischen Erörterungen und mit Camus. Auch hier sah er plötzlich Licht am Ende des Tunnels. Die anderen Fächer hatte er ebenfalls weitgehend im Griff.

      Der Klassenlehrer machte in der Oberstufe auch wieder einen sehr bemühten Eindruck. Es war seine erste Abiturklasse und er hatte mittlerweile begriffen, dass er als junger Assessor möglichst eine Blamage vor dem gesamten Kollegium vermeiden sollte. Das ging aber nur, wenn er seine Klasse erfolgreich durchbrachte. Dazu musste ein Burgfriede geschlossen werden. Nach dem Psychoterror bei der Versetzung war sich die Oberprima aber einig darin, nicht wieder auf den Pseudo-Verbrüderungsweg zurückzukehren. In dem Maße, wie die Klasse eine kühle Distanz zu Hotzenplotz bewahrte, steigerte sich sein Bemühen um Einvernehmen und Anerkennung. „Hans-Joachim, in Ihren aktuellen Leistungen sehe ich Potenziale, die bisher noch völlig im Dunkeln lagen. Da wächst ja richtig etwas heran.“ Jo nuschelte darauf zurück, dass er sich in der Vergangenheit auch sowieso immer verkannt und völlig falsch eingeschätzt gefühlt hätte. Noch vor ein paar Wochen hätte er sich solch einen Wortbeitrag vor versammelter Klasse wohl nicht zugetraut.

      Einmal war er nachmittags wieder bei Vonne gewesen, zunächst um mit ihr Latein-Übersetzungen zu üben. Aber dann kamen sie noch auf die Deutsch-Hausaufgabe zu sprechen: Eine Interpretation zu Camus „Der Gast“. Jo hatte sich noch nicht damit beschäftigt. Er musste die Geschichte zunächst kurz überfliegen. Der Sinn des Ganzen und die Absicht des Autors waren ihm sofort klar. „Bezugnehmend auf den Existenzialismus geht es um die Verdammung des Menschen zur Freiheit, mit der er alleine gelassen ist, die Freiheit, die ihn dazu verdammt, etwas Sinnvolles zu tun. Es geht auch um Dilemmata und ihre Überwindung durch solidarisches Handeln.“ Zwischenzeitlich hatte Jo Vonnes Anwesenheit fast vergessen. Er hatte mehr als fünf Minuten lang geredet, und sie hatte an seinen Lippen gehangen. Als er fertig war, hatte sie ihre Hand auf seine Schulter gelegt und gesagt: „Mann Jo, langsam verblüffst du mich.“ Da war er wieder rot geworden und hatte sich schnell verabschiedet.

      Auch mit Manuela ging es einen ganz entscheidenden Schritt voran. Es war so Mitte März, als sie ihn freitags auf dem Schulhof plötzlich ansprach, ob er sie nicht am Sonntag zur Diskothek abholen wolle. In der nächsten Woche würde ihre Mutter mit ein paar Freundinnen nach Paris fahren und da hätte sie mal endlich wieder frei. Natürlich sagte er sofort zu.

      Am Sonntagmittag hatte er seinen Fiat sauber gemacht, so gut wie das bei der alten Schrottkarre gerade noch möglich war. Gegen den Muff in den Sitzpolstern hatte er eine halbe Dose Haarspray von seiner Mutter im Wageninneren versprüht. Das sich daraus ergebende neue Geruchsgemisch brachte eine Veränderung, wenn die Raumluft auch nicht unbedingt besser wurde. Pünktlich um Viertel vor vier klingelte er an ihrem Bungalow in Langenheide. Sie öffnete sofort und meinte, er solle noch kurz reinkommen, sie sei noch nicht ganz fertig.

      Was er dann so in dem Haus wahrnahm, war auch wieder eine völlig neue Erfahrung für ihn. Schon der Flur war in ein gleißendes Weiß getaucht. Der Boden war mit blankweißen Marmorfliesen bedeckt, die so sauber wirkten, als ob man von ihnen problemlos hätte essen können. Eine offene Tür gab den Blick frei auf eine ebenso weiße Einbauküche, in der auch nicht ein Teller oder eine Tasse rumstanden. Alles wirkte wie auf einem Foto aus „Schöner Wohnen“. „Geh doch noch kurz ins Wohnzimmer, bin gleich sofort fertig“, sagte Manuela und öffnete eine dicke Eichentür am Ende des Flures. Was er dann als Wohnzimmer sah, entsprach zwar nicht dem Stil bei Yvonnes Elternhaus, war aber auf eine andere Art und Weise ebenfalls beeindruckend. Ein bestimmt fünf Meter langer Eichenschrank beherrschte die Wandseite. In der Ecke befand sich eine kleine Bar, ebenfalls aus Eiche mit einem kleinen Baldachin darüber, mit bestimmt zwanzig verschiedenen Spirituosen. Davor standen vier Barhocker. In der Mitte befand sich eine wuchtige Sitzgruppe mit Brokatstoff auf einem dicken Perserteppich. In der anderen Ecke sah Jo eine große Musiktruhe und daneben einen gewaltigen Fernseher. Darüber hing ein großes Ölgemälde mit einer Alpenlandschaft im Frühlingslicht. Das am meisten beeindruckende war aber die gegenüberliegende Fensterfront, die den Blick auf die Terrasse mit einer Hollywoodschaukel freigab. Die war bestimmt acht Meter lang und bestand aus Glaselementen, die von der Decke bis auf den Boden reichten. Jo schaute in den Garten auf einen Erdhügel im Hintergrund. Da kam Manuela herein und sagte: „Da ist Papas neuestes Projekt; er will ein Schwimmbecken bauen.“

      Wenn Jo dieses Haus mit seinem bescheidenen Elternhaus verglich, dann konnte er sich kaum vorstellen, Manuela mal dorthin mitzunehmen. Das würde vermutlich für sie ein Kulturschock werden. Und er merkte, dass er begann, sich für diese einfachen, von schlichten Notwendigkeiten geprägten Lebensumstände zu schämen. Seine Großeltern betrieben noch eine Feierabendlandwirtschaft; da gab es noch Kühe, Schweine und einen Misthaufen auf dem Hof.

      Manuela sah umwerfend aus. Statt des sonst üblichen Pferdeschwanzes trug sie ihr Haar jetzt offen. Die mittelblonden Locken fielen fast bis auf die Schultern. Sie hatte einen leicht glänzenden Lippenstift aufgelegt und roch dezent nach Parfüm. Zu einer schwarzen weiten Hose trug sie eine rotkarierte Bluse. „Du siehst toll aus“, entfuhr es Jo spontan. „Danke“, antwortete sie, wobei beide leicht erröteten - mal wieder. Er hatte auch ein neu erstandenes Rasierwasser aufgelegt, von Pino Silvestre.

      In der Schützenhof-Diskothek waren sie beide dann größtenteils zusammengeblieben. Er hatte sie zu einer Cola eingeladen. Seine Gitanes hatte sie verweigert und lieber die eigenen Peter Stuyvesant geraucht. Sie hatten