Leon Lichtenberg

Hey Joe


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noch einmal gemeinsam durch und schickten sie dann ab.

      Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Jo wurde zum Eignungstest nach Hannover eingeladen, und das schon vierzehn Tage später. Dafür waren zwei ganze Tage vorgesehen. Im Vergleich zur Musterung schienen die ihre Bewerber ja ganz schön in die Mangel nehmen zu wollen. Jürgen hatte auch eine Einladung bekommen. Sein Termin war aber noch eine Woche später. Also musste Jo das alleine durchstehen.

      Unter seinem Fiat stand jetzt morgens immer eine kleine Öllache. Er fuhr deshalb größere Strecken immer mit dem Gefühl, die Kiste würde ihm einmal um die Ohren fliegen. Aber bis nach Hannover hielt sie noch durch. Da die Tests schon gegen acht Uhr morgens begannen, war die Einladung auf den Vorabend datiert. Hinter der angegebenen Adresse verbarg sich ein riesiges Gelände, das doch stark an eine Kaserne erinnerte. Zur Straße hin befand sich ein hoher Zaun, der nach oben mit Stacheldrahtrollen abgesichert war. Vor der Einfahrt war ein Schlagbaum, und daneben sah Jo den ersten Grenzbeamten. Das war ein Bursche etwa in seinem Alter, der eine Uniform trug. Von der Form her glich sie einer Bundeswehruniform, allerdings in einem kräftigen Grün, das eher an einen Förster erinnerte. Außerdem war sie ihm mindestens eine Nummer zu groß. Dazu trug er schwarze Stiefel und einen schwarzen Gürtel, an dem ein Pistolenhalfter hing. Als Jo ausstieg und auf ihn zuging, schlug er die Hacken zusammen und grüßte in der Form, wie das die Jungs im Letzten Heller schon vorgemacht hatten, wenn sie vom Bund das erste Mal auf Heimaturlaub kamen. „Sie sind sicher zum Eignungstest hier“, wurde er gleich empfangen. Dann wurde er weitergeleitet zu einem vierstöckigen Gebäude, wo er im zweiten Stock im Zimmer 24 übernachten sollte. Dazu erhielt er eine Essenmarke für die Kantine.

      Zimmer 24 war ein karg eingerichtetes Zweibettzimmer. Auf einem Bett stand schon eine Reisetasche. Jo warf seine Tasche auf das andere Bett und begab sich in die Kantine. Da war ein Buffet aufgebaut, das stark an das Jugendherbergsessen erinnerte. Egal, Jo lud ein paar Scheiben Brot, Butter, Aufschnitt und Fleischsalat auf einen Teller und gab seine Marke bei einer Küchenfrau von beträchtlicher Leibesfülle ab. Dann schaute er sich nach einem Platz um. Die Kantine war höchstens zu einem Drittel besetzt. „Die Bewerber sitzen hinten links in der Ecke“, half ihm die dicke Küchenfee bei seiner Platzwahl weiter. Da saßen schon fünf Burschen, zu denen Jo sich gesellte.

      Es stellte sich heraus, dass die anderen Jungs aus ganz verschiedenen Regionen stammten, von Hamburg bis zum Ruhrgebiet. Fast alle standen auch kurz vorm Abi und hatten so ähnliche Gedanken zum Grenzschutz wie Jo auch. So genau wusste scheinbar niemand, worauf man sich dort einließ. Es war erst gegen sieben Uhr, und keiner wusste genau, wie der weitere Ablauf des Abends aussehen sollte. Ein groß gewachsener Kerl mit typischen Ruhrgebietsslang meinte, er wolle noch etwas erleben und in die Stadt fahren. Ein anderer hielt dagegen, Hannover sei ein Messedorf. Da sei eine Woche bei der Hannover Messe der Teufel los, und dann würde die Stadt für den Rest des Jahres in einen Tiefschlaf fallen. Der lange Ecki aus Witten wollte das nicht glauben. Er suchte noch Mitstreiter für eine Stadtentdeckung. Neben Jo entschieden sich noch drei andere Jungs, Ecki bei seiner Tour zu begleiten. Sie quetschten sich zu fünft in seinen Glas 1004 und fuhren in die Innenstadt von Hannover. Der Förster an der Wache gab ihnen noch mit auf den Weg, dass sie spätestens um zwölf zurück sein müssten. Danach käme niemand mehr rein.

      Ecki fuhr einen heißen Reifen. Sie landeten irgendwo in der Innenstadt, wo es viel Leuchtreklame gab, aber nur wenige Menschen. Passanten, die sie nach einer Diskothek befragten, schickten sie in den „Royal Club“. Das war eine schummrige Großraum-Disco mit Ausmaßen, wie Jo es bisher noch nie gesehen hatte. Allerdings waren in dem gesamten Laden höchstens zwanzig Gäste. Die Jungs gingen zuerst an die Theke und tranken ein paar Biere und dann noch ein paar hinterher. Aber das wahre Großstadtleben war das nun wirklich nicht.

      Als sie gerade die Rückkehr in die Kaserne beschlossen hatten, kamen drei junge Damen herein. Die ließen sich auch sofort auf ein Gespräch ein; waren wohl dankbar, dass überhaupt etwas in dieser traurigen Stadt passierte. So tranken sie noch ein paar Bier zusammen und tanzten alle gemeinsam im Flackerlicht der schummrigen Tanzfläche. Es stellte sich heraus, dass die Mädchen Schwesternschülerinnen aus dem nahegelegenen Krankenhaus waren. Die waren ganz gut drauf. Eine von ihnen hatte die Idee einer Fahrstuhlparty. Die Disco befand sich im zweiten Stock eines achtstöckigen Hochhauses, in dem sonst nur noch Büros waren. Es gab dort zwei Fahrstühle, die jetzt auch noch bis nach ganz oben fuhren. Einer davon wurde jetzt von der Gruppe okkupiert. Ecki hatte aus seinem Kofferraum noch eine Kiste Dortmunder Union geholt. Er meinte, er würde nie ohne seinen Heimatstoff auf Reisen gehen. So fuhren sie dann ununterbrochen rauf und runter, quatschten, lachten und tranken ganz nebenbei die Kiste leer. Es kam auch zu ersten Zärtlichkeiten, aber Jo blieb außen vor. Gegen halb zwölf war die Party dann zu Ende. Die Mädchen mussten wieder zurück in ihr Schwesternheim und die Jungs in die Kaserne.

      Am nächsten Morgen gegen sechs Uhr wurden sie durch eine schrille Trillerpfeife geweckt. Dazu rief jemand mit dröhnender Stimme „Bewerbergruppe aufstehen“ und das mindestens fünfmal hintereinander. Jo merkte noch den Restalkohol hinter der Schädeldecke. Er ging in den Waschraum und stellte sich erst einmal lange unter die Dusche. Dann ging es ihm schon wieder etwas besser. Beim Frühstück erklärte ein Insider, dass der Kopfschmerz auf das Hannoversche Gildebräu zurückzuführen sei. Das sei eine ganz miese Suppe.

      Dann begann die eigentliche Veranstaltung. Insgesamt waren sie siebzehn Bewerber. Ein braungebrannter Typ, der sich als Oberleutnant Schuster vorstellte, begrüßte sie im Namen des Grenzschutzkommandos Nord. Jo erfuhr von seinem Sitznachbarn, dass das ein Offizier sei. Das erkenne man an den Schulterstücken, die im Gegensatz zu denen der meisten anderen Leute, die da so rumliefen, nicht grün sondern silbern waren. Schubert war mindestens eins neunzig groß. Seine Uniform war auch nicht ganz so knatschig grün wie die der anderen Förster. Sie hatte einen silbernen Schimmer und saß an ihm wie ein Maßanzug. Als erstes ließ er die Gruppe Formulare ausfüllen. Zwar hatte Jo im Rahmen seiner Bewerbung schon viel Papier beschrieben aber hier ging das noch weiter. Er erfuhr, dass er für das Bewerbungsverfahren sogar Geld bekam, für die Fahrt und einfach so für den Aufwand. Er erhielt fünfundsechzig Mark, die auch sofort von einem Förster, der als Rechnungsführer bezeichnet wurde, bar ausgezahlt wurden. Das war schon mal sehr korrekt.

      Danach kam das Prüfungsverfahren, das Jo schon von der Musterung kannte. Zunächst ging es an die Intelligenz, Diktat, Lückentext, ein paar Mathe-Aufgaben. Das war wirklich kein Problem, auch wenn es noch unter der Schädeldecke pochte. Zum Schluss wurde es dann etwas anspruchsvoller. Sie sollten eine Art Aufsatz schreiben, beziehungsweise alles, was ihnen zu dem Thema „Die Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg“ einfiel. Es war schon klar, was man dort hören wollte. „Wir sind die Guten, und die bösen Kommunisten auf der anderen Seite, die Zonis sind die menschenverachtenden Schuldigen an der Zweiteilung unseres Vaterlandes“. Zwar war, wie nicht anders zu erwarten, der Geschichtsunterricht am Gymnasium mit dem Erreichen der Weltwirtschaftskrise 1929 zu seinem Abschluss gekommen. Das Dritte Reich hatte leider wegen der Kurzschuljahre ausfallen müssen, so die Argumentation der Lehrer. Aber die wesentlichen Fakten hatte Jo schon drauf. Und dann schrieb er noch eine ganze Seite über den Volkaufstand in der Ostzone am 17. Juni 1953.

      Nachmittags war dann der große Gesundheitscheck. Das war auch so ähnlich wie beim Kreiswehrersatzamt, aber auch hier fasste ihm wieder niemand an die Eier. Das musste wohl ein Mythos aus vergangenen Zeiten sein. Dazu kamen Hör- und Sehtests. Als weitere Maßnahme musste jeder Bewerber ein Belastungs-EKG über sich ergehen lassen. Dazu wurde man an Bauch und Rücken verkabelt und musste auf einer Art Fahrrad so lange strampeln, bis einem schwarz vor Augen wurde. Spätestens hier war der letzte Alkohol vom Vorabend aus dem Körper verschwunden. Seine Magenbeschwerden erwähnte Jo hier natürlich nicht. Schließlich wollte er sich zumindest die Möglichkeit offen halten, eingestellt zu werden. Ganz sicher war er sich allerdings immer noch nicht, ob das für ihn hier das Richtige sei.

      Die gesamte Aktion für die siebzehn Bewerber zog sich über den ganzen Nachmittag hin. Für die Jungs war damit reichlich Leerlauf verbunden, so dass man viel quatschen konnte. Dabei merkte Jo, dass die Kerle aus dem Ruhrgebiet und Hamburg doch irgendwie reifer wirkten als er mit seinem dörflichen Erfahrungshorizont. Da war der ständige Besuch von Großraumdiscos nur ein Mosaiksteinchen.

      Um halb fünf wurden