Leon Lichtenberg

Hey Joe


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Für den war die Diskothek im Schützenhof vermutlich Kinderkram. Und Vonne war nicht alleine, an ihrer Seite war das braune Mädchen. Die beiden waren natürlich im Mittelpunkt des Geschehens und wurden von allen Anwesenden, Jungs wie Mädchen begafft. Und von den Jungs traute sich niemand, die beiden anzusprechen geschweige denn, mit ihnen zu tanzen. Der Diskjockey legte „Black is black“ von Los Bravos auf und rief in sein Mikrofon: „Jetzt wird auch klar, warum in der Zeitung stand, hier würde Negermusik gespielt. „Du bist ein Idiot“ zischte ihn Vonne darauf an. Clarissa, das schöne braune Mädchen, tat so, als ob sie davon nichts mitbekommen hätte.

      Nach dem das Stück zu Ende war, ging Jo zu Yvonne. „Hallo, das ist ja eine Überraschung, dich hier auch mal zu sehen. Ich dachte, das wäre nicht dein Stil.“ „Ach weißt du, Jo, ich brauche auch mal einen anderen Horizont. Außerdem habe ich im Augenblick auch etwas mehr Zeit für andere Dinge“, antwortete sie, ohne dass Jo wusste, was sie konkret damit meinte. „Und dann will ich mich auch ein wenig um Clarissa kümmern, die ist hier in Lüdecke doch noch etwas alleine und isoliert ist.“ Damit wandte sie sich zu ihrer farbigen Freundin. Und Jo sah das Mädchen zum ersten Mal von ganz nahe. Das Gesicht war kein typisches Negergesicht, mit einer dicken Knubbelnase, riesigen Lippen und so, es sah eigentlich aus, wie ein deutsches Gesicht, aber eben nur braun. Sie hatte große, braune Augen und einen großen, schönen Mund. „Hallo“, sagte Jo. „Hallo“, antwortete sie mit einer für ein Mädchen doch recht tiefen Stimme, und er schaute dabei in ihre Augen und auf ihre Zähne, die im Halbdunkel der Disco besonders weiß leuchteten. Und er merkte, dass er nach längerer Zeit mal wieder rot wurde, obwohl dafür eigentlich überhaupt kein Grund vorhanden war. „Ob Farbige auch rot werden können?“, fragte er sich in diesem Augenblick. „Jedenfalls sieht man es ihnen nicht an, das hat manchmal ganz schöne Vorteile.“

      XIII

      Das Abitur näherte sich seiner letzten und entscheidenden Phase, nämlich den mündlichen Prüfungen. Eine Woche vor dem festgelegten Termin war der Klasse mitgeteilt worden, wer zur mündlichen Prüfung zugelassen worden war, auf Grund der Vorzensuren und der Ergebnisse der schriftlichen Arbeiten. Es war mittlerweile keine große Überraschung mehr, dass sämtliche siebzehn Schülerinnen und Schüler die nächste Hürde genommen hatten. Das hieß aber immer noch nicht, dass damit schon alles gelaufen war. Da aber bis zum Tag der mündlichen Prüfung offen blieb, in welchen Fächern man geprüft wurde, war auch eine gezielte Vorbereitung darauf nicht möglich.

      In manchen Fächern gaben die Lehrer allerdings schon deutliche Hinweise. So war Jürgen, dessen Schwächen in Englisch unüberhör- und -sehbar waren, plötzlich in den letzten Stunden besonders intensiv dran genommen worden, und immer ging es um das Globe-Theatre in London und die historischen Shakespeare-Aufführungen dort. Und Jutta war plötzlich in Physik gefragt, obwohl alle wussten, dass das wahrlich nicht ihre Leidenschaft war. Sie hatte mehrfach Fragen zu Brechgesetzen und Brechzahlen in der Optik beantworten sollen, und das, obwohl es Gegenstand der Unterprima gewesen war und sie sowieso alles, was sie jemals darüber gewusst haben könnte, in der Zwischenzeit mit Sicherheit vergessen hatte. „Vielleicht bemühen sie sich ein ganz kleines Bisschen, der Optik zum Abschluss Ihrer Schulkarriere noch eine Chance zu geben“, hatte Studienrat Meinders ziemlich deutliche Hinweise auf das bevorstehende Finale gegeben. Jo hatte mit solchen Zaunpfahl-Winken kein Glück. Für ihn blieben die möglichen Fächer völlig im Dunklen.

      Am 10. Juli war für die Oberprima 1s der Tag der mündlichen Prüfungen. Das war ein Montag. Das gesamte Wochenende davor war schon irgendwie ungewöhnlich gewesen. Keiner aus der Klasse hatte genau gewusst, was man machen könne, um die Zeit totzuschlagen. Samstagabend hatte sich der größte Teil von ihnen im Old Monk getroffen. Yvonne war schon wieder dabei, ohne ihren Freund. Jo hatte Manuela eröffnet, dass er sich an diesem Wochenende voll auf seinen Abschluss konzentrieren müsse und sie deshalb alleine lasse. Sie hatte dafür Verständnis gezeigt.

      Aber der Abend war dann komisch gewesen. Jeder von ihnen wirkte irgendwie abwesend. Es gab keine vernünftigen Gespräche, und das Bier schmeckte auch nicht. Um elf Uhr beschloss man dann, nach Hause zu gehen. Da es leicht regnete, hatte Jo Yvonne noch nach Hause gefahren. Sie hatte sich tatsächlich in seine alte Kiste gesetzt, obwohl er sie eindringlich vorgewarnt hatte. „Vermutlich hast du in deinem ganzen Leben noch nicht in so einer Schrottkarre gesessen. Außerdem besteht jederzeit die Gefahr, dass der Motor seinen Geist endgültig aufgibt.“ „Du solltest so ein Auto nicht überbewerten“, hatte sie ihm darauf geantwortet und die hakelnde Beifahrertür tatsächlich alleine auf bekommen. Naja, bei dem häuslichen Wagenpark konnte einem eine solche Bemerkung vermutlich leicht über die Lippen kommen.

      Am Sonntagnachmittag war der dann seit längerer Zeit mal wieder in Langhorst auf dem Fußballplatz gewesen, dieses Mal ausschließlich als Zuschauer. Didi spielte natürlich nicht, da er immer noch bei der Marine war. Auch ein paar andere Jungs aus seiner alten Truppe fehlten wegen des Wehrdienstes. Tura verlor 2:3, allerdings etwas unglücklich. Jo merkte, dass ihn das alles mittlerweile völlig kalt ließ. Und er stellte auch fest, dass sich niemand so recht für ihn interessierte. Langhorst und er schienen mittlerweile getrennte Wege zu gehen. Danach hatte seine Mutter Kaffee und Kuchen aufgetischt. Als Stärkung vor dem großen Finale gab es einen Frankfurter Kranz. Den gab es ansonsten nur an besonderen Feiertagen. In der Nacht hatte er dann sehr unruhig geschlafen. An die Träume konnte er sich morgens nicht mehr erinnern, aber sein Nacken war ziemlich verspannt.

      Jürgen hatte sich bereit erklärt, ihn von zu Hause abzuholen. Jo hatte nämlich die Befürchtung, dass gerade an diesem entscheidenden Tag sein Wagen streiken könnte. So waren sie dann pünktlich um acht Uhr im Klassenraum gewesen. Hotzenplotz war ebenso pünktlich erschienen und hatte zunächst wortlos zwei Blätter an die Tafel geklebt. Das erste enthielt die Liste der Prüfungen für den Vormittag, das zweite den Nachmittagsablauf. Dazu muss erwähnt werden, dass der Ablauf die Namen der Prüflinge sowie der Prüfer und den Zeitpunkt der Prüfung enthielt, nicht aber das Prüfungsfach. Das blieb bis zum letzten Augenblick geheim.

      Es gab ein dichtes Gedränge vor der Tafel; und Jo fand seinen Namen nicht. Dann hörte er Vonne von hinten sagen: „Jo, du bist als Allerletzter dran, du Armer!“ So war es tatsächlich. Jürgen war der Vorletzte und er Letzter, und zwar stand der Name Mönkeberg in der Spalte der Prüfer. Seine Prüfung war auf achtzehn Uhr dreißig gelegt. Und dann das noch. „Deutsch, Hans-Joachim, Deutsch, das ist doch mittlerweile Ihr Lieblingsfach.“ Hotzenplotz hatte seine Stimme wiedergefunden und polterte in Richtung Jo. „Deutsch, da haben Sie sich doch sicherlich gut vorbereitet.“ Jo ging, ohne den Klassenlehrer weiter zu beachten, schnell nach draußen. Die Vorstellung, am Abend als Letzter auch noch in Deutsch geprüft zu werden, war schon ein herber Schock. In den Wochen vor der Prüfung hatte Hotzenplotz sich sehr neutral verhalten, der ganzen Klasse gegenüber. Da war auch nicht im Ansatz erkennbar gewesen, wer bei ihm in der mündlichen Prüfung dran kommen würde, geschweige denn, in welchem Fach oder mit welchem konkreten Thema. Also hatte Jo sich auch nicht gezielt auf irgendetwas vorbereiten können. Insgeheim hatte er auf Gemeinschaftskunde gehofft. Auch in Religion hätte er bei Steinkamp vermutlich glänzen können. Aber Deutsch bei Hotzenplotz war der Horror schlechthin. Womöglich müsste er ein Gedicht der Romantik interpretieren.

      Für Jürgen war schon klar, dass er in Englisch geprüft wurde. Bei Frau Kleinmann hatten sie nur Englisch. Da er mit einer Vier vorzensiert war, schien es also in Englisch in der schriftlichen Arbeit nicht geklappt zu haben und er musste jetzt den Nachweis antreten, dass er besser als Fünf war. Das glaubte er jedenfalls.

      Sie beide hatten jetzt einen ganzen Tag vor sich, der mit Hochspannung geladen war. Und sie wussten nichts mit sich anzufangen. Eines wollten sie aber auf gar keinen Fall, nämlich sich auf die Schnelle noch auf irgendetwas prüfungstechnisch vorbereiten. Steinkamp hatte ihnen nämlich die Grundlagen der Lernpsychologie beigebracht. Danach würden die Inhalte, die man sich direkt vor einer Prüfung noch einprägen wollte, sowieso nicht mehr in den Speicher aufgenommen. In der Ausnahmesituation der Prüfung würden sie dementsprechend also auch nicht verfügbar sein. Man sollte deshalb nur entspannen und auf diese Weise Gehirnblockaden vermeiden.

      Also verließen sie erst einmal die Hektik der Schule und fuhren nach Langhorst. Jo´s Oma