Leon Lichtenberg

Hey Joe


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von Francoise Hardy. Das war so ein typischer Klammerblues, und es war eines von Jo´s Lieblingsliedern. Hatten sie bisher noch offen getanzt, so nahm er sie jetzt in den Arm. Zunächst blieben sie noch etwas auf Distanz, aber das änderte sich ziemlich schnell. Sie kamen sich von beiden Seiten näher und ihre Oberkörper berührten sich beim Tanz. Dann legte sie ihren Kopf an seine Schulter und er konnte ihr Haar riechen. Mit beiden Händen drückte er ihren Körper noch etwas enger an sich, dabei berührte er den Verschluss ihres BHs. So standen sie mittlerweile eng umschlungen auf der Tanzfläche und bewegten sich im Rhythmus der Musik nur wenig. Als das Stück zu Ende war, standen sie noch eine Weile so. Dann lösten sie sich voneinander, schauten sich in die Augen und lächelten beide etwas verlegen. Aber niemand von beiden wurde jetzt rot.

      Jetzt kamen wieder schnellere Stücke. Manuela war zur Toilette gegangen, und Jo hatte sich zu der Gruppe von Jungs aus seiner Klasse gesellt. Martin, der Mann vom BGS war auch wieder da. Jo hatte sich in der Zwischenzeit die Unterlagen zur Bewerbung schicken lassen und hatte dazu noch ein paar Fragen an den Experten. Martin war nach wie vor davon überzeugt, dass das eine wirklich sinnvolle Alternative zum Bund sei. Jo war eher skeptisch, dachte aber vor allem an das Geld, das er dort mehr bekommen könnte. Denn dass er wohl bald seinen Einberufungsbescheid bekommen würde, daran hatte er mittlerweile keinen Zweifel mehr.

      Jo hatte nicht mitbekommen, dass Manuela mittlerweile wieder zurückgekommen war. Das hatte Jens ausgenützt. Er hatte sie abgefangen und versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Dieses süße kleine Häschen würde er zu gerne vernaschen. Jo schien ihm dabei kein ernst zu nehmender Gegner zu sein, trotz der Zärtlichkeiten auf der Tanzfläche, die ihm natürlich nicht entgangen waren. Aber sie ließ ihn einfach stehen und kehrte zu Jo zurück.

      Als die Disko wie immer gegen Sieben zu Ende ging, waren sie wie selbstverständlich gemeinsam nach draußen gegangen. Jo hatte Manuela galant in die Jacke geholfen und ihr die Beifahrertür beim Einsteigen aufgehalten, so wie er das in amerikanischen Kinofilmen gesehen hatte. Die Tür hatte er dann allerdings dreimal zuschlagen müssen, bevor sie richtig einrastete. „Starkes Gefährt“, hatte Manuela dazu gemeint. Aber es klang nicht gehässig oder herablassend sondern durchaus liebenswert. „Der Innengeruch ist noch verbesserungsfähig. Aber bis zum neuen Porsche sind es nur noch wenige Schritte“, hatte Jo darauf geantwortet. Und auch das klang so, dass es nicht ganz ernst gemeint war.

      Als sie in Langhorst vor dem Bungalow von Manuelas Eltern ankamen, war sie noch sitzengeblieben. Jo hatte versucht, das Seitenfenster herunterzukurbeln. Aber das Ding war festgerostet. Er hatte sich dann zu Manuela herübergebeugt und das Beifahrerfenster heruntergedreht. „Zur Verbesserung der Atmosphäre“, hatte er dazu gesagt. Dabei hatte er sie berührt. In dieser Stellung war er dann verblieben und hatte ihr in die Augen geschaut. Und sie hatte seinem Blick standgehalten. So schauten sie sich lange in die Augen, ohne dass es ihnen lang vorgekommen wäre. Dann hatte Jo sich nach vorne gebeugt und ihre Lippen berührt. Ganz locker lagen ihre Lippen aufeinander. Jo hatte tief durchgeatmet und ihren angenehmen Duft eingesogen. Dann hatten sie sich wieder angeschaut – sehr lange.

      Es war einer der ersten Frühlingstage des Jahres. Es dämmerte gerade und die Außenluft war lau. Die Vögel zwitscherten ihr Feierabendkonzert. Jo beugte sich ein zweites Mal nach vorne, berührte Manuelas Lippen wieder. Dann küssten sie sich ganz zart, nur ihre Zungenspitzen berührten sich. Jo wurde es ganz warm, und er spürte, dass es Manuela ebenso ging. „Das ist ein schöner Tag“, flüsterte Jo. „Ja, finde ich auch“, hauchte sie zurück. Dann stieg sie aus. Natürlich schloss die Beifahrertür wieder nicht richtig. Jo stieg ebenfalls aus und schlug sie mit Schwung zu. „Bis morgen in der Schule!“ „Bis morgen.“

      Er fuhr nach Hause, mit einer Geschwindigkeit, die der alte Motor noch gerade so hergab, so an die Hundert. Das Seitenfenster war immer noch unten, und der einströmende Wind brachte die alte Kiste zum Vibrieren.

      „Tous les garçons et les filles de mon âge se promènent dans la rue deux par deux, tous les garçons et les filles de mon âge savent bien ce que c'est d'être heureux; et les yeux dans les yeux et la main dans la main. Ils s'en vont amoureux sans peur du lendemain oui mais moi, je vais seule par les rues, l'âme en peine, oui mais moi, je vais seule, car personne ne m'aime.“ Jo wusste, dass er kein begnadeter Sänger war. Aber das spielte jetzt keine Rolle. Es war auch mehr ein Schreigesang, der aus ihm heraus musste. „Je ne suis pas seul – jamais!“ schrie er in den Flatterwind.

      Zu Hause sagte er zu seiner Mutter, dass er keinen Hunger mehr habe. Er müsse noch lernen. Dann legte er sich in seinem Zimmer auf sein Bett und schaute an die Decke, ohne an irgendetwas zu denken. „Les yeux dans les yeux et la main dans la main. “ Er hatte das Gefühl, seit sehr langer Zeit mal wieder glücklich zu sein – oder vielleicht sogar das erste Mal in seinem ganzen Leben.

      IX

      Vom Bund hatte Jo noch nichts gehört. Zwei Jungs aus seiner Klasse hatten schon einen Einberufungsbescheid bekommen. Hansi musste zu den Panzergrenadieren nach Munsterlager. Er hatte im Register vom Weltatlas nachgeschaut, wo das überhaupt lag. War dann auf die Lüneburger Heide gestoßen. „Heidesand fressen“, hatte irgendein Schlaumeier gemeint. Elmar musste zur Luftwaffe nach Rheine. „Rollbahn fegen und Starfighter waschen“, war dazu der Insider-Kommentar gewesen. Das konnte den Betroffenen die schlechte Nachricht auch nicht versüßen. Es stellte sich aber heraus, dass die beiden wegen einer Ehrenrunde in der bisherigen Schulkarriere schon etwas älter waren. Didi, zu dem Jo jetzt nur noch wenig Kontakt hatte, hatte auch eine Einberufung erhalten, zur Marine nach Schleswig-Holstein.

      Jutta hatte einen Bruder, der war schon vierundzwanzig und hatte immer noch keinen Bescheid bekommen. Sie meinte, manchmal würden Leute auch einfach vergessen. Es gab auch das Gerücht, wenn man schon zwei Semester studiert hätte, könne man nicht mehr aus dem Studium herausgerissen werden. Und wenn man nach dem Studium verheiratet wäre und womöglich Kinder hätte, müsse der Bund die Familie versorgen. Und das wäre dem Staat dann zu teuer, so dass man außen vor sei. Aber das waren schon sehr viele Wenns und Abers. Wer konnte außerdem schon wissen, was in vier oder fünf Jahren alles passieren konnte.

      Jo war der Meinung, dass er jetzt eine Entscheidung über seine Zukunft treffen müsse. Die Ziele waren nach wie vor klar, aber der Weg blieb im Nebel. In der Schule war ein Typ vom Arbeitsamt gewesen. Der hatte einen Vortrag gehalten über die verschiedenen Möglichkeiten eines Studiums. Dabei war nicht viel Neues herausgekommen, aber er hatte eine Adresse für eine akademische Berufsberatung in Bielefeld dagelassen. Das wäre ja vielleicht mal eine Hilfestellung bei der Gestaltung des weiteren Weges. Jo hatte sich eine Woche später einen Termin geben lassen. Er war dann nach der Schule zum Bielefelder Arbeitsamt gefahren und hatte einen zweistündigen Test über sich ergehen lassen. Dann hatte er auf dem Flur eine weitere Stunde gewartet. Der Mensch dort hatte ihm einen Vortrag gehalten über seine vermeintlichen Stärken und Schwächen. Im Ergebnis kam dabei heraus, dass seine Begabungen ziemlich gleichmäßig verteilt waren. Die Kreativität war allerdings etwas schwach ausgebildet. Im Prinzip waren das keine besonders neuen Erkenntnisse. So ähnlich hatte er sich vor dem Test auch schon eingeschätzt, aber das war ja auch gerade das Problem. Wenn er eine Leidenschaft für Physik gehabt hätte, hätte er auch Atomphysiker werden können.

      Der Typ machte ihm dann ernsthaft den Vorschlag, er solle doch auf Lehramt studieren. Das war für Jo die absolute Härte. Wenn er auch nicht genau wusste, wohin ihn sein Weg führen sollte, aber eines war absolut sicher: Pauker würde er nie im Leben werden. Daran konnte nicht einmal das Vorbild von Steinkamp etwas ändern. Als er andeutete, er würde sich am ehesten für Philosophie und Soziologie interessieren, rümpfte der Berater nur die Nase. „Das sind doch brotlose Künste, die allerhöchstens ein paar Professoren an den Unis ernähren“, war sein vernichtender Kommentar dazu.

      Letztlich hatte diese Aktion auch keinen wesentlichen Erkenntnisgewinn gebracht. Vielleicht war die Sache mit dem Grenzschutz doch nicht so schlecht. Er konnte erst einmal etwas Zeit gewinnen, er war von zu Hause weg, er konnte die Bundeswehr vermeiden und er bekam noch etwas Geld. Das war schon eine Menge an guten Argumenten. Witzig war, dass die Grenzer alle Beamte waren. Jo als Staatsdiener, das war eine skurrile Vorstellung für ihn. Andererseits konnte es auch nichts schaden. Er diskutierte