Leon Lichtenberg

Hey Joe


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ihm, und auch die Jungen mochten ihn.

      „Religion ist Opium für das Volk“, das war vor einem Jahr der erste Satz gewesen, mit dem er sich der Klasse vorgestellt hatte. „Kann mir jemand sagen, von wem dieses Zitat stammt?“ Die Klasse hatte zunächst geschwiegen, dann hatte sich Yvonne etwas zögerlich gemeldet, Yvonne, die verdammt viel wusste. „Ich vermute mal, dass es einem Philosophen der Aufklärung zuzuschreiben ist“, mutmaßte sie. „Dieser Satz stammt von Karl Marx, einem der größten deutschen Denker“. Nach dieser Aussage von Steinkamp kam doch etwas Unruhe in der Klasse auf. Er ging souverän darüber hinweg. „Ich schlage vor, dass wir uns auf einer etwas breiteren Grundlage mit den geistigen Grundlagen unserer Existenz beschäftigen wollen als es durch eine Erzählungssammlung möglich ist, die für die Menschen vor zweitausend Jahren geschrieben wurde.“ Das stand sicherlich in dieser Form nicht den Richtlinien des Faches ´Evangelische Religionslehre´, traf aber den richtigen Nerv der Klasse.

      Steinkamp hatte es jedenfalls erreicht, dass Jo sich plötzlich brennend für Philosophie interessierte. Für vierzig Mark hatte er sich sogar „Das Sein und das Nichts“ von Sartre gekauft. War aber schwere Kost. Aber sollte er deshalb als Beruf Philosoph anstreben, und was machte ein solcher überhaupt?

      Die Sache mit Manuela stagnierte. Am folgenden Wochenende hatte er sie noch auf dem Schulhof angesprochen, ob er sie sonntags für die Disco zu Hause abholen solle. Es läge auf seinem Wege. Dabei hatte er wieder gemerkt, dass er ein wenig rot geworden war. Sie hatte geantwortet, dass sie gerne mitkäme, am Samstag aber mit ihrer Mutter nach Düsseldorf in die Oper fahren müsse. Da würden sie dann übernachten und erst am Sonntag zurückkehren. „Vielleicht ein anderes Mal“, hatte sie dann gesagt und war ebenfalls etwas errötet. Das gab ihm doch etwas Hoffnung.

      Am Samstag war er dann wieder mit Didi und den anderen unterwegs. Und es endete wieder immer grausam, dieses Mal aber ohne Ingrid.

      VII

      Oberstudienrat Steinkamp übte auf die Oberprima einen erstaunlichen Einfluss aus. Und das geschah, ohne dass sich der so verehrte Lehrer auch nur im Geringsten anstrengen musste. Er hatte eine so souveräne Art, dass Jungen wie Mädchen nur so ins Schwärmen kamen. Allerdings gab er auch manchen Anlass zu Spekulationen. So war er selbst im Januar und Februar so braun im Gesicht als wenn er gerade aus einem vierwöchigen Italienurlaub zurückgekommen wäre. Wie machte er das bloß?

      Er trug keinen Ehering, so dass man davon ausging, er sei ein Junggeselle und führte bei seinem Auftreten vermutlich das Leben eines Playboys. Aber dann erwähnte er so in einem Nebensatz mal etwas von seiner Frau. Das führte bei den Mädchen der Klasse dann zu nicht enden wollenden Diskussionen. Was könnte der wohl für eine Frau haben. Irgendjemand brachte dann das Gerücht auf, Steinkamp wäre mit einer Barfrau verheiratet. Das hätte zwar gut in das Klischee von ihm gepasst, wurde aber nie auf seinen Wahrheitsgehalt überprüft. Seine Attraktivität wurde dadurch aber eher noch größer.

      „Beginnen wir mit Aristoteles. Der ist der Größte – nach wie vor. Danach kam nicht mehr viel Neues“, so hatte er begonnen. Und sie hatten sich mit dem Seienden und dem Nichtseienden, dem Wahren und dem Falschen, mit dem Woher und Wohin beschäftigt. Sie hatten heiß diskutiert und sich in einen Rausch von Gedanken hineingesteigert, bei denen man die Frage nach ihrer Sinnhaftigkeit stellen musste. Steinkamp holte sie dann mit seiner tiefen Stimme wieder zurück, mit einem einzigen Satz: „Hans-Joachim, wenn das Nichtseiende, aus dem alles Seiende entsteht, etwas nur der Möglichkeit nach Seiendes hervorbringt, was bedeutet das dann für Ihre Existenz?“ Sie hatten nichts verstanden und geschwiegen und dann zaghaft von neuem diskutiert. Später hatten sie dann Hegel gelesen, Kant und Nietzsche.

      Bei all der Souveränität, die Steinkamp ausstrahlte, formte sich langsam bei den Schülern ein Bild von einem Mann, der sich keinen großen Illusionen über das Hier und Jetzt und die Zukunft hingab. Es wäre interessant gewesen zu erfahren, wie er durch den Krieg gekommen war. Als kämpfenden Landser im Schützengraben konnte man sich diesen Beau wirklich nicht vorstellen. Aber niemand traute sich, ihn danach zu fragen. Steinkamp schien einfach nur ein gutes Leben im Hier und Jetzt führen zu wollen, gut in der aristotelischen Tradition und Sichtweise. Und dabei schien er wirklich konsequent seinen eigenen Weg zu gehen. Er störte sich nicht im Geringsten an dem Rest des Kollegiums, in dem alle bei aller Verschiedenheit so völlig anders waren als er. Wenn er auch nicht die äußeren Insignien trug, so war er doch für die Schüler der Prototyp eines Existenzialisten.

      Sich als Existenzialist zu fühlen und nach außen auch darzustellen, das schien für Jo eine erstrebenswerte Perspektive zu werden. Im Dunstkreis der Frage, was eigentlich aus ihm werden solle, formte sich unter dem Einfluss von Steinkamps philosophischen Wagenspuren und dem, was er in ´Konkret´ und ´pardon´ so las, langsam ein eigenes Weltbild. Das bestand zunächst aus zwei ganz elementaren Grundansichten. Er wollte auf gar keinen Fall so werden wie seine Eltern oder seine Schwester. Und er wollte ein schönes Leben führen. Das mit den Eltern war relativ klar und einfach, stellte es doch auch nur eine allgemeine Form des Nichtseins dar. Aber was war ein schönes oder gutes Leben? Sartre hatte dazu in etwas so argumentiert: „Das Leben an sich ist sinnlos, aber man sollte dennoch das Beste daraus machen!“ Das gab ihm eine gewisse Hoffnung, dass auch er noch irgendwie glücklich werden könne, er müsse halt sein Schicksal nur in die eigenen Hände nehmen. Das war ihm in der Zwischenzeit auch klar geworden. Wenn er einfach so weiter machen würde, dann würde er vermutlich spätestens mit vierzig auf dem Langhorster Friedhof landen - mit einer deformierten Leber. Dafür gab es genügend warnende Beispiele in der vorhergehenden Dorfgeneration.

      Aristoteles behauptete jedenfalls, dass Genuss alleine nicht glücklich machen würde. Gut, der war vor mehr als zweitausenden Jahren auch nicht dem Warenangebot des deutschen Wirtschaftswunders ausgesetzt gewesen. Wein und hübsche Frauen hatte es damals vermutlich auch schon gegeben. Aber so eine Villa mit Hauspersonal, wie Vonnes Eltern sie besaßen, dazu ein oder zwei schicke Autos, das war schon nicht schlecht. Aber wenn man aus Langhorst kam, fiel das sicherlich nicht vom Himmel. Da musste man für sich klare Ziele definieren, klug sein und clever und vermutlich auch in gewissem Umfang rücksichtslos. Klar, Reichtum war vermutlich nicht alles zum Glück, konnte aber doch wesentliche Voraussetzungen dafür schaffen. Und der Rest von einem erfüllten Leben würde sich dann auch schon irgendwie einstellen.

      Der erste Schritt auf diesem Weg in das eigenproduzierte Glück musste also die Abgrenzung von den alten Kumpels aus Langhorst sein, vor allem von dem exzessiven Zudröhnen mit Bier und Wacholder durchschnittlich drei bis vier Mal pro Woche. Dazu musste er sich einen Freundeskreis schaffen, der eher dem Milieu entsprach, dem er sich nähern wollte. Das waren zunächst die Leute, mit denen er seit mehreren Jahren jeden Tag mindestens sechs Stunden in einen Klassenraum eingesperrt war. Letztlich aber war er dort ein Außenseiter gewesen, ohne dass ihn das sonderlich gestört hätte. Das sollte sich jetzt auf der Zielgeraden zum Abi noch ändern. Und er ging diesen Veränderungsprozess aktiv an.

      Auch äußerlich veränderte sich Jo. Sehr zum Missfallen seiner Mutter wurden die Haare länger und hinten auf der Mitte des Hinterkopfes zusammengedrückt. Damit sie so wie bei Elvis auch mit der so entstandenen Naht zusammenhielten, wurde eine Tube Brisk Frisiercreme zum Einsatz gebracht. Mutter nannte das einen Entenschwanz und dass er aussehe wie ein Halbstarker. Das bestärkte ihn aber eher in seinen Veränderungsabsichten. Dann trug er nur noch einen schwarzen Rollkragenpullover, eine schwarze Levis und schwarze Schuhe. Wenn es richtig kalt war, trug er darüber ein graues Wolljacket.

      Die schwarze Jeans hatte einen durchaus praktischen Nebeneffekt weil sie einfacher in der Handhabung war. Sie löste die blaue Levis 501 ab, die er vorher ständig wochentags getragen hatte. Mit der hatte er nach dem Kauf zunächst immer in die Badewanne steigen müssen. Mit einer Nagelbürste hatte er dann den Stoff auf den Oberschenkeln so lange bearbeitet, bis er etwas heller wurde. Die Badewanne sah danach aus als ob sie mit Tinte gefüllt wäre. Dann musste er drei bis vier Stunden mit der feuchten Hose durch den Garten laufen, bis sie langsam am Körper trocknete und auf die richtige Form einlief. Manchmal hatte er es danach an der Blase gehabt. Schwarze Jeans trug man sowieso etwas weiter.

      Er versuchte, in der Woche abends nicht mehr in den Letzten Heller