Leon Lichtenberg

Hey Joe


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betrat, war der erste Eindruck der Geruch von Bohnerwachs und Muff. Zunächst bekam er bei der Anmeldung eine Menge Formulare in die Hand gedrückt, die er ausfüllen musste. Neben vielen Personaldaten gab es unter anderem die Frage: „Gehören Sie einer kommunistischen Partei an?“ Jo überlegte einen Augenblick, ob er seinem Ziel der bescheinigten Untauglichkeit einen Schritt näher kommen würde, wenn er mit „Ja“ antworten würde, entschied sich dann aber wahrheitsgemäß für ein „Nein“. Dann kam die berüchtigte Gesundheitsuntersuchung. Sein Attest wurde gleich zur Seite gelegt und nicht weiter beachtet. Zunächst musste er Blut und Urin abgeben, dann wurde er, nur noch mit der Unterhose bekleidet, vermessen und gewogen. Danach musste das letzte Kleidungsstück auch noch fallen. Nackt und völlig verunsichert wurde er in das Zimmer geschoben, an dessen Tür ein Schild klebte: Dr. Streber, Oberstabsarzt. Hinter einem Schreibtisch aus beigem Blech saß ein kleines Männchen in einem viel zu groß geratenen Arztkittel. Es roch nach Rauch. Das Männchen hatte einen großen Aschenbecher vor sich, der, obwohl es erst gegen neun Uhr war, bereits gut gefüllt war mit filterlosen Kippen. Neben dem Aschenbecher lag eine leuchtend blaue Schachtel Nil. Gerade nahm er sich eine neue der ovalen Orientzigaretten aus der Schachtel und steckte sie mit dem Stummel der vorhergehenden an. Jo beobachtete den Arzt, der scheinbar von ihm keine Notiz nahm. Er hatte einen länglichen Kopf, nur noch wenige schwarze Harre darauf und eine überdimensionierte dunkle Hornbrille auf der Nase. Irgendwie erinnerte er Jo an Adolf Eichmann oder jedenfalls an einen KZ-Arzt. Plötzlich stand der auf und schnarrte: „Mund auf!“ Er kam Jo bei seiner Untersuchung so nah, dass der den leicht süßlichen Geruch des Orienttabaks in einer Mischung mit alten Körperausdünstungen wahrnahm. Jo wich einen Schritt zurück. Drauf drehte sich das Männchen wieder um, schrieb ein paar Notizen auf ein Formular und gab es Jo mit seinen nikotingelben Fingern. „Vorne abgeben! Das war’s“. Jo war schon wieder draußen, ohne Genitalüberprüfung. Er konnte sich wieder anziehen. Es machte nicht den Eindruck, als ob das für ihn gut gelaufen wäre.

      Als nächstes kam eine Art Eignungstest. Jo war sich selbst aber schon so sehr darüber klar, dass er im Prinzip grundsätzlich von seinen körperlichen Voraussetzungen her geeignet war. Sehtest, Hörtest und Funktest, bei dem er verschiedene Morsepiepser identifizieren musste, machte er deshalb auch eher nachlässig. Dann sollte noch die Intelligenz getestet werden. Mit einer Gruppe von acht bis zehn Leuten saßen sie an Schultischen. Jeder sollte in einer halben Stunde einen Stapel von Aufgabenblättern bearbeiten. Neben ihm kamen einige Kollegen richtig ins Schwitzen bei der Bearbeitung von Aufgaben, die sich eher an Viertklässler richteten. Zum Schluss kam noch ein Diktat, das aus fünf Sätzen bestand. Jo hatte echt keine Lust mehr und schrieb auf den Diktatzettel: „Diese Aufgaben sind eine Beleidigung für eine durchschnittliche Intelligenz“

      Schließlich musste er nur noch auf eine Abschlussbesprechung warten. Die war sehr kurz. Ein Uniformierter teilte ihm mit, dass er tauglich sei. Seine durch Attest vorgebrachten Leiden stellten keine einschränkenden Bedingungen dar. Dann erhielt er den offiziellen Musterungsbescheid in die Hand gedrückt. Die ganze Angelegenheit hatte mit Wartezeiten höchstens vier Stunden gedauert. Er war wohl doch zu naiv und blauäugig gewesen. Seine Strategie war jedenfalls gründlich in die Hose gegangen.

      Vor dem Amt standen auch noch die anderen Jungs herum. Da man sich erst einmal was von der Seele reden musste, ging die ganze Truppe in die nächste Kneipe. Die meisten von ihnen hatten in der Abschlussbesprechung mit dem Uniformierten noch genauer über ihre Verwendung und den gewünschten Truppenstandort sprechen können. Einer verstieg sich sogar zu Schwärmereien: „Der war ja richtig nett“. Ein anderer wusste zu berichten, dass man nach der Grundausbildung den Antrag stellen könnte, zu Hause zu schlafen, wenn man in der Nähe des Standortes wohnen würde. Das war aber wirklich nicht das, was Jo sich so vorstellte. Ein weiterer schwärmte, er würde zur Marine gehen. Da würde man auf einem Schiff stationiert und könne die ganze Welt bereisen. Auch das erschien Jo nicht besonders attraktiv. Er war vor einigen Jahren mal mit seinen Eltern nach Helgoland gefahren. Obwohl das Meer gar nicht so stürmisch war, war ihm sauübel geworden und er hatte über Bord gekotzt. Jedenfalls musste er feststellen, dass er im Gegensatz zu den anderen Jungs keine Fragen nach dem Wunschstandort oder der Waffengattung erhalten hatte. Das ließ nichts Gutes erahnen. Er fuhr dann mal lieber nach Hause, bevor er sich diese Glorifizierung der Bundeswehr noch länger anhören musste. Die ersten diskutierten nämlich schon über den Freiwilligendienst.

      Jo´s Mutter war noch zu Hause. Ihm war schon klar, wie sie auf seine Wehrtauglichkeit reagieren würde. Und genauso kam es dann auch. „Das finde ich richtig gut, dass sie dich mal packen. Da werden sie dir erst mal vernünftige Manieren beibringen. Dann hört das ewige Rumgammeln endlich auf. Die Wehrmacht hat noch keinem geschadet“, sprudelte es nur so aus ihr heraus. Die Nachricht schien ihr in der ständigen Auseinandersetzung etwas Oberwasser zu verschaffen. „Mama, die Wehrmacht heißt jetzt Bundeswehr, und dass sie keinem geschadet hat, da ist Papa sicherlich der lebende Gegenbeweis“, konnte Jo nicht umhin zu kontern.

      Am späteren Nachmittag war er in den Letzten Heller gefahren. Da saßen schon die ersten Jungs, die auf dem Nachhauseweg von der Arbeit noch den Staub runterspülen mussten. Er hatte seinen Musterungsbescheid in der Tasche. Da standen so seltsame Abkürzungen unter der Rubrik „Nicht geeignet für: FJG, ABC, GebVs, HFF, LLV, alle Akt. Fla.FM“. Einer, der schon die achtzehn Monate hinter sich hatte, vermutete, dass man mit diesem Bescheid entweder bei den Panzergrenadieren oder den Pionieren landen würde. Beides wäre aber gleich beschissen. Bei den Pionieren müsse man ständig aus schweren Teilen Brücken über die Weser bauen, Panzergrenadiere würden in der Lüneburger Heide mit einem schweren MG hinter Panzern her rennen und Sand fressen. „Kein Mensch, kein Tier, ein Panzergrenadier“, gab ein anderer seine Weisheit dazu. Das war genau nach Jo´s Geschmack.

      III

      Am Donnerstag war Versetzungskonferenz gewesen. Die Lehrer der Oberstufenklassen waren auch nicht ganz sicher, wie sie bei der Benotung zum Ende des ersten Kurzschuljahres verfahren sollten. Nach den Osterferien waren die Schüler in die Unterprima versetzt worden und Ende November sollte es schon in die Oberprima gehen. Das Kulturministerium hatte für das einzigartige Verfahren zwar eine Menge Papier produziert, aber in der praktischen Umsetzung waren die Lehrer mal wieder auf sich alleine gestellt. Jule, deren Leistungskurve auch gerade im unterirdischen Bereich verlief, hatte gegenüber Studiendirektor Müller-Menke so beiläufig erwähnt, dass die Kurzschuljahre geradezu nach Verwaltungsklagen schreien würden. Das hätte sie von ihrem Vater gehört; und der war immerhin der Direktor des Amtsgerichtes. Müller-Menke war eigentlich Schülern gegenüber ein eher harmloses Lehrerexemplar, aber er war innerhalb und außerhalb der Schule für seine Geschwätzigkeit berüchtigt. Man nannte ihn auch „die städtische Kommunikationszentrale“. Deshalb hatte dieser Hinweis bestimmt schnell innerhalb des Kollegiums die Runde gemacht.

      Nach der Versetzungskonferenz hatte Hotzenplotz plötzlich in der Klasse eine ganz neue Attitüde an den Tag gelegt. Offensichtlich besaß er eine bisher unterdrückte sadistische Ader, die er nun gegenüber seinen Schülern voll auslebte. „Hans-Joachim, Deutsch ist eine Kultursprache, die Sprache von Dichtern und Denkern. Wer sich nicht im Geringsten mit dem deutschen Kulturgut auseinanderzusetzen vermag, dem wird man wohl kaum die geistige Reife bescheinigen können; Deutschland hat auch einen Mangel an Bäckergesellen, Hans-Joachim“, polterte er vor versammelter Klasse. Jo war mal wieder rot geworden, aber diesmal, weil er so sauer auf diese Bloßstellung war. Und es gab nicht einmal was darauf zu antworten. Und so ging es weiter. Mit zusammengekniffenen Augen und hochgezogener Stirn sah der Klassenlehrer noch zorniger aus als schon normal. So tigerte er durch die Klasse, die Hände auf dem Rücken verschränkt und steif nach vorne gebeugt. Es herrschte Totenstille. Da sein nächstes Opfer: „Melissa, würden Ihre Mathematikfähigkeiten zum allgemeinen Maßstab erhoben, dann begäbe sich die Menschheit auf das Niveau der Bronzezeit zurück. Nur mit schönen blauen Augen kann man im 20. Jahrhundert auch nicht bestehen.“ Der stechende Blick machte weiter die Runde, wobei es aus seinen Mundwinkeln leicht seiberte. Er genoss diese Situation: „Ach Jürgen, wer den neusprachlichen Zweig gewählt hat, der sollte doch zumindest in Englisch und Französisch eine Tasse Kaffee bestellen können. – Nein, nein, ich sehe ganz schwarz! Man sollte mit dem Schlimmsten rechnen.“ „Und Jutta, wie wäre es, wenn Sie einen kräftigen Jungbauern