Leon Lichtenberg

Hey Joe


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wenn er in solchen Situationen einen roten Kopf bekam; aber er konnte nicht dagegen steuern. Die Pausenklingel beendete die für ihn peinliche Situation.

      Der Schulhof des Leibniz-Gymnasiums war so angelegt, dass er verschiedene Bedürfnisse der Schüler aller Altersklassen erfüllen konnte. Das war vermutlich nicht so geplant worden, hatte sich aber in der Praxis so entwickelt. Der umzäunte Platz wurde durch eine kreisrunde Straße eingerahmt. In der Mitte standen ein paar große Bäume, der Boden war mit roter Kieselasche bedeckt. Hier war der Tummelplatz für die jüngeren Schüler, die sich dort austobten. Mädchen spielten Hinkel Kästchen oder Gummitwist, Jungens eher Fußball mit einem Tennisball oder einem in der vorhergehenden Stunde geformten Papierknödel. Die Älteren benutzten die Straße und drehten in Gruppen diskutierend ihre Runden. Meistens gingen Jungen und Mädchen dabei getrennt, wobei geheime Kräfte darauf hin wirkten, dass das eine Geschlecht rechtsherum drehte und das andere linksherum. Das führt dazu, dass man sich nach jeweils einer halben Runde also alle zwei bis drei Minuten einmal begegnete. Auf diese Weise ergab sich im Stadium aufkeimender Paarungsbereitschaft eine Übersicht über die attraktivsten Exemplare des jeweils anderen Geschlechts.

      In der großen Pause verkaufte der Hausmeister Getränke an die Schüler. Der Schulsprecher feierte es als großen Erfolg seiner Tätigkeit, dass neben Milch und Kakao jetzt auch sogenannte Kaltgetränke verkauft wurden. Jo hatte sich für die Pause eine Libella und eine Afri-Cola geholt, um damit seinen trockenen Hals und seinen dumpfen Kopf zu bekämpfen. Zusammen mit Jens und Uwe drehte er seine Runden. „Wie findest du die in der Mitte, die mit dem Pferdeschwanz, Bauer?“, fragte Jens. Jo mochte die großkotzige Art dieses Unternehmerjünglings nicht. Der war auch der einzige, der ihn so von oben herab mit seinem Nachnamen ansprach als wäre er sein Chef. Jens hatte es nach eigenen Angaben schon einmal mit einer zweiundzwanzigjährigen Studentin in deren Ente getrieben. Er nahm deshalb für sich in Anspruch, gegenüber den anderen Jungs der Klasse einen deutlichen Erfahrungsvorsprung in Bezug auf Frauen zu besitzen. „Ich glaube, an die werde ich mich mal ran machen“, fuhr er fort, ohne eine Antwort der anderen abzuwarten. Jo war der Pferdeschwanz natürlich auch schon aufgefallen. Er wusste, dass sie Manuela hieß, in der Untersekunda 2s war und aus seinem Nachbardorf kam. Seit Wochen hatte er sie schon auf den Pausenrunden beäugt. Sie aber war mit den anderen Mädchen immer in intensive Gespräche vertieft und hatte bisher seine Blicke auch nicht einmal im Ansatz erwidert. Vermutlich hätte er auch wieder einen roten Kopf bekommen, wenn sie es tatsächlich mal getan hätte.

      Das mit den Frauen hatte er sich sowieso fürs Erste aus dem Kopf geschlagen. Er hatte genug andere persönliche Baustellen zu bewältigen. Zuerst war da das Abitur. In Latein hatte er wohl keine realistische Chance. Gleich die erste Arbeit in der Untertertia war ein Ungenügend wegen eines plumpen Täuschungsversuchs gewesen. Und von diesem Schock hatte er sich bis jetzt nicht erholt. Es fehlt ihm auch jede Motivation, sich mit den Kriegen von vor zweitausend Jahren zu beschäftigen und das auch noch in der damaligen Sprache, die seitdem nur noch von lebensfremden Popen gesprochen wurde. Latein war für ihn ein Folterinstrument, um Schülern das Abitur vorzuenthalten. Und jetzt wurde es auch in Deutsch noch eng.

      Die zwei Kurzschuljahre machten seine ehrlichen Bemühungen nicht einfacher. Unter- und Oberprima waren jeweils nur acht Monate lang. Da musste man von Beginn des Schuljahres an alles geben. Aber so einfach war das nicht, wenn er neben der Schule noch so viel anderes geregelt bekommen musste. Er musste sich was einfallen lassen; und jetzt kam auch noch eine Doppelstunde Latein, de bello Gallico.

      Nach der Schule war er nach Hause gefahren. Auf dem Ölofen bruzzelte seit mindestens zwei Stunden sein Mittagessen in einer Jenaer Glasform, Schweinebraten mit Kartoffeln und Rotkohl. Seine Mutter hatte das Essen bereitgestellt, bevor sie in den Nachbarort gefahren war. Dort arbeitete sie an drei Nachmittagen in der Woche als Kassiererin in einem neuen Spar-Markt. Die Fleischscheibe hatte einen mindestens drei Zentimeter dicken Fettrand und war damit für ihn ungenießbar. Jo war nach unten zur Oma gegangen, der allerliebsten Oma der Welt. Seit Marlies verheiratet und aus dem Haus war, hatte er die Oma jetzt auch für sich ganz alleine. Er hatte sowieso schon immer das Gefühl gehabt, dass er ihr Liebling war. Sie machte ihm einen Pfannkuchen mit Apfelmus. Das war wenigstens ein vernünftiges Essen. Dann hatte er sich für zwei Stunden ins Bett gelegt und erst einmal gepennt.

      Als er sich gerade in ein Interpretationsheft über das Werk Kafkas vertieft hatte, von dem er entscheidende Impulse erwartete, kam Dieter vorbei, den aber alle nur Didi nannten. Das lag daran, dass er ein guter Fußballspieler war. Irgendwann hatte mal ein Mitspieler voll Begeisterung von Dieters Künsten gemeint, der spiele wie der große Brasilianer Didi. Damit hatte er dann seinen Namen weg. Sie kannten sich schon aus der ersten Klasse der Volksschule. Seitdem waren Didi und er die besten Freunde. Ihr Verhältnis war etwas komplizierter geworden als Jo in das fünfzehn Kilometer entfernte Gymnasium in Lüdecke gewechselt war. Didi war zwar genauso schlau oder dumm gewesen wie er, aber er wollte auf keinen Fall die Schule wechseln. Nach der achten Klasse der Volksschule war er in eine Schlosserlehre gegangen und war jetzt Geselle. Sie verbrachten nur noch einen Teil ihrer freien Zeit miteinander, da Jo einerseits noch seine alten Freunde im Dorf hatte, andererseits aber auch an seiner Schule neue Gruppen mit doch anderen Interessen gefunden hatte.

      Didi lud ihn ein auf eine Runde Kickern im „Letzten Heller“. Das war die Dorfkneipe, in der sich das gesellschaftliche Leben von Langhorst abspielte. Es war der Treffpunkt der Jugend, der berufstätigen Männer nach Feierabend und der Vereine. Dazu war der angeschlossene Festsaal der dörfliche Mittelpunkt für alle möglichen Feiern, von Hochzeiten und Beerdigungen über Schützen- und Sportfeste bis zur Weihnachtsfeier der Volksschule mit Krippenspiel. Jo spielte noch bei Tura Langhorst Fußball. Er war gerade von der A-Jugend in die erste Mannschaft aufgerückt.

      Am Tresen standen Ingo und Heinz gelangweilt, ebenfalls Fußballer von Tura. Alle vier waren Kicker-Profis, so dass sich ein Spiel auf hohem Niveau entwickelte. Man spielte um Runden. Nach vier bis fünf Revanchespielen standen vor jedem noch vier gefüllte Biergläser. Sie spielten schneller als sie um diese Tageszeit trinken konnten. Deshalb wurden die nächsten Runden um Frikadelle, Bratrollmops und Soleier ausgespielt. Als Jo so gegen halb acht nach Hause kam, hatte er dementsprechend auch keinen Hunger mehr und Durst sowieso nicht. Damit wurde dann sein nächstes Konfliktfeld geöffnet.

      „Komm sofort an den Tisch, wir warten schon mit dem Abendbrot auf dich“, zeterte seine Mutter schon als er noch auf dem Flur war. „Ich hab keinen Hunger, hab schon was bei Dieter gegessen“. – „Wie siehst du denn schon wieder aus und wie du riechst! Wahrscheinlich hast du wieder den ganzen Nachmittag bei Heinrich gesessen und gesoffen.“ Heinrich war der Wirt im Letzten Heller. Bis dahin hatte der kurze Gesprächsverlauf noch die üblichen friedlichen Formen gehabt, an die Jo sich im Laufe der letzten Jahre gewöhnt hatte. Mutter wollte ihm erklären wie sein Leben abzulaufen hatte, und er war gerade dabei, seinen eigenen Weg zu finden. Sein Vater machte mal wieder den Eindruck als ob ihn die ganze Auseinandersetzung nichts anginge. Er las beim Essen den Sportteil des Westfälischen Anzeigers.

      Schlimm für Jo wurde es, wenn seine Mutter zur nächsten Eskalationsstufe ansetzte. Darauf lief es jetzt hinaus. Sie steigerte sich dann zu einem verbalen Rundumschlag. „Ich schufte mich hier ab, damit der Herr Sohn zur Schule gehen kann; und was macht er, er gammelt nur herum und bringt unser Geld in die Kneipe. Das Zimmer sieht aus als ob eine Bombe eingeschlagen hätte. Der Herr macht doch keinen Handschlag mehr zu Hause, lässt sich nur bedienen. Bei der Roggenernte hättest du Opa auch ruhig helfen können. Der muss sich nach Feierabend noch abmühen, in seinem Alter. Hätten wir dich bloß nach der mittleren Reife in die Lehre gesteckt. Wenn du so weiter machst, schaffst du dein Abitur sowieso nicht!“

      Es gab jetzt nur noch eine letzte Stufe der verbalen Gewalt; Jo wartete schon darauf. Das machte es vielleicht etwas leichter für ihn. „Du solltest dir mal ein Beispiel an Marlies nehmen, die hat einen anständigen Beruf gelernt und liegt uns nicht mehr auf der Tasche.“ Marlies war seine Schwester. Sie war zwei Jahre älter und zur Realschule gegangen. Das war für ein Mädchen aus Langhorst schon eher eine Ausnahme. Dann hatte sie in einem Nachbardorf bei einer neuen Kunststofffabrik eine Ausbildung zum Industriekaufmann gemacht. Dort saß sie jetzt im Büro und bearbeitete Lieferaufträge. Mutter fand das ganz toll und Vater vermutlich auch, ohne dass er es allerdings jemals gesagt hätte.